Mord und Ratschlag

Leseprobe zu Thomas Perrys 'Sicher ist nur der Tod'

Die Krimikolumne.
Leseprobe zu Thomas Perrys 'Sicher ist nur der Tod'


Thomas Perry: "Sicher ist nur der Tod". Roman.
Kabel Verlag. München 2002. 403 seiten, gebunden, 19,90 Euro





Klappentext:
Max Stillman und sein Partner Walker ermitteln in einem gigantischen Versicherungsbetrug. Die heiße Spur führt sie in ein Dorf, in dem sie die Drahtzieher vermuten. Doch was sie dort entdecken, übersteigt jede Vorstellungskraft: eine ganze Gemeinde, die dem Verbrechen verfallen scheint.


Zum Autor:
Thomas Perry geboren 1947 in Tonawanda, New York, war Literaturprofessor, bevor er mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann. Ausgezeichnet mit dem "Edgar-Allan-Poe-Preis", schuf er die einzigartige Figur der Jane Whitefield, deren Romane allein in den USA weit über eine halbe Million Leser gefunden haben.
(Foto: Jerry Bauer)


Leseprobe:

Ellen beugte sich über das Waschbecken und begutachtete zum letzten Mal kritisch ihr Make-up im Badezimmerspiegel. Die Augen waren ihr gut gelungen. Einen vertrauenswürdigen Eindruck erweckte man, indem man vertrauensvoll aussah, und ihre blauen Augen wirkten groß und offen. Auch die Farbe der Wangen stimmte: Sie machten einen glatten, natürlichen Eindruck, so viel konnte sie sehen, obwohl der Spiegel überall schwarze Flecken hatte und das Licht hier drinnen hart und gelblich war. Aber sie hatte vor, so rechtzeitig dort zu sein, daß sie noch rasch in die Damentoilette verschwinden und eventuell nötige Korrekturen vornehmen konnte. Seit sie neun Jahre alt war, hatte sie sich darin geübt, nichts als selbstverständlich vorauszusetzen, und mittlerweile war sie vierundzwanzig. Problemen nicht zuvorzukommen bedeutete, es darauf anzulegen.
Sie ging zurück in die Küche, nahm ihre Handtasche vom Tisch, warf sie sich über die Schulter und öffnete dann ihre dünne Lederaktenmappe, um sicherzugehen, daß sie alles eingepackt hatte. Sie hatte immer ein kleines Set mit allen Broschüren und Formularen dabei, die nötig waren, um einen Kunden für eine der üblichen Versicherungen zu verpflichten: Lebensversicherungen mit begrenzter Laufzeit, Risikolebensversicherungen, Wohngebäudeversicherungen, Kfz-Versicherungen. Bevor sie am Abend zuvor das Büro verlassen hatte, hatte sie noch ein paar von den exotischeren dazugelegt: Kunstwerke, Schmuck, Flugzeuge und Schiffe. Auf jedem Anmeldebogen, den sie dabeihatte, war im Feld für den zuständigen Versicherungsvertreter ihr Name eingetippt, in den anderen Feldern standen ihre Durchwahl sowie die Büro- und E-Mail-Adresse, und in dem Kästchen am unteren Rand hatte sie bereits unterschrieben. Sie ließ die Hauptgeschäftsstelle nie darüber im Zweifel, wem die Provision zustand.
In einem Innenfach ihrer Aktenmappe steckte ein schlanker goldener Füller, der dem Kunden gut in der Hand lag, wenn er unterschrieb, und darunter hatte sie einen identischen, aber nie benutzten versteckt, damit es nie dazu kam, daß sie die Chance, einen Kunden festzunageln, nicht wahrnehmen konnte. Ein paar einfache, gewohnheitsmäßige Vorkehrungen genügten normalerweise, damit sie nachts nicht vor Versagensangst wach lag.
Aus dem anderen Fach ihrer Aktenmappe zog sie die vorbereiteten Formulare heraus und sah sie sich noch einmal an. Sie überprüfte nicht etwa die Einträge. Sie wußte, daß es da keine Fehler gab. Bis spät in die Nacht hatte sie die Akten durchgelesen und die freien Felder auf den Formularen mit der Schreibmaschine ausgefüllt, so daß alle Schreibarbeiten bereits erledigt waren. An diesem Morgen prüfte sie anhand der Formulare nur, ob sie die Familiennamen, Adressen und Daten im Kopf hatte.
