Mord und Ratschlag

Jagdmagie

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
17.02.2020. Attica Locke schickt in "Heaven, my Home" den schwarzen Texas Ranger Darren Matthews an den Caddo Lake, um den vermissten Jungen eines rassistischen Rednecks zu suchen. Xavie-Marie Bonnot erkundet in "Der erste Mensch", wie der Mord in die Höhlenmalerei und in die Grotten der Calanques kam.
CoverAttica Lockes Serie um den schwarzen Texas Ranger Darren Matthews gehört zu den angesagtesten Krimis, die man gerade lesen kann. Sie führen tief hinein in den von Diskriminierung, Demütigung und Armut beherrschte amerikanischen Süden. Niemand wird Locke vorwerfen können, die Lage zu dramatisieren. Im Gegenteil. Locke nimmt ihre Leser und Leserinnen sanft an die Hand, sie erklärt und moderiert, aber sie führt eben in eine Welt, in die sich Gewalt und Verachtung in Jahrhunderten der Sklaverei eingeschrieben haben. Der amerikanische Süden ist nicht nur von Europa sehr weit entfernt, sondern selbst von New York oder San Francisco.

"Heaven, my home" ist der zweite Roman in der Reihe, auch hier will Darren Matthews den Beweis erbringen, dass Recht und Gesetz auch für Schwarze wirken können und nicht nur gegen sie. Diesmal muss Darren im Fall des neunjährigen Levi King ermitteln, der am Caddo Lake im Osten von Texas verschwunden ist. Die Texas Rangers als allseits bewunderte Elite-Truppe schicken Darren nach Marion County, weil der Vater des vermissten Jungen ausgerechnet ein führendes Mitglied der Arischen Bruderschaft von Texas ist, einer üblen Nazi-Organisation, die zwar als terroristische Vereinigung geführt, aber noch nicht zerlegt ist. Bill King sitzt im Knast, gibt sich geläutert und will sich mit Darren auf jeden Deal einlassen, wenn der nur hilft, den Jungen wiederzufinden.

Am Caddo Lake bietet sich Darren ein Bild der sozialen und geistigen Verelendung. "Ins Niggerdorf geht's da lang", weist man ihm von Jefferson nach Hopetown den Weg. Das war einst eine Siedlung, in die sich befreite Schwarze flüchten konnten, ebenso wie indianische Caddo-Familien, die nicht nach Oklahoma deportiert werden wollten. Jetzt haben sich hier Rednecks mit ihren Trailern breitgemacht, auf dem Grund und Boden des alten Leroy Page. Zu diesem Haufen von Neonazis und Skinheads gehört auch die Mutter des vermissten Jungen, sie ist völlig aus der Bahn geworfen und ihrem neuen kriminellen Freund Gil Thomason hörig. Er und seine Nazikumpane terrorisieren Leroy, der sich kaum wehren kann. Der schwarze alte Mann wird keinen Sheriff finden, der die armen Weißen von seinem Land vertreibt. Der vermisste Levi King ist erst neun, aber schon längst ein Aas. Und auch wenn es gut sein könnte, dass er den alten Leroy zur Weißglut getrieben hat, hängen sie ihm den Mord eher aus alter Tradition an. Hang 'em higher.

Darren muss den Alten aber nicht nur vor den Nazis schützen, sondern auch vor dem FBI, das sich, im Jahr 2016, auf die neuen Herren im Weißen Haus einstellt. Um weiter ihre gute und sinnvolle Arbeit machen zu können, wollen es sich den Trumpisten empfehlen und auch mal gegen einen Schwarzen wegen eines Hassverbrechens ermitteln. Und Darren muss Leroy vor der wahren Herrscherin  am Caddo Lake schützen: Rosemary King ist die Nachfahrin von Plantagenbesitzern aus Louisiana, deren Familie bereits vor dem Bürgerkrieg nach Jefferson gekommen war, wo sie in ungebrochener Antebellum-Selbstherrlichkeit residiert. "Wir hatten unsere Gewohnheiten. Das sollte nicht zum Schaden der Schwarzen sein." Aber die Dame geht mit der Zeit, jetzt möchte sie mit einem Immobilienentwickler auf einem alten Dampfschiff das Glücksspiel in Texas etablieren.

