Ende der neunziger Jahre zerriss eine Debatte über den Kommunismus die französische Öffentlichkeit Anlass war das von Stéphane Courtois herausgegebene "Schwarzbuch des Kommunismus", das die Verbrechen sämtlicher kommunistischer Regimes im 20. Jahrhundert bilanzierte. Noch 1997/98 konnte diese Bilanz einen Sturm der Entrüstung in Frankreich entfesseln. Die Kommunisten waren unter Premierminster Jospin (und Päsident Chirac) in der Regierungskoalition. Jospin trat vor die Assemblée nationale und verteidigte die kommunistische Utopie. Ich war damals Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Paris. Michi Strausfeld, die Entdeckerin der großen lateinamerikanischen Literatur für Suhrkamp, und eine enge Freundin Sempruns, lebte damals ebenfalls in Paris und vermittelte mir damals den Kontat zu Jorge Semprun, dessen scharfe Intelligenz und zugleich Gelassenheit mich in diesem Gespräch über das "scheußliche Geheimnis" der intellektuellen Sympathie mit dem Kommunismus tief beeindruckten. Aus Anlass seines Todes habe ich es nochmal aus meinem Archiv geholt.

Thierry Chervel


Das Schwarzbuch erzählt an sich nichts Neues. Die Verbrechen des Kommunismus waren bekannt. Wie erklären Sie sich die Schärfe der Auseinandersetzung um das Buch?

Semprún: Zum Teil sind die Gründe in Frankreich selbst zu suchen. Die KPF ist mit Ausnahme der politisch unwichtigen KP Spaniens die einzige Kommunistische Partei Westeuropas, die weiterhin unter ihrem ursprünglichen Namen eine Rolle spielt - ohne dass sie je von sich aus einen Schritt zur Selbstkritik oder Erneuerung unternommen hätte. Im Grunde kommt diese Debatte also ein wenig zu spät. Sie war dann, wie oft in Frankreich, sehr heftig, sehr schnell, sehr oberflächlich. Das Buch hat sich sehr gut verkauft, aber wurde es auch richtig gelesen? Zwei oder drei Sätze im Vorwort des Herausgebers Stéphane Courtois luden zur Heftigkeit in der Polemik förmlich ein und haben zuerst das Autorenteam selbst zerrissen.


(Jorge Semprun bei einer Veranstaltung im Jahr 2006, Foto: attila (tekatana), CC, bei Flickr)

Einer dieser Sätze lautet: "Der Hungertod eines ukrainischen Kulakenkinds 'gilt soviel' wie der Hungertod eines jüdischen Kindes im Getto von Warschau." Was halten sie von diesem Vergleich?

Ich halte es für falsch, die Polemik an diesem Punkt zu eröffnen. Man muss an den Wurzeln der beiden Regimes ansetzen. Der Tod eines Kindes in Auschwitz, der Tod eines Kindes im Gulag, der Tod eines Kindes in Ruanda, ein Kind, das in Algerien von den Islamisten geköpft wird - das ist der absolute Horror! Aber womit soll man den absoluten Schrecken vergleichen, mit einem anderen absoluten Schrecken? Alle gewaltsamen Tode von Kindern sind vergleichbar, und doch brauchen sie nichts miteinander zu tun zu haben. Also hat der Vergleich keinen Sinn.

Ich glaube, man muss am Anfang anfangen und sagen: Es kommt nicht in Frage, und zwar wirklich in keinem Fall, den Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus zu verweigern. Wie auch immer die Schlüsse aus diesem Vergleich sind, und wer auch immer sie zieht. Der Vergleich ist notwendig. Zunächst, weil wir aus ihm den Begriff des Totalitarismus gewinnen, auch wenn bei diesem Begriff alle Welt vor Schmerz aufheult . . .

. . . naja, vor allem eine gewisse Linke . . .

. . . auch eine gewisse Rechte. Er wurde aus vielen Gründen abgelehnt, vor allem während der Zeit des Kalten Krieges, aber wir brauchen ihn.

Warum?

Erstens, weil er uns erlaubt, das 20. Jahrhundert zu analysieren. Zweitens, weil sich dadurch ihn der Unterschied zwischen der Demokratie und dem Rest definieren lässt. Drittens, weil sich erst durch die Identität des Begriffs ersehen lässt, worin Nationalsozialismus und Kommunismus anders sind. Die Anerkennung der Identität ist Voraussetzung: Beide Systeme basieren auf einer Einheitspartei, einer alles beherrschenden Staatsideologie und auf dem Schrecken. Dieser Staatsterror erlaubt einen quantitativen Vergleich, bei dem sich herausstellt, dass die Kommunisten mehr Tote auf dem Gewissen haben als die Nazis, unter anderem, weil sie mehr Zeit hatten.