Sie machte sich keine Illusionen darüber, daß ihre Arbeit pure Heuchelei war. Jede Kleinigkeit war einstudiert und geprobt, und alles andere als eine makellose Vorstellung wäre eine Katastrophe. Wenn sie alle persönlichen Details auswendig wußte, vermittelte sie dem Zuhörer das Gefühl, er sei ihr wichtig. Machte sie jedoch einen Fehler, stünde sie als scheinheilige Betrügerin da. Wenn sie den Zuhörer davon überzeugte, daß er ihr wichtig war - daß ihr seine Interessen wirklich am Herzen lagen -, dann stand sie nicht nur kurz vor dem Ziel, dann hatte sie es erreicht.
Ellen sah nach, ob sie die Kaffeemaschine ausgesteckt und überall das Licht gelöscht hatte, bevor sie hinausging und die Tür abschloß. Als sie sich umdrehte, hörte sie hinter sich plötzlich ein Geräusch und fuhr zusammen. Sie blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, kam jedoch zu dem Schluß, daß es nichts weiter gewesen war - vielleicht war hinten im Garten eine Orange vom Baum gefallen. Aber es war eine Stunde vor Sonnenaufgang, und in der Dunkelheit und Stille konnte selbst Pasadena ein wenig unheimlich sein.
Wenn sie schrie, würden die anderen vier Frauen, die in den kleinen Wohnungen in diesem Haus lebten, ihr wohl nicht zu Hilfe kommen, aber sie würden zumindest aufwachen und aus dem Fenster sehen. Wenn jemand über sie herfiel, durfte sie sich nicht auf die Hilfsbereitschaft ihrer Nachbarn verlassen. Sie mußte "Feuer!" schreien, während sie sich wehrte. Das, so hatte sie gelesen, empfahlen Experten, und genau das würde sie tun.
Sie wünschte, sie wäre nicht ganz so nervös. In den letzten zwei Tagen war sie zunehmend unruhig geworden, und dieses Unbehagen schien an diesem Morgen noch zu wachsen. Sie mußte sich immer wieder vorsagen, daß sie dabei keine Angst haben mußte. Es war eine Chance. Wenn sie sie gut nutzte, war es ein Schritt hin zu dem Ziel, alles zu bekommen, was sie wollte.
Sie ging zu der offenen Garage, wo ihr Auto stand, und überprüfte, ob es abgeschlossen war. Ein wenig schämte sie sich für ihren Zwang, alles kontrollieren zu müssen. Sie hatte sich nicht nur Sorgen gemacht, ob sie ihr Ziel heute erreichen würde. Sie hatte auch irgendwie das Gefühl gehabt, daß etwas nicht stimmte. Manchmal schien ihr, sie würde beobachtet. Gestern hatte sie sich in der Nähe des Büros ein paar Läden angesehen, und auf einmal hatte sie gespürt, daß jemand sie anstarrte. Sie war abrupt stehengeblieben und hatte so getan, als würde sie in ein Schaufenster blicken, und dabei in der Scheibe den Gehweg beobachtet. Sie hatte gewartet, bis die anderen Fußgänger an ihr vorbeigegangen waren und sie sich vergewissert hatte, daß sie alle harmlos wirkten. Sie hatte sich gesagt, daß sie bestimmt nur den Blick irgendeines Mannes gespürt hatte. Schließlich machten Männer das manchmal, ohne daß sie einem gleich etwas antun wollten. Aber sie war nicht ganz überzeugt gewesen: Wenn die Männer nichts Böses wollten, dann waren sie immer leicht ausfindig zu machen. Dann wollten sie ausfindig gemacht werden.
Sie ging über die Auffahrt zur Straße, um dort auf das Taxi zu warten. Es war noch nicht einmal fünf Uhr. Es gab keinen Grund, ungeduldig zu sein. Das Taxi kam nicht zu spät, sie war zu früh heruntergekommen. Wahrscheinlich war sie in letzter Zeit zuviel allein gewesen.
