Mord und Ratschlag

Haarscharf neben dem Bordstein

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
20.05.2016. In Simone Buchholz' St.-Pauli-Roman "Blaue Nacht" hat Staatsanwältin Chastity Riley alle Hände voll zu tun: Der Calabretta hat Liebeskummer, dem Österreicher werden alle Knochen gebrochen und der Albaner will den Drogenmarkt aufmischen. Christine Lehmann erkundet in ihrem Debattenroman "Allesfresser" den ideologischen Wahnsinn unserer Esskultur.
Simone Buchholz ist eine große Stilistin. Das Hamburg, von dem sie in ihrem Roman "Blaue Nacht" erzählt, ist kein realistisches Abbild der Stadt, nicht einmal von St. Pauli. Dieses Hamburg ist ein Erzählkosmos, der ganz von seiner Sprache getragen wird, einer ausgefeilten Schlichtheit, die ans Schnoddrige grenzte, wäre sie nicht so leicht und witzig. Seine Energie speist dieser Kosmos aus Strömen von Astra-Bier, guten Freunden und ein bisschen südländischem Flair. Seine Fixsterne bilden sympathisch klebrige Kneipen wie der Silbersack oder eben die titelgebende Blaue Nacht.

Die Blaue Nacht ist Welt und Daseinsweise der Ich-Erzählerin, die so wenig von einer hanseatischen Staatsanwältin hat wie von ihrem kapriziösen Namen Chastity Riley. Sie ist ein bisschen aus der Welt gerutscht und nicht gefeit vor Übersprungshandlungen. Weil sie einem Gangster in die Eier geschossen hat, wurde sie zur Opferbeauftragten degradiert. Ihr Mitbewohner, bester Kumpel und Liebhaber ist Klatsche, der nach seiner Zeit im Milieu und im Knast ehrlich geworden ist, die Kneipe führt und seine Omi betreut. Zur Freundesfamilie gehören auch Carla und Rocco, die das Café betreiben, in dem sich Chastity aufhält, wenn die Blaue Nacht noch nicht geöffnet hat. Freunde sind ja sowieso das größte Glück: "Da fällt mir wieder ein, was überhaupt das Allerschönste an Menschen ist: wenn man an der Art, wie sich jemand bewegt, seine Geschichte lesen kann. Rocco geht, wie man eben geht, wenn der Vater ein Stehgeiger war, wenn man haarscharf neben dem Bordstein aufgewachsen ist und es bei aller dort herrschende Härte doch immer einen warmen Busen gab, an den man sich drücken konnte. Er hat die Gezeiten im Gang und die Große Freiheit im Gesicht. An Carla ist alles Wasser und Abendlicht und Olivenöl und Lissabon."

Mit ihren Kollegen von der Staatsanwaltschaft hat sie rein gar nichts zu tun, für eine gewisse Verankerung des Romans im Kriminalistischen sorgen Chastitys Polizeifreunde: der alte Faller, der einst ein Mädchen aus der Herbertstraße liebte, und der junge Calabretta mit seinem Liebeskummer, der Polizist geworden ist, weil er die Alfa Romeos der Carabinieri so schick findet (Nicht auszudenken, der Junge wäre bei der Berliner Polizei gelandet und müsste einen Opel Corsa fahren!). Aber auch die beiden Kommissare hängen eigentlich nur in Kneipen rum. Ermitteln heißt, sein Bier woanders trinken.

In "Blaue Nacht" müssen sie es alle zusammen mit dem brutalsten Gangster von St. Pauli aufnehmen: dem Albaner. Der alte Faller hat noch eine Rechnung mit ihm offen. Und er will auch nicht mit ansehen, wie dieser üble Typ sein schmutziges Geld jetzt sauber in die Hafencity investiert und dafür sogar zum Neujahrsempfang im Rathaus geladen wird. Auch wenn man in Hamburg besser Geschäfte machen kann als in Neapel: "Geld wird leise verdient, wir machen kein großes Aufhebens darum, und alle, die mitverdienen wollten, halten gefälligst die Schnauze. Das Gesetz gilt in Vorstandsetagen, Behörden und Mafiafamilien. Unter hanseatischen Geschäftsleuten ist es mehr als ein Gesetz: Es gehört zur DNA." Jetzt aber soll der Drogenmarkt neu geregelt werden, neue Produzenten wollen neuen Stoff über neue Lieferketten vertreiben, und das lockt die alten Gangster noch einmal aus ihrer neuen hanseatischen Reserve. Chastity Riley muss in der Zwischenzeit aufklären, was es mit dem Österreicher auf sich hat, dem im Kiez alle Knochen gebrochen wurden. Dieser "Joe" hat weder einen richtigen Namen noch ein Interesse daran auszupacken, nicht einmal gegenüber der Opferbeauftragten, die ihm mit Brot und Wein und Zigaretten im Krankenhaus zu Leibe rückt.

