Mord und Ratschlag

Armer reicher Junge

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
15.06.2020. Martin Caparrós lässt in "Väterland" einen Tangodichter und eine Lyrikerin gegen Rinderbarone, Putschisten und andere legendäre Gründerfiguren Argentiniens ermitteln. Deepa Anappara schickt "Die Detektive vom Bhoot-Basar" aus ihrem indischen Basti hinaus in die Welt des höheren Unrechts.
Cover: VäterlandAndrés Rivarola ist ein unwahrscheinlicher Held für einen argentinischen Roman: Er hält nicht viel von den großen Stars des Tangos, von Corsini und Gardel. Mit ihrem Gejammer über verlorene Mädchen, mit ihrer Melancholie und Traurigkeit der Gehörnten scheffelten sie viel Geld: Doch damit sei der Tango zu einem labberigen Kompott geraten, zu süßem Pudding mit Sahne. Rivarola träumt davon, wieder echten Tango schreiben, Lieder des Volkes, die vom harten Brot des Lebens erzählen: "Gedichte für Millionen."

Bisher hat es Rivarola als Tangodichter nicht weit gebracht, er lebt in Buenos Aires in den Tag hinein. Mit seinen wenigen Talenten, sagen ihm seine Freunde, sollte er Journalist werden, doch er interessiert sich nicht sonderlich für die Politik. Welcher General gerade die Macht an sich gerissen habe, ob Uriburu oder Justo, das ist ihm schnuppe. Und ebenso wenig kümmert es ihn, ob dieses Großmaul in Deutschland Kanzler wird und welche Drohungen das italienische Pfannkuchengesicht mit der albernen Kellnermütze von sich gibt. Rivarola hat gerade nur Augen für die schöne Raquel Gleizer mit den flammend roten Haaren, die ihn leider nicht für voll nimmt, weil er keinen Schimmer von wahrer Literatur hat. Raquel, genannt Rusita, ist die Nichte eines aus Moldawien eingewanderten Verlegers und verkehrt in proletarischen Literatenzirkeln ebenso wie in den Salons der verehrten Victoria Ocampo. Natürlich trägt sie - comme des garçons - Herrenanzug, Krawatte und Schnürschuh. Sie hat alles, was Rivarola fehlt: Persönlichkeit, Elan, Grundsätze.

Gemeinsam stolpern die beiden in einen Fall, der argentinischer nicht sein könnte: Ein Fußballer verschwindet, Bernabé Ferreyra, der große Star von River Plate. Wie sich herausstellt, ist seine Geliebte kurz zuvor ermordet worden. Mercedes Olavieta war die schöne, hochmütige Tochter der besseren Gesellschaft. Ihr Vater, Don Carlos María de Olavieto, der herrische Anführer der Liga Patriótica, möchte darin erst einen Selbstmord erkannt wissen, später erklärt er, es seien Anarchisten gewesen, die seiner Tochter die Kehle durchgeschnitten hätten.

Rivarola soll für den Besitzer von River Plate den davongelaufenen Stürmer aus der Pampa zurückholen. Manuel Cuitiño, der Vereinspräsident, residiert im großen Schlachthof der Stadt. Von dort dirigiert er, bergeweise Kalbsbries vertilgend, nicht nur seinen Rinderhandel, seine Tagelöhner und seine Gauchos, sondern auch Glücksspiel und Drogengeschäfte. Don Manuel ist es gewohnt, dass man seinen Wünschen Folge leistet, und so hetzt er mit Rivarolas unfreiwilliger Hilfe die Zeitungen gegen Bernabé auf: Bisher wussten sie nicht, dass er der Geliebte der Señorita Mechita war, aber diese Schlagzeile wäre natürlich ein gefundenes Fressen.

