Mord und Ratschlag

Dr. Kiels Kampfkeime

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
06.05.2020. Sara Paretsky schickt in ihrem Roman "Altlasten" ihre Chicagoer Heldin Vic Warshawski ins Herz von Kansas, wo die US Army nicht mehr Marschflugkörper, sondern mikrobiologische Forschungslabore unterhält. Aber Achtung: Die Lektüre beschert Halskratzen. Lisa Sandlin schreibt mit "Family Business" ihre Vintage-Reihe um Delpha Wade fort, der tüchtigen Ermittlerin mit Knasterfahrung.
Cover: AltlastenEs gibt hervorragende Kriminalromane, deren Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt oder überholt werden. Andere erscheinen zu einem Zeitpunkt, an dem man gerade das literarisches Spiel mit der Gegenwart nicht verkraften kann. Jerome Charyns letztem Roman "Winterwarnung" über den mörderischen Superpräsidenten Isaac Sidel erging es so, der zu Donald Trumps Amtsbeginn erschien.

In Sara Paretskys Roman "Altlasten", der im amerikanischen Original 2017 herauskam, sterben Menschen an einer Krankheit, die mit Halskratzen beginnt und mit einer Lungenentzündung endet. Es ist ein fantastischer Roman. Eisern feministisch, politisch und moralisch fest verankert, aber literarisch so kraftvoll und komplex, dass er jedes zufällige zeitliche Zusammentreffen - oder besser gesagt sein absolut irrsinniges Timing - überdauert.

Dabei beginnt "Altlasten" ganz unspektakulär. Vic Warshawski, Chicagos nervigste Privatdetektivin, soll für ihre Nichte einen Freund suchen, den jungen Filmemacher August Veriden. In dem Sportstudio, in dem er jobbt, wurde eingebrochen, und er selbst hat sich aus dem Staub gemacht. Chicagos Polizei kümmert sich nicht um solche Petitessen, andere scheinen umso mehr Interesse für August aufzubringen: Seine Wohnung ist dem Erdboden gleichgemacht worden. Jemand ist eindeutig hinter ihm her.

Wie Warshawski schnell herausfindet, ist August mit der Schauspielerin Emerald Ferring auf dem Weg nach Kansas, genauer gesagt nach Lawrence. Er möchte einen Dokumentarfilm über sie drehen. Ferring war in den sechziger Jahren ein Stern des schwarzen Independentkinos, dann lange in Vergessenheit geraten, und in jüngster Zeit vom Fernsehen wieder aus der Versenkung geholt, für ein Remake der Sitcom "The Jeffersons". Wollten die beiden vielleicht einfach nur an den Ort von Ferrings Jugend zurückkehren?

Warshawski reist den beiden hinterher, die Großstadtdetektivin verlegt sich auf die Prärie, denn wie schon in "Kritische Masse" zeigt sich auch in "Altlasten", dass die Metropolen zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind: Die großen Dramen und fatalen Affäre spielen sich mittlerweile in der amerikanischen Provinz ab. Kansas bietet hervorragenden Krimistoff.

In Lawrence trifft Warshawski auf viel guten Willen: Die Universität von Kansas bemüht sich schon länger um die berühmte Ferring, das Militär will sogar Ferrings Großvater postum ehren, der im Zweiten Weltkrieg fiel. Früher wurde Schwarzen ja doch sehr viel Unrecht angetan, heißt es jetzt allerorten recht geschmeidig, zum Glück sind die Zeiten vorbei. Auch in Lawrence geht man mit der Moderne. Aber sobald Warshawski in der Geschichte des Countys zu graben oder vielmehr im Boden zu buddeln beginnt, stößt sie auf Granit. Die Bitterkeit, die sich in den Familien festgesetzt und über Generationen weitergetragen wurde, erscheint noch belastender als die radioaktiven Rückstände, die das amerikanische Militär auf seinem ehemaligen Stützpunkt hinterlassen hat.

Der Roman, der so zeitgeistig begann, öffnet sich auf einmal in unerwartete Tiefenschichten: In den achtziger Jahren waren in Douglas County Marschflugkörper stationiert, die US Army hatte weite Landstriche von den Farmern konfisziert, um auf dem Boden Raketensilos zu errichten. Es hatte Proteste und Friedenscamps gegeben, doch die schnell beendet beziehungsweise geräumt worden. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Raketen abgezogen. Schwamm drüber. Die Silos wurden an Prepper verkauft, der Boden an einen Agrarkonzern. Betreten verboten. Vielleicht schützt der Konzern seine empfindlichen neuen Getreide-Hybride, vielleicht ist das Gebiet kontaminiert. Zuwiderhandlungen werden mit dem Tode bestraft. In den Achtzigern waren Menschen in Douglas County bedauerlicherweise verschwunden oder gestorben, die Toten von Heute lassen sich nicht unter den Teppich kehren. Selbst in Kansas glaubt niemand, dass Warshawski daran Schuld ist, obwohl sie es ist, die die Leichen findet.