Innerhalb dieser beiden totalitären Systeme muss man, glaube ich, an dem historischen Argument der Einzigartigkeit des Judenmords festhalten, auch wenn es ein gefährliches Argument ist, weil man sich hier schnell in die Bereiche der Metaphysik verliert. Zwar sind im Gulag wesentlich mehr Menschen gestorben, auch lässt sich die Deportation der Kulaken mit dem Judenmord vergleichen, denn auch sie hat eine metaphysische Seite und ist mehr als nur Klassenkampf. Aber die Besonderheit des Judenmords besteht in seinem massiven, bürokratischen, industriellen Charakter, in der Tatsache, dass er auf ganz Europa ausgedehnt wurde, in den Gaskammern. Nicht im Antisemitismus wohlgemerkt, hier stimme ich Goldhagen nicht zu. Auch Stalin war Antisemit. Die Dokumente zeigen, dass er am Ende seiner Herrschaft antisemitische Säuberungen plante.

Wie erklärt sich der Widerstand gegen den Totalitarismusbegriff?

Wir sind in Frankreich, also lassen Sie uns über Frankreich reden. Die Verweigerung des Vergleichs speist sich aus den selben Quellen wie die Weigerung, sich mit Vichy auseinanderzusetzen. Es ist eine Verweigerung von Trauerarbeit. Denn wer den Vergleich akzeptiert, muss die gesamte Geschichte der Intellektuellen, die Geschichte der Linken und der politischen Bündnisse revidieren - bis zum heutigen Tage: Ist das eigentlich dieselbe KP wie früher, die da in Regierung sitzt, oder ist es eine andere? Jedes europäische Land hat in seiner Geschichte Kapitel, die es überprüfen muss. In Frankreich scheint mir der Widerwille dagegen am zähesten.

Nun gibt es die Frage, die auch Jospin vorgebracht hat, als in der Nationalversammlung über das Schwarzbuch debattiert wurde. Die französischen Kommunisten mögen sich etwas spät vom Stalinismus gelöst haben, aber auf nationaler Ebene haben sie eine eher positive Rolle gespielt, wie es die Volksfront, die Résistance und der Kampf gegen den Kolonialismus zeigen.

Da ist etwas Wahres dran, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit ist. Mich bekümmert die kulturelle Seite der Sache. Positive Rolle hin oder her, aber als Sartre, der einflussreichste Intellektuelle der fünfziger Jahre, sagte: "Jeder Antikommunist ist ein Hund" und "Es ist eine Niedertracht, die sowjetischen Lager untersuchen zu wollen"?, blockierte er eine ganze mögliche Debatte. Um einen Begriff der Historiker des letzten Jahrhunderts zu gebrauchen: Wer kann heute ermessen, welche Schäden die kommunistische Hegemonie über die Kultur - die in Frankreich einen großen Teil der Nachkriegszeit dauerte - in der Seele dieses Landes anrichtete?

Kleinigkeiten lassen hier am tiefsten blicken. Margarete Buber-Neumanns Buch "Als Gefangene bei Hitler und Stalin", wo sie erzählt, wie sie als ehemalige Kommunistin von Stalins Schergen an Hitlers Schergen übergeben wurde, hat man in Frankreich bis in die jüngste Zeit in zwei Bänden publiziert: "Déportée à Ravensbrück" und "Déportée en Sibérie", obwohl es sich um ein zusammenhängendes Buch handelt. Aber man wollte nicht beide Erfahrungen unter einem Buchdeckel vereinigen. Oder das Erinnerungsbuch "Les staliniens" von Dominique Desanti, die 1956 mit der KP gebrochen hat. In diesem Buch gibt es eine Person, die bis zu einer bestimmten Seite unter dem Namen Annie Besse auftritt. Später taucht eine andere Person auf, die den Namen Annie Kriegel trägt. Es handelt sich um ein und dieselbe Frau: Annie Kriegel hat eine Schule der Kommunistenforschung begründet, aus der auch Stephane Courtois stammt. Aber bevor sie mit der KP gebrochen hatte, war sie Annie Besse, eine hohe Parteifunktionärin, der Schrecken der Pariser Intellektuellen, die Beria des Quartier latin! Desanti erwähnt diese Identität mit keinem Wort. Auch Kriegel selbst ist nie auf ihre persönliche Geschichte eingegangen. Man wusste es und schwieg darüber. Das zeigt, wie schwer sich die französische Linke mit ihrer Vergangenheit tut. Der erste, der selbst aus dem Kommunismus stammt und eine wirkliche Synthese vorlegte, mit allen Grenzen, die so ein Buch hat, ist François Furet mit seiner "Vergangenheit einer Illusion" von 1995!

