Mord und Ratschlag

Die Nixe soll dich zerfetzen

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
17.12.2012. In ihrem Kriminalroman "Albanisches Öl" erzählt Anila Wilms voller Witz und Poesie von einem historischen Mord, dem alten Gesetz der Berge und einem Land, das seine Zukunft verlor, noch bevor es in der Gegenwart ankam. Keigo Higashino inszeniert in seinem Krimi "Verdächtige Geliebte" den kombinatorischen Zweikampf zwischen einem Mathematiklehrer und einem Physikprofessor.
Es gibt nicht viele Momente in der albanischen Geschichte, in denen sich die große Welt für das kleine Balkanland interessierte, das Jahr 1924 gehört aber ganz sicher dazu. Öl war entdeckt worden, und Washington, Den Haag und London mobilisierten die Spitzen ihrer diplomatischen Corps, um Standard Oil, Shell oder der Anglo-Persian Oil Company den Zugang zu den Vorkommen zu sichern. 1924 war leider auch das Jahr, in dem das junge Albanien seine Hoffnung auf Demokratie und Wohlstand aufgeben musste. Die deutsch-albanische Historikerin Anila Wilms erzählt in ihrem Roman, wie ein Land seine Zukunft verlor, bevor es in der Gegenwart ankommen konnte. "Albanisches Öl" ist Kriminalroman, historische Novelle und orientalische Erzählung zugleich, politisch und intellektuell so ambitioniert wie ein Thriller von Eric Ambler, heiter und poetisch wie ein Roman von Ismail Kadaré.

Das Unheil kommt wie so oft aus den Bergen. Auf der Straße des Nordens wurden zwei Amerikaner ermordet, an der Brücke über die Drojaschlucht. Dieser Mord, den es tatsächlich gegeben hat, markiert den Zusammenbruch gleich zweier Welten: Zunächst ist er ein grober Verstoß gegen den Kanun, das alte Gesetz der Berge. Dessen beiden Säulen sind Blutrache und Gastfreundschaft, aber der Kanun regelt auch die praktischen Dinge des Lebens, etwa die Breite einer Landstraße: "Eineinhalb Fahnenstangen. Sie muss so breit sein, dass das vollbepackte Pferd oder der Ochsenkarren sie passieren können." Und als die Österreicher kamen und mit großen Straßen Reichtum und Fortschritt versprachen, antworteten ihnen die alten Bergler: "Wir wollen nicht mehr von allem, und auch kein besseres Leben." Die Straße hat ihr festes Maß. Und einem Fremden die Gastfreundschaft zu versagen, stellt die übelste aller Schändlichkeiten dar, nicht einmal die brutalsten Banditen hatten bis dahin einem Ausländer ein Haar gekrümmt. Voller Sympathie und ein wenig Melancholie lässt Wilms die alte Welt noch einmal aufscheinen, als Kraftfeld der Fantasie und uralter lebensbejahender Energie.

Aber auch im städtischen Süden bringt der Mord die Dinge ins Wanken. In Tirana überschlagen sich die Ereignisse: Werden am Anfang noch Soldaten und Gendarmen, Staatsanwälte und Ermittler, Präfekten und Kommandanten in Bewegung gesetzt, um den amerikanischen Gesandten zu beschwichtigen, nutzt die Regierung bald die Geschehnisse, um den Ausnahmezustand zu verhängen, die Opposition auszuschalten und die Presse mundtot zu machen. Unschuldige Hirten werden gehängt, dabei wird schnell klar, dass ein Geheimdienst hinter dem Mord steckt, die Frage ist nur welcher. Das Land gerät an den Rand eines politischen Bürgerkriegs, während der junge Staat mit dem Bergland in Blutfehde liegt. Unnötig zu erwähnen, dass sich die Ölvorräte als nicht so ergiebig herausstellen wie vermutet.

Dass Wilms angesichts dieser bitteren Ereignisse nicht den Humor verliert, kann man sich nur mit der zähen Heiterkeit des Balkans erklären. Mit schön schrägem Witz schildert sie das Tirana jener Tage, als staubigen Marktflecken, auf dem wenige Jahre zuvor noch "Honig und Ziegenkäse" verkauft wurden und wo sich jetzt Deputierte und Offiziere, Eminenzen und Exzellenzen in ihrem feinen Schuhwerk auf die Füße treten, um Staatsgeschäfte zu regeln oder auf morgen zu vertagen. Charismatische Traditionalisten aus dem Norden, ehrgeizige Erneuerer aus dem Süden und charmante osmanische Aristokraten kämpfen in den Kabinetten und Salons um die Macht, in den Caféhäusern streiten schlecht gelaunte Journalisten so wortgewaltig wie machtlos. Die Bauern halten sich halb gelassen, halb träge aus allem raus. Und der junge amerikanische Gesandte Julius Grant wandelt sich in rasanter Geschwindigkeit vom republikanischen Idealisten zu einem Machtpolitiker, der die Künste der Manipulation bald ebenso würdevoll beherrscht wie die Diplomaten des britischen Imperiums.