Es gibt Passagen, in denen der Roman zu sehr ins Unernste abgleitet ("Drei tote Männer. Das ist natürlich mal ne Ansage.") oder in die Kiezseligkeit, wogegen auch nicht der Ausflug nach Tschechien und in die Rheumatäler hinter Dresden hilft. Was einen jedoch für "Blaue Nacht" absolut einnimmt, ist der völlige Verzicht auf Sarkasmus und andere Demonstrationen der Überlegenheit. In dieser Erzählwelt haben weder Ehrgeiz noch Aggressivität einen Platz, allenfalls etwas unwillges Gemurre und nordisches Gemaule. Simone Buchholz schreibt astrareine Reeperbahn-Poesie.

Simone Buchholz: Blaue Nacht. Kriminalroman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 234 Seiten, 14,99 Euro ().

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Bei der Stuttgarterin Christine Lehmann ist dagegen alles etwas puristisch, knochentrocken, reine Ratio. Ihre Romane sind weniger kriminalistische Untersuchungen als Erkundungen des gesellschaftlichen Debattenstands. Hochintelligent, unglaublich witzig und absolut spannend. In "Allesfresser" erkundet Lehmann die Abgründe der gastronomischen Scheinheiligkeit. Gleich mit den ersten Sätzen geht es in die Vollen: "Es ist eine große Tötungslust in uns. Für jeden Mord führt ihr gute Gründe an. Ich musste sie töten, sagt der Serienkiller, weil sie eine böse Frau war. Ich habe eine Familie zu ernähren, meine Kinder wollen studieren, sagt der Metzger."

Es sind die Bekenntnisse einer bloggenden Tierschutz-Aktivistin, die Schwaben-Reporterin Lisa Nerz da liest, während ihr Kompagnon und intellektueller Sparringpartner, Staatsanwalt Richard Weber, Entenbrust mit Kirschen brät. Lisa Nerz kann der kulinarischen Hingabe ebenso wenig abgewinnen wie der oberethischen. Dass sie sich neuerdings für Veganer interessiert, liegt am Verschwinden von Hinni Rappküfer, einem prominenten Fernsehkoch und erklärten Gegner des Veganismus, dem er genauso viele Ernährungslügen ankreidet wie der Industrie. Per Flaschenpost hat er - auf ein kümmerliches Radicchio-Blatt geritzt - die Botschaft geschickt: "Bin entführt. Hinni Rapp." Aber können Veganer einem Menschentier etwas zuleide tun?

Lisa Nerz muss sich also ihre Lederjacke ausziehen, um undercover - und seltsamerweise im Auftrag von Polizei und Staatsanwaltschaft - in der militanten Veganerszene zu recherchieren. Eine Handlung gibt es nicht wirklich, eher einen mitreißenden Debattenverlauf. Lisa Nerz lernt in den Blogs, dass man nichts töten darf, was ein Gesicht oder eine Mutter hat, geht in veganen Kommunen essen, stapft über Gnadenhöfe und fragt auch beim Biobäcker artig-streberhaft: "Enthält das Backferment ein honighaltiges Teiglockerungsmittel?" Und mit Lisa erfahren wir alles über die Zustände in Schlachthäusern und über die Grausamkeit, mit der Milchkühe gehalten werden: "Damit Du Milch trinken kannst, muss die Kuh gebären. Das Kalb wird ihr nach der Geburt entrissen, auch Biokälber. Männliche Kälber werden sieben Monate lang gemästet und dann geschlachtet, weibliche Tiere werden ab dem zweiten Lebensjahr jedes Jahr künstlich befruchtet, damit sie gebären und Milch geben. Nach fünf Jahren sind sie verbraucht und werden geschlachtet."

Grandios arbeitet Lehmann mit der soghaften Wirkung, die ein solch gruseliges Wissen entfaltet. Auch wenn es einem den Appetit verdirbt, will man immer mehr von den Schandtaten erfahren. Aber weil Lehmann die ausgefuchste Autorin ist, die sie ist, setzt sie diesem unmoralischen Irrsinn den moralischen Wahnsinn entgegen, zu dem jeder Rigorismus unweigerlich führt und der sich auch aus einem verrückten Willen zum Leidensstress speist: "Askese hat es immer gegeben. Selbstkasteiung, Selbstbestrafung, Selbstkontrolle. Es gibt Leute, die brauchen das. Eine Sucht nach Überlegenheit. Magersüchtige Mädchen können dir den Lustgewinn daraus erklären."

Gegen die Fluten des Wahns setzte Lehmann als sanfte, aber anhaltende Gegenströmung den Verstand, der sich in verschiedenen Reifegraden zeigt: Mal als juristischer Sachverstand, der Rechte nur gewähren will, wenn sie mit Pflichten einhergehen. Und mal als typischer gesunder Menschenverstand, für den die Sentimentalität mit den Viechern nur "pietistischer Glump" ist.

Und dann gibt es da noch die ganzen Manifestationen der Irrationalität, des Unverstands und Missverstands: Die Lust auf das Steak, die Freude an anhänglichen Haustieren oder die närrische Liebe zu Pferden, von denen ausgerechnet die mutigsten und gelassensten in der Reiterstaffel der Polizei landen.

Christine Lehmann: Allesfresser. Roman. Ariadne. Hamburg 2016, 252 Seiten, 12 Euro