Sie selbst schildern den Schock, mit dem bei Ihnen die Trauerarbeit einsetzte, in "Was für ein schöner Sonntag" von 1980. Sie erzählen, wie Sie Anfang der sechziger Jahre Solschenizyn und Schalamow lesen und wie Sie sich als ehemaliger "Kazettler" aus Buchenwald in den "Zeks" aus dem Gulag wiedererkennen. Es ist ein Schock der Überblendung, eine Art unwillkürliche Erinnerung an das Erlebnis eines anderen, die Sie fast überwältigt.

Und die einen der Unterschiede zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus ausmacht, denn wenn man erst einmal die innere Identität akzeptiert hat, muss man auch den Unterschied wahrnehmen. Zu den wichtigsten gehört, dass man mit ehemaligen Kommunisten reden kann, während es sehr schwierig ist, mit einem ehemaligen SSler zu reden. Die Entdeckung von Solschenizyn und später Schalamow war entscheidend für mich. Den ersten Teil der Buchenwald-Trilogie, "Die große Reise", habe ich 1962 noch in einer Art naiven oder pseudonaiven Haltung geschrieben. Es gibt noch keine Distanz zwischen Autor und dem Erlebnis eines jungen Kommunisten, der überzeugt ist, dass die Nazi-KZs den brutalsten Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus darstellen. Als Ende der vierziger Jahre die ersten Berichte aus dem Gulag kamen, habe ich noch gesagt, das ist Propaganda, das kann nicht sein. Bei Solschenizyns "Ein Tag des Ivan Denissowitsch", 1962, konnte ich mich nicht mehr sperren. Und Schalamow halte ich für den größten Schriftsteller der Lagererfahrung überhaupt.

In der Kritik, die Sie selbst im Journal du dimanche über das Schwarzbuch geschrieben haben, sprechen Sie vom "ungeheuren scheußlichen Geheimnis" des Engagements für den Kommunismus und sagen, dass sich die künftige Forschung auf die Spur dieses Geheimnisses begeben solle.

Ich zitiere einen Satz von Octavio Paz: "Selten haben soviele gute Gründe soviele wohlmeinende Seelen dazu gebracht, soviele Ungerechtigkeiten zu begehen." Nur sollte man, bevor man vom Geheimnis spricht, nicht vergessen, dass es sehr starke Gründe gab, sich für den Kommunismus zu engagieren. Deutschland und Frankreich waren in den zwanziger, dreißiger Jahren in der Krise, die Leute waren verzweifelt, die Arbeitslosigkeit wütete, die Nazis stiegen auf. Diese Gesellschaften ändern zu wollen, war keine absurde Idee. Darin bestand das Projekt der Kommunisten, und das haben die Leute verstanden. Das ist doch begreiflich. Diese Gesellschaften mussten verändert werden, sie müssen es übrigens bis heute!

Worin besteht nun das "ungeheure scheußliche Geheimnis"?

In dem Umstand, dass sehr schnell Hinweise vorlagen, die zeigten, dass das bolschewistische System nicht funktionierte. Nicht nur die Intellektuellen, auch die Arbeiter hätten hellhörig werden müssen - meist waren es ja qualifizierte Arbeiter, die in die KP gingen, die Aristokratie der Arbeiterklasse. Das Rätsel ist, dass der Mythos all diesen Desillusionen und Realitäten solange standhalten konnte. Wie konnte dieses politische Engagement jahrzehntelang so blind und so religiös werden? Und warum gibt es bis heute soviele Menschen - ich meine hier nicht nur Intellektuelle, sondern Leute aller Kategorien ?, die längst nicht mehr glauben, dass der Kommunismus die Lösung parat hält und die trotzdem sagen: "Aber schön war's doch"? Wie in dem Lied von Piaf: "Je ne regrette rien."

Auch François Furet spricht in seinem Buch sehr viel vom Geheimnis der kommunistischen Illusion. Als eine der Quellen sowohl der nationalsozialistischen als auch der kommunistischen Ideologie benennt er den "Hass auf den Bourgeois", der vor allem ein bürgerlicher Selbsthass war. Der Demokrat blickt in den Spiegel, und zurück blickt der Krämer.