Anila Wilms, die erst als Studentin nach Berlin gekommen ist, hat den Roman auf Deutsch geschrieben, was schon bewundernswert genug ist. Aber wie sie hin und wieder albanische Redewendungen hineinschmuggelt, ist wundervoll: Zungen darf man nicht herumtoben lassen wie wilde Stuten und Flüche lauten zum Beispiel: "Die Nixe soll dich zerfetzen." Bemerkenswert auch, wie freundlich die Autorin von dieser strengen und abweisenden Männerwelt erzählt. Vielleicht hat sich Wilms für ihren kurzen Roman zu viel Stoff vorgenommen hat, aber sie entwirft ein sehr lebendiges Bild von einer Epoche, in der die alte Welt untergeht, ohne dass sich eine neue durchsetzen kann. Vor den Toren des Landes stehen schon Mussolinis Truppen zum Einmarsch bereit.

Anila Wilms: Albanisches Öl oder Mord auf der Straße des Nordens. Roman. Transit Verlag, Berlin 2012, 169 S., geb., 18,80 Euro ()


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Seit dreißig Jahren hält der gelernte Ingenieur Keigo Higashino ein Schreiblaufwerk in Betrieb, das in Japan zuverlässig einen Krimi-Bestseller nach dem anderen produziert. Nun setzt er nach einigen zaghaften Anläufen mit "Verdächtige Geliebte" zum großen Sprung auch auf den deutschen Markt an. Der Roman war für den Edgar Allen Poe Award nominiert und huldigt dem Krimi als kniffliger Denksport-Aufgabe: Wenn es schon nicht den perfekten Mord gibt, vielleicht hilft dann das perfekte Alibi?

"Mit logischem Denken werden wir alles heil überstehen", lautet die fürsorgliche Devise des Mathematik-Lehrers Ishigami, der seiner alleinerziehenden Nachbarin Yasuko Hanaoka in misslicher Situation zu Hilfe eilt. Sie hat gerade den Zudringlichkeiten ihres Ex-Manns ein für alle Mal mit dem Kabel ihres Kotatsu-Heiztisches ein Ende bereitet. Ishigami hilft der angebeteten Schönen, die Leiche zu entsorgen, und ersinnt für sie und ihre Tochter ein wasserdichtes Alibi, an dem sich die Polizei die Zähne ausbeißen soll. Doch Ishigamis logisches Talent wird weniger von der Polizei auf die Probe gestellt - auf Yasukos Spur setzen sich zwei eher einfältige Kommissare -, sondern von einem alten Bekannten an Tokios Kaiserlicher Universität: Der Physik-Professor Manabu Yukawa schaltet sich etwas Sherlock-Holmes-artig als genialischer Kombinierer in die Ermittlungen ein. Der Mathematiker, der bald Hauptverdächtiger wird, und der Physiker, als "Kommissar Galileo" verehrt, liefern sich in der Folge ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sie viel logische Brillanz und reine Vernunft behaupten. Aber als Bewunderer des ungarischen Mathematikers Paul Erdös wissen sie selbstverständlich, dass ein Beweis nur gilt, wenn er auch natürlich, klar und schön ist.

Die vertrackten Deduktionen der beiden Superhirne werden erwartungsgemäß durch unkalkulierbare Kräfte gestört (Liebe, Eifersucht, Reue), auch machen die Polizisten mitunter ihren kriminologischen Instinkt geltend, aber da es nie zu einer echten Polizeiarbeit kommt, bleiben die Rätsel rein theoretischer Natur: Gibt es eine algebraische Lösung für ein Problem, das wie ein geometrisches aussieht? Wann mündet Logik in Wahn?

Vielleicht hat der unglückliche Liebende Ishigami seiner Angebeteten nicht das perfekte Alibi geliefert, aber Higashino hat den idealen Krimi für alle geschrieben, die Psychologie für Mumpitz halten und ihre Abende lieber mit einem logischen Sudoku verbringen als in der schlechten Gesellschaft irrationaler Menschen.

Keigo Higashino: Verdächtige Geliebte. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012, 320 S., 19,95 Euro ()