Sie verteidigte sich vor sich selbst. Es war nicht ihre Schuld, daß sie so einsam war. Selbst nach einem Jahr hier waren die Leute in der Filiale in Pasadena die einzigen Menschen in Südkalifornien, die sie kannte. Gleich am Anfang hatte sie gesehen, daß sich wahrscheinlich keiner von ihnen enger mit ihr anfreunden würde. Im besten Fall waren ihre Kollegen Verbündete, im schlimmsten waren sie Hindernisse, um die sie sich herumarbeiten mußte. Um zu bekommen, was sie brauchte, mußte sie ihnen etwas vormachen und ihnen bestimmte Informationen vorenthalten, die sie dann zu ihrem eigenen Vorteil nutzte, und dabei mußte sie die ganze Zeit lächeln und ihnen ausweichen. Kein Wunder, daß sie nervös war.
Sie blickte die dunkle Straße hinauf. In der tiefen Stille in diesem Wohnviertel hörte sie die Motorengeräusche vom Ende des nächsten Blocks, wo die Straße auf den Colorado Boulevard traf. Alle paar Sekunden rauschte ein Auto oder ein Lastwagen an der Kreuzung vorbei, aber keines bog um die Ecke. Die fernen Geräusche erinnerten sie daran, wie allein sie war.
In einer Frauenzeitschrift hatte sie einmal gelesen, daß Frauen bestimmte Empfindungen nicht ignorieren sollten - vage Vorahnungen zum Beispiel oder wenn sie sich in Begleitung eines Mannes nicht wohl oder an einem bestimmten Ort wehrlos fühlten. Wahrscheinlich hatten ihre Augen oder Ohren dann irgend etwas wahrgenommen, aber ihr Kopf versuchte, es beiseite zu schieben und wegzuerklären, weil es einfacher war, es zu leugnen, als sich der Gefahr zu stellen.
Ellen ertappte sich dabei, wie sie sich John Walkers Gesicht in Erinnerung rief. Sie sah sein dunkelbraunes Haar, seine ruhigen, klugen Augen. Sie war sich sicher, daß es dieses Unbehagen war, das sein Bild wieder in ihr erstehen ließ. Als sie mit ihm zusammen gewesen war, hatte sie sich immer sicher gefühlt, und zwar nicht nur, weil er groß, breitschultrig und durchtrainiert war. Er hatte eine ruhige, nachdenkliche Art, und er war zuverlässig. Sie verspürte einen stechenden Schmerz, der sie überraschte. Sie hätte sich weiter mit ihm treffen können - vielleicht hätte sie ihn nicht heiraten können, denn das hätte alles kaputtgemacht, aber zumindest hätte sie ihn sozusagen griffbereit haben können. Vor Sonnenaufgang hierherzufahren, um sie abzuholen - genau so etwas hätte er gemacht, und sie hätte gewußt, daß er pünktlich sein würde. Sie zwang sich, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Es gab nichts Schlimmeres, als sich wegen einer Entscheidung, die man in der Vergangenheit gefällt hatte, Vorwürfe zu machen.
Sie sah ein Scheinwerferpaar vom Colorado Boulevard abbiegen, holte tief Luft und wartete. Als das Auto unter der ersten Straßenlampe vorbeifuhr, konnte sie das weiße Schild auf dem Dach erkennen. Es war das Taxi. Erleichtert atmete sie aus. Das Taxi fuhr langsam die Straße entlang. Der Fahrer suchte wohl nach ihrer Hausnummer, aber er war noch nicht einmal im richtigen Block. Sie stellte sich an den Straßenrand und winkte, doch der Fahrer fuhr weiter im Schrittempo. Wie war es möglich, daß er sie nicht sah? Es war, als würde er sich jedes Haus, jedes Stück Gehweg ansehen, um sie per Ausschlußverfahren zu finden.
Am Ende der Auffahrt hielt das Taxi schließlich. Sie konnte das Gesicht des Fahrers nicht sehen, nur zwei große Hände am Lenkrad in dem schwachen Lichtschein vom Armaturenbrett. Sie zögerte. Sie sagte sich, daß sie kindisch war. Sie hatte ein Taxi gerufen, und hier war es - sie sah auf die Uhr -, sogar ein wenig zu früh. Alles übrige war nur ihre überhitzte Phantasie.
Sie ging auf die hintere Tür zu, aber der Mann stieg nicht aus, um sie ihr zu öffnen. Er winkte ihr ungeduldig, endlich einzusteigen. Sie öffnete die Tür und stieg ein.
"Ich möchte zum Flughafen, bitte."
"Ich weiß", brummte er gereizt.

Mit freundlicher Genehmigung des Kabelverlags