Aber dieses Phänomen betrifft vor allem den bürgerlichen Intellektuellen im weiteren Sinn des Worts, nicht die Arbeiterklasse, die sich doch auch hat blenden lassen. Übrigens vergisst Furet hier, auf einen fundamentalen Unterschied zwischen Nazis und Kommunisten einzugehen. Der "Hass auf den Bourgeois" schön und gut, aber der Hass der Nazis zerstörte die Bourgeoisie nicht, während die Kommunisten sie wirklich zerstörten. Die Nazis benutzten, manipulierten sie, aber sie haben das Verhältnis von Kapital und Arbeit intakt gelassen. Die Kommunisten waren also, von einem soziologischen Standpunkt aus gesehen, zerstörerischer für die Gesellschaft. Mit der paradoxen Konsequenz, dass es leichter ist, vom Faschismus zur Demokratie zurückzukehren als vom Kommunismus. Trotzdem hat es den "Hass auf die Bourgeoisie" auf beiden Seiten gegeben. Die bürgerliche Demokratie mit all den Schimpftiteln, die man ihr gegeben hat - "bourgeois", "formell", "jüdisch-freimaurerisch", "jüdisch-bolschewistisch" ?, war der Hauptfeind sowohl der extremen Rechten als auch der extremen Linken, durchs ganze 20. Jahrhundert, bis heute.

Beide griffen die Demokratie im Namen eines zu verwirklichenden Ideals an. Das ist vielleicht einer der Punkte, die nach dem Mauerfall am schwersten zu verstehen sind. Und noch aufs "Schwarzbuch" antwortet man: "Ja, aber die Kommunisten hatten eine Utopie, ein Ideal." Die Demokratie hat doch auch Ideale!

Das sagen Sie heute! Daran merkt man, wie jung Sie sind! Versetzen sie sich zurück in die dreißiger Jahre. Hier ist das Buch von Furet übrigens sehr sehr stark: Es beschreibt die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, dieses sinnlose Massaker und die Unfähigkeit der Demokratie, diesen Krieg zu beenden. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte die Demokratie alle Kraft zur Mobilisierung vollends eingebüßt. Die Franzosen sind passiv in den Krieg gegangen, ohne Ideal, und haben sich von deutschen Panzerdivisionen überrennen lassen, mit 100 000 Toten. Die Demokratie mag das schönste Ideal überhaupt sein, aber 1939 lag es am Boden. Es stand erst 1940 wieder auf, als Frankreich geschlagen war, als Hitler ganz Europa beherrschte und als Großbritannien, vor Hitlers wahnsinnigem Überfall auf die Sowjetunion, ganz alleine gegen ihn kämpfte.

In den Reaktionen gegen das Schwarzbuch schwang manchmal eine Art Trotz mit: Der Kommunismus mag kriminell gewesen sein, aber lag in ihm nicht eine Hoffnung? Solche Fragen wurden in der Fernsehdebatte zu dem Buch gestellt: Bleibt jetzt nur die Perspektive eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus, der sich um so rücksichtloser gebärden kann, als er vom Gespenst des Kommunismus nichts mehr zu befürchten hat?

Es sind die schwierigsten Fragen überhaupt. Diese Gesellschaft ist ungerecht, und sie muss verändert werden. Aber wie sollte sich heute eine revolutionäre Bewegung strukturieren - im Wissen, dass die bolschewistische Revolution gescheitert ist und nur zu einem System geführt hat, das noch blutiger ist als der Kapitalismus? Der Reformismus hatte noch nie sehr viel mobilisierende Kraft. Man müsste also ein revolutionär-reformistisches Modell entwickeln, aber das ist sehr schwierig, denn die Sozialdemokratie, die diese Rolle spielen könnte, hat eigentlich auch keine Konsequenzen aus der neuen Situation gezogen. Es gibt einzelne Intellektuelle, die einzelne Antworten vorschlagen - André Gorz mit seiner Neuverteilung der Arbeit, Emmanuel Todd mit seiner Rückkehr zur Nation und zum Protektionismus ?, aber es gibt keine Bewegung, die die soziale Unzufriedenheit bündeln könnte. Also werden entweder die Finanzmärkte die Situation managen, mit aller Brutalität - oder . . . Ja, oder was? Wird Europa die Antwort auf die Frage sein?

Wir feiern in diesem Jahr den 150. Geburstag von Marx' Kommunistischem Manifest, anderthalb Jahrhunderte Kommunismus. Marx sagte die Globalisierung voraus - ein paar Dummköpfe glauben ja, dass das etwas Neues sei. Allerdings hatte Marx er ein messianisches, verrücktes Verhältnis zur Zeit, er glaubte, dass diese letzte Phase des Kapitalismus vor der sozialistischen Revolution unmittelbar bevorstünde. Wir haben sie heute heute erst erreicht. Nur eine Revolution wird nicht kommