Mord und Ratschlag

Fluch der Erinnerung

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
10.12.2003. 1993 entführten zwei Zehnjährige aus Liverpool den zweijährigen James Bulger und folterten ihn zu Tode. In Anne Chaplets Krimi "Schneesterben" fragen sich Dorfbewohner und Städter was besser ist: vergessen oder erinnern?
Der kleine David Ferber stirbt während einer einfachen Operation. Offenbar ein Unglücksfall, aber Davids Eltern behaupten, der Kinderarzt Dr. Thomas Regler habe gepfuscht. Auch Reglers Team steht nicht mehr hinter ihm, und die Zeitung der hessischen Kleinstadt Feldern hat endlich einmal etwas Interessantes zu schreiben. Wenig später gesteht Reglers Frau Krista, ihren Liebhaber, den Kriegsberichterstatter Michael Hansen, erschlagen zu haben. Das ist gelogen, denn Krista kennt, anders als Thomas, die Tatwaffe nicht: einen roten Ziegelstein. Nach einem ebenso falschen Geständnis kommt Thomas in Untersuchungshaft. Hier gilt er als Kinderschänder - auch das stimmt nicht. Die Akten kennen aber noch einen anderen roten Klinker: Damit haben 1979 Thomas Regler und ein Freund einen kleinen Jungen getötet. Sie haben eine Jugendstrafe abgesessen und eine neue Identität bekommen. Wie hängt das alles zusammen?

Anne Chaplet, das Krimi-Ich der Publizistin Cora Stephan, geht in ihrem fünften Roman "Schneesterben" von einem bekannten historischen Fall aus: Robert Thompson und Jon Venables, zwei Zehnjährige aus Liverpool, entführten den zweijährigen James Bulger und folterten ihn zu Tode. Sie wurden vor ein Erwachsenengericht gestellt, dessen Verhandlung sie, wie wohl auch die Tragweite ihrer Tat, kaum verstanden. Nach acht Jahren Haft wurden sie im Jahr 2001 freigelassen. Ein Urteil garantiert ihnen, dass ihre neue Identität nicht aufgedeckt werden darf, auch nicht von der britischen Boulevardpresse. Aber im Internet wimmelte es von Morddrohungen selbst ernannter Rächer, die die Täter finden und töten wollten.

Damit hängt die Diskussion zusammen, für die "Schneesterben" ein Fallbeispiel liefert. Erinnerung gilt als nötig und gut, Vergessen und Beschweigen dagegen als Verdrängen, als individuelle Krankheit oder als Täterentlastung. Die Jugendlichen in "Schneesterben" waren aber keine Monster. Sie haben auf recht gewöhnliche Familien- und Schulprobleme recht durchschnittlich reagiert. Einen Tag lang lief alles furchtbar aus dem Ruder, danach wurden sie niemandem mehr gefährlich. Diesem Argument liegt die im Roman entwickelte Idee zugrunde, dass es keine geschlossene Identität gibt, Menschen sich nicht unbedingt kontinuierlich entwickeln, sondern mit unerklärlichen Katastrophen zu rechnen ist wie auch mit ebenso unerklärlichen Wandlungen zum Besseren. Wenn es aber richtig ist, solche Menschen vor Lynchjustiz zu bewahren, dann ist es auch richtig, die Erinnerung an ihre Tat amtlich zu behindern: Der Staat muss lügen, um Menschen zu schützen, die furchtbares Leid verursacht haben. Das ist schwer zu schlucken, und wo hört es auf?

Anne Chaplet verbindet dieses Problem mit dem Gegensatz von Stadt- und Landmentalität. Die Theoretiker und Freunde der Erinnerung arbeiten zum Beispiel als Professoren, Journalisten, Schriftsteller. Sie wohnen in der Stadt und können sich aus dem Weg gehen. Auf dem Dorf leben Menschen, die wissen, dass sie nie wegziehen werden. Sie müssen, egal was geschehen ist, miteinander auskommen. Also wird, was sie daran hindern würde, verschwiegen, erst recht gegenüber Fremden. Natürlich ist das falsch. Es anders zu machen kann aber unter Dorfbedingungen heißen, das eigene Leben zu ruinieren. Das ist leichter empfohlen als getan. Das Problem ist nur theoretisch lösbar. "Schneesterben" sät Zweifel, die man nicht so schnell wieder los wird, und zwar auf einem Gebiet, auf dem man als studierter Städter nie gezweifelt hat. Das muss ein Buch erst einmal schaffen.

Über dieser Abstraktionsschicht, auf der Wer-war's-Ebene, ist "Schneesterben" technisch so konservativ erzählt wie die meisten Krimis. Der Erzähler weiß genau, was passiert ist, und verteilt sein Wissen mit Hilfe von allerlei Tricks so, wie es der Spannung dient. Das ist geschickt gemacht. Über einige Einzelheiten kann man streiten. Warum stirbt der kleine David? Für den Plot ist es unnötig. Warum Kristas falsches Geständnis?

Der Roman ist nicht so düster wie sein Thema. Den Leser wärmen die vier Weisen, die er seit Chaplets erstem Roman "Caruso singt nicht mehr" (1997) kennt: Paul Bremer, früher Werbetexter in Frankfurt, jetzt Schriftsteller in Klein-Roda in der hessischen Rhön - den komischen, schlimmen, rührenden Dorfalltag sieht der Leser überwiegend durch seine Augen; Staatsanwältin Karen Stark, Frankfurt, nach langer Pause nun mit Liebhaber; Kriminalhauptkommissar Gregor Kosinski, ein faltiger Lurch vom Land; die weltverbessernde Politikerin Anne Burau. Nicht dass ihnen ihre Weisheit so viel helfen würde. Aber sie haben schon altershalber einiges erlebt und räsonnieren darüber vortrefflich. Zum Beispiel über die Nähe schöner Worte zur Lüge und insofern die Fähigkeit der Sprachbegabten, besonderes Unglück zu verbreiten; oder über Liebe als den Zustand, in dem man sich für nichts zu schade ist. Und immerhin gibt es für Burau und Bremer ein Happy End, kein geschenktes, sondern eines aus Einsicht.


Anne Chaplet: "Schneesterben". Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2003, 319 Seiten, gebunden, 19,90 Euro