Es gibt einige Ungereimtheiten in der Konstruktion des Romans, und sprachlich grenzt Lockes bedachtes Erzählen ans Betuliche und kippt mitunter auch ins Geschwollene. Die Übersetzung verschlimmert das noch: "Es machte ihn ehrlich wütend und brachte sein Blut in Wallung", heißt es an einer Stelle, an anderer hebt schwarze Musik "die Herzen und Köpfe auf eine andere Ebene". Unverständlich auch gerade angesichts eines engagierten Nachworts ist die Entscheidung, im Deutschen ganz selbstverständlich von Rasse zu sprechen, von Rassengewalt, Rasseverbrechen und Rassenzugehörigkeit. Es ist zwar fraglich, ob Amerikaner wirklich nur communities meinen, wenn sie race sagen, wie es gern heißt, aber in Europa haben wir uns das Denken und Sprechen von Rassen doch eigentlich abgewöhnt.

Aber die Erzählung entfaltet eine Wucht, der man sich nicht entziehen kann. Das liegt auch daran, dass Locke den Konturen ihrer Figuren Tiefe und Schärfe verleiht. Rosemary King kann man nicht bewundern, aber die Härte, mit der sie ihre Vorrechte verteidigt, macht sie zu einer würdigen Gegnerin. Noch interessanter ist allerdings Darren selbst, der noch aus dem ersten Band mit einer Untat belastet ist, für die ihn die Staatsanwaltschaft am Wickel hat: Er hat einem alten Freund geholfen, die Tötung eines rassistischen Mistkerls zu vertuschen. Die überraschende Wendung, die dieser Fall nun nimmt, verleiht auch der leichten Biederkeit des ersten Bandes eine andere Nuance. Amerikanische Autoren wagen nicht oft, auch Schwarze ein Verbrechen begehen zu lassen, aus Angst, es könnte als bezeichnend für die Community betrachtet werden. Davor schreckt Locke nicht zurück. Das ist mutig. Berührend ist jedoch die zartbittere Traurigkeit, die sich mit dem Spanish Moss über die Zypressen der Bayous legt, wenn Lightnin' Hopkins seinen Baumwollpflücker-Blues singt, und Leroy Page seufzt: "Schwarze sind die versöhnlichsten Menschen auf der Welt."

Attica Locke: Heaven, my Home. Kriminaloman. Aus dem Amerikanischen von Susanne Mende. Polar Verlag, Stuttgart 2020, 316 Seiten. 22 Euro (Bestellen)

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Cover: Der erste MenschWie aus der Zeit gefallen, ganz und gar unmodisch und bestimmt nicht angesagt sind die Kriminalromane des Marseiller Autors Xavier-Marie Bonnot. Sie sind einfach wunderbar. Bonnot verfolgt in ihnen mit Hilfe seines Opern liebenden Hauptkommissars Michel de Palma das eigenbrötlerische Projekt, den Mord an sich aufzuklären, nicht einen Mordfall, sondern den Mord als Konstante in der Geschichte der Menschheit. In der "Melodie der Geister" führte diese Erkundung in die Welt der Ethnologie und des Kunsthandels mit Werken der Papuas. In seinem jetzt übersetzten Roman "Der erste Mensch" geht es in die Frühgeschichte, zu Höhlenmalerei und Schamanismus.

Ausgangspunkt der neuen Ermittlung sind die Calanques, jenes Felsmassiv, das östlich von Marseille überwältigend schöne Buchten formt. In einigen Grotten finden sich Höhlenmalereien, die fast dreißigtausend Jahre alt sind. Die Grotte Cosquer ist berühmt für ihre feinen Tierzeichnungen, aber auch für die negativen Handabdrücke, die dort an der Wand wie Kinderkleckse von den frühen Menschen hinterlassen wurden. Eine Zeichnung zeigt auch einen getöteten Menschen. Von hinten wurde er mit einem Speer durchbohrt. Vielleicht ist es die erste Darstellung eines Mordes in der Menschheitsgeschichte.

In Bonnots Roman heißt die Grotte Le Guen, und es ereignen sich seltsame Taucherunfälle unter den Archäologen, die hier arbeiten. Um die Höhle ranken sich böse Erzählungen, zehn Jahre zuvor hatte Thomas Autran drei Frauen umgebracht und dabei die typischen Handabdrücke als sein Zeichen hinterlassen. Schwer schizophren wurde er nach den Taten in Sicherheitsverwahrung untergebracht. Seine Schwester Christine, Professorin für Urgeschichte in Aix-en-Provence und anerkannte Expertin auf dem Gebiet der frankokantabrischen Höhlenkunst, wurde wegen Beihilfe verurteilt.

Die Mutter der beiden Geschwister war ein Ungeheuer. Der verehrte, aber abwesende Vater hatte sich schon an archäologischen Forschungen beteiligt. Zusammen mit dem berühmten Professor Palestro hatte er in der Haute-Provence die kleine Skulptur eines Hirschkopfmenschen aus Elfenbein ausgegraben, die über heilende Kräfte verfügen soll. Palestro hatte sich den Fund unter den Nagel gerissen, die Figur verschwand. Auf einmal kommt alles wieder hoch: Die Figur taucht auf, Christine kommt frei, und Thomas bricht aus der Psychiatrie aus. Wieder häufen sich die mysteriösen Unglücksfälle. Manche Forscher entkommen dem Tod nur knapp, andere nicht. Die Welt der wissenschaftlichen Koryphäen ist grausam.

Der sinnenfreudige Kommissar de Palma, genannt der Baron, ermittelt gewohnt bedächtig. Er steht kurz vor seiner Pensionierung und interessiert sich inzwischen eher auf der Bühne für die verbrecherischen Seiten des Lebens. In der Marseiller Oper steht gerade - vielsagend - "Elektra" auf dem Programm, und der Baron bewegt sich in seinem alten Alfa Romeo durch das winterliche Marseille zu Richard Strauss' Klagearien. Oder bei Mistral im Motorboot am Chateau d'If entlang, an den tunesischen Fährschiffen vorbei und um das Cap Croisette herum.

Dabei schickt Bonnot seinen Baron auf ein Terrain, das sich Prähistoriker und Psychiater teilen. Wahn und Wissenschaft, Magie und Halluzinationen überlagern sich hier nicht nur motivisch, sondern geschichtlich. Bonnots Roman zielt auf die Entstehung der Psychiatrie aus dem Geiste des Schamanismus. Er erzählt von der Beherrschung des Unerklärlichen, von der Heilung des verwirrten Geistes, aber auch von der Scharlatanerie: Erst in der Psychiatrie von Ville Evrard, in der auch schon Camille Claudel verelendete, wurde der schizophrene Thomas von einem wahnhaften Arzt zu einem gefährlichen Menschen. Gefährlich, aber nicht böse. Immer wieder zitiert Bonnot C.G. Jung, Foucault oder Jean Clottes, der die Höhlenmalerei mit schamanischen Praktiken erklärte: "Die Jagdmagie sollte erfolgreiche Jagdzüge herbeiführen; zu diesem Zwecke bemächtigte man sich der Darstellung des Tieres, das man erlegen wollte, und dann des Tieres selbst." Man fühlt sich gleich an die berühmten Stellwände aus Polizeifilmen erinnert, an die Fotos von Verdächtigen gepinnt werden.

Bonnot zerrt nichts fest, striegelt nichts zu einer eindeutigen Erzählung. Er legt Spuren, begnügt sich mit Hinweisen. Damit lässt er zwar auch einiges im Unklaren, aber er spannt einen faszinierenden gedanklichen Kosmos auf. Besonders schön ist auch die Vorstellung einer großen Sensibilität der ersten Menschen. Wenn sie in modernen Gesichtskonstruktionen mit ungeschlachten Gesichtern dargestellt werden, liegt diese Brutalität vielleicht eher im Auge des modernen Betrachters.

Xavier-Marie Bonnot: Der erste Mensch. Kriminalroman. Aus dem Französischen von Gerhard Meier. Unionsverlag, Züch 2020, 345 Seiten, 19 Euro (Bestellen)