Wie immer ist Warshawski zu Beginn ihrer Ermittlungen auf sich allein gestellt, nur mit der Hündin Peppy an ihrer Seite, als Freundin, Seelsorgerin und Assistenzschnüfflerin. Aber nach und nach erarbeitet sie sich ein Netzwerk von Unterstützerinnen in Schule, Bibliotheken und Kirchen, dank deren Hilfe sie es mit Militär, Wissenschaft und Agrarkonzernen aufnehmen kann. Die Fronten sind hier weitgehend abgesteckt. Aber sehr schön zeigt Paretsky an ihren Figuren, wie sich männliche Machtfiguren im Laufe der letzten dreißig Jahre verändert haben. Nur auf den ersten Blick liegen Welten zwischen dem smarten und politisch alerten Colonel Bagetto und einem selbstherrlichen Wissenschaftler wie Dr. Nathan Kiel, der sein mikrobiologisches Forschungslabor ebenso herrisch und kalt regiert wie seine Familie. Einen Christian Drosten findet man nicht in diesem Tableau, immerhin bleibt bis kurz vor Schluss offen, auf welche Seite sich der Polizeichef schlägt. Die Frauenfiguren füllen das gesamte Spektrum zwischen Auflehnung, Anpassung und Resignation, es gibt wunderbar knorrige Alte ebenso wie böse Alkoholikerinnen oder die traurige Sonja, die für das Festhalten an ihrer Wahrheit in den Wahnsinn getrieben wurde.

Paretsky erzählt die Geschichte recht ausufernd, aber trotzdem ist sie fantastisch geplottet, fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite. Ohne Geschichte umschreiben zu wollen, ohne Fiktion an die Stelle von Recherche zu setzen, erzählt sie, welche Schäden die Army auch in amerikanischen Städten anrichtete und wie der so berühmte militärisch-industrielle Komplex die Schwerindustrie hinter sich ließ: In Kansas setzt niemand mehr auf Marschflugkörper, sondern auf Dr. Kiels Kampfkeime.

Nach Albert Camus, Daniel Defoe und David Herlihys "Der Schwarze Tod und die Verwandlung Europas" gehört Sara Paretskys formidabler Roman zu den Büchern, die man in Corona-Zeiten, aber auch danach, unbedingt gelesen haben muss.

Sara Paretsky: Altlasten. Roman. Aus dem Amerikanischen von Laudan & Szelinski. Ariadne Verlag, Hamburg 2020, 532 Seiten, 24 Euro (Bestellen)

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Cover: Family BusinessLisa Sandlin schreibt mit "Family Business" ihre Vintage-Reihe über die Siebziger fort, die mit "Ein Fall für Delpha" so originell wie vergnüglich begonnen hatte. Delpha Wade saß vierzehn Jahre lang wegen Mordes im Gefängnis, nachdem sie einen ihrer Vergewaltigers getötet hatte - und es in der Zeit ihrer Jugend noch kein Recht auf einen Verteidiger gab. Nun aber ist sie frei, auf Bewährung zwar, aber frei. Misstrauisch beäugt von allen Seiten, aber ein Ausbund an Tüchtigkeit, und ausgebildet in Mr. Wallys Betriebswirtschaftskurs im Gefängnis von Gatesville, heuert sie bei dem freundlichen Privatdetektiv Tom Phelan an, der seinerseits auch schon etliche Rückschläge im Leben verkraften musste.

Der Roman spielt Mitte der siebziger Jahren im texanischen Beaumont, unweit von Louisiana. Ausläufer der Cajun-Kultur sorgen für eine gewisse Lebensart und Entspanntheit in diesem Ort an der Küste des Golfs von Mexiko. Gleich auf der ersten Seite markiert Sandlin, dass man sie zeitlich nicht allzu genau festlegen soll. Richard Nixon ist noch Präsident, aber die Spaßfunkband War dudelte schon im Radio "Why can't we be friends", die Leute sagen Okey-dokey und alle erwarten das große, als Battle of the Sexes verkaufte Schauturnier zwischen der Tennisikone Billie Jean King und dem Veteran Bobby Riggs.

Delpha hat den ersten Fall um Haaresbreite überlebt, ist aber gleich wieder Feuer und Flamme, als ein zwielichtiger Klient im Büro von Phelan Investigation erscheint: Xavier Bell, ein um sein Auftreten bemühter Herr über siebzig, sucht seinen Bruder, um sich mit ihm nach Jahren familiärer Zwistigkeiten wieder zu versöhnen. Der Mann ist so falsch wie sein Schnurrbart und Perücke, nur die altrömische Goldmünze mit dem Januskopf, die er bei sich trägt, ist echt. Und wahr scheint auch zu sein, dass der Bruder etwas an sich genommen hat, was auch dieser falsche Siebziger gern hätte, der sich Xavier Bell nennt.

Während Tom Phelan stets mit anderen Dingen des Detektivgeschäfts befasst ist, klappert Delpha Maklerbüros, Bibliotheken und Meldeämter ab. Aufmerksam lernt sie, sich Informationen zu besorgen, Menschen auszuquetschen und etwas aus sich zu machen. Sie möchte nicht unbedingt "vorankommen", sie möchte "sich entwickeln". Dafür hat sie immer den Callcenter-Ton im Ohr, in dem eine Zellengenossin säuseln konnte, um Kunden etwas auf- oder abzuschwatzen.

Den Pep des ersten Bandes kann Sandlin mit ihrer flotten Schreibe durchaus beibehalten, der Roman liest sich luftig und locker in einem Schwung weg. Aber der Fall um die beiden Brüder ist etwas sehr harmlos geraten, und die schöne Kameradschaftlichkeit zwischen Tom und Delpha weicht einem zarten, aber konventionellen Liebesverhältnis zwischen Chef und Sekretärin. Schade nur, dass sich die kantige Delpha so schnell hat glatt schleifen lassen.

Lisa Sandlin: Family Business. Ein Fall für Delpha. Roman. Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf. Suhrkamp Verlag, 357 Seiten, 10 Euro (Bestellen)