Der argentinische Autor und Journalist Martin Caparrós beschwört in seinem Roman "Väterland" das Buenos Aires des Jahres 1933 mit leicht satirischem Witz, fantastischen Figuren und starken Dialogen. Man trifft sich im Grand Café Tortoni, im Suarez oder Richmond, liest El Mundo, La Nación oder Crítica und arbeitet an seiner argentinischen Seele: Während der verschlagene Polizeireporter jede "Spanierlogik" von sich weist ("Wir Kreolen sind ehrliche Menschen"), bekennt sich die ehrlichste Haut des ganzen Romans dazu, stolzer Sohn eines "spanischen Erdfressers" zu sein. Ach, und sieh mal einer an: Jorge Luis Borges ist auch da und kann sich nicht entscheiden, welcher Mode er als nächstes folgen soll.

Die kriminalistischen Elemente sind nicht das Wichtigste an diesem Roman, der eher auf den Sturz reaktionärer Säulenheiliger zielt. Darin ähnelt er den historischen Romanen Andrea Camilleris, der auch so gern die sizilianische Dreifaltigkeit aus Kirche, Adel und Mafia attackierte. Das Buenos Aires jener Zeit ist eine aufregende, vor Energie flirrende und in die Moderne drängende Einwandererstadt, aber sie ist von Oligarchen beherrscht, von Rinderbaronen, die ihren Machtanspruch auf Landbesitz begründen und von Generalen durchsetzen lassen. Darauf bezieht sich der sehr subtile deutsche Titel des Romans: "Sie halten sich für so vornehm", spottet Raquel über die Enkel der Väter des Vaterlandes: "Nichts als Gestank nach Kuhfladen."

Die Tragik, die Caparros schön einfängt, liegt darin, dass man sich über das nahende Ende dieser alten Eliten nicht besonders freuen kann. Es werden neue aufsteigen, Don Manuel sagt es voraus: "Typen wie Olavieto haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt, die glauben immer noch, dass ein Führer gebildet, kultiviert sein muss. Sie kapieren nicht, dass man den Pöbel nur mit Leuten lenken kann, die genauso unkultiviert sind wie der Pöbel selbst."

Wenn am Ende Rivarola seinen großen Tango gedichtet hat, ist die Selbstanklage von bestürzender Bitterkeit. Man kann nur nicht sagen, ob er sie gegen sich selbst oder das Vaterland richtet: "Armer reicher Junge / armer verwöhnter Bengel, / wolltest der große Macker sein / und hattest nicht das Zeug dazu."

Martin Caparrós: Väterland. Roman. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2020, 284 Seiten, 22 Euro (Bestellen).

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Cover: Die Detektive vom Bhoot-BasarÜber dem ersten Kapitel von Deepa Anapparas Roman prangt die zuversichtliche Behauptung: "Diese Geschichte wird euch das Leben retten." Es ist eine moderne Legende, wie sie nur in den Großstädten Indien entstehen kann: Sie handelt vom Geist des gütigen Mental, der über verlorene Straßenkinder wacht, sie vor Polizei und Menschenhandel schützt und ihnen von Zeit zu Zeit einen westlichen Touristen schickt, der ihnen ein Eis spendiert. Insgesamt dreimal wird Anappara das Mantra der lebensrettenden Erzählung beschwören: Es gibt nämlich auch die Bettlerkönigin Straßen-ki-Rani, die junge Frauen vor gierigen Männern beschützt, und die guten Dschinns, die, aus rauchlosem Feuer geschaffen, die Bitten verzweifelter Eltern erhören. Je düsterer die Geschichte wird, die Anappara in ihrem Roman "Die Detektive vom Bhoot-Basar" erzählt, umso goldener glänzen diese Legenden. Man klammert sich an sie umso fester, je weniger man auf seine schützende Kraft vertrauen sollte. Wie an ein Amulett.

Anappara führt uns in die Welt des neun Jahre alten Jai, der mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Runu in einem Basti lebt, einer Armensiedlung, am Rande einer namenlosen Stadt im Norden Indiens. Aus dem Viertel beginnen auf eines Tages Kinder zu verschwinden: Zuerst Jais Schulkamerad Bahadur, der stotternde Sohn von Schnaps-Laloo, wenig später wird Ovnir vermisst, der Sohn von Bügel-Wallah.

Aus dem Fernsehen hat Jai eine etwas idiotische Vorliebe für Kriminalserien, für Police Patrol und Live Crime, aber auch für Indiens Detektivlegende Byomkesh Bakshi. Und da die Polizei keinen Finger rührt, um die verschwundenen Kinder zu finden, sieht Jai seine Stunde als Spürnase gekommen. Zusammen mit seinen Freunden macht er sich an die Ermittlung: Mit der klugen Pari, die nicht nur Metro fahren kann, sondern auch Fragen zu stellen weiß, die einem weiterhelfen, und dem scheuen Faiz, der als Muslim die Schlägertrupps der Hindu Samaj noch mehr fürchtet als böse Dschinns.

Der Roman ist aus Jais Perspektive erzählt. Kindliche Erzähler sind immer ein heikles Unterfangen, entweder machen sie die Geschichte zu einfältig oder ein weiterer Horizont macht ihre Stimme unglaubwürdig. Anappara gelingt die Gratwanderung, indem sie Jai die Stimme eines echten Straßenjungen gibt: Er ist nicht der Hellste und eine wahre Nervensäge, aber neugierig und unternehmungslustig, großspurig und verdammt frech. Man kann ihn nicht unbedingt gut leiden, aber er wächst einem ans Herz.

Jai und seine Freunde streifen mit offenen Augen und Ohren durch ihr Basti, immer vorbei an Fatimas Wasserbüffel, zur Müllkippe und über den Basar mit seinen Gerüchen von Papdi-chaat, Aloo-Tikki und Kardamomtee. Doch allen eindringlichen Farben, Klängen und Gerüchen zum Trotz, die alles indische Leben beherrschen, beschwört Anappara hier keine schillernde Herrlichkeit. Über dieser Stadt liegt von Anfang an schwerer Smog. Bei Sherlock Holmes war der Nebel, der sich über London legte, stets die Metapher für die sich entziehende Erkenntnis, die verhüllte Wahrheit. Bei Anappara ist er das schon auch, aber vor allem ist er ganz konkret der Schmutz, der über Indiens Armenviertel liegt.

Wer es zu etwas bringen will, träumt von einer Arbeit im Callcenter oder Handyshop. Die meisten Frauen des Viertels arbeiten jedoch als Putzhilfen in den Häusern der Bessergestellten, die Namen tragen wie Palm Springs, Mayfair oder Golden Gate und die Jai die HiFi-Hochhäuser nennt. Bis spät in die Nacht schuften die Frauen dort, sieben Tage die Woche. Um ihre Kinder können sie sich nicht kümmern, nicht einmal die Vermissten suchen. HiFi-Madams sind gnadenlos: Wenn Du den Job nicht willst, bitte, ich kenne Hunderte, die ihn sofort nähmen.

Die Polizei presst den hilflosen Eltern der verschwundenen Kinder nur das Geld ab, ohne sich weiter um die Fälle zu kümmern. Wie zum Hohn geben die Polizisten was auf ihre Ehre: Sie nehmen die Goldreifen der verzweifelten Mütter nicht von diesen an. Sie müssen ihnen gefälligst von den Vätern gegeben werden. Die Hindunationalisten nutzen jedes vermisstes Kind, um mit rot glühender Tikka Stimmung gegen die Muslime zu machen.

Anappara hat lange in Bombay und Delhi als Journalistin gearbeitet, ihr erster Roman nutzt den Kriminalroman als populäres Genre, um einen Skandal anzuprangern: Jeden Tag verschwinden 180 Kinder in Indien, schreibt sie in ihrem Nachwort. "Die Detektive vom Bhoot-Basar" ist ein Roman mit Intention, die merkt man dem Roman auch an. Er ist geradlinig erzählt, vielleicht sogar ein bisschen vordergründig. Aber Anappara versteht es, eine düstere, bedrückende Realität mit wunderbaren Figuren zu bevölkern. Ihr Roman ist ein in allen Farben glitzerndes Kaleidoskop aus Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Zauber.

Deepa Anappara: Die Detektive vom Bhoot-Basar. Roman. Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 400 Seiten, 24 Euro (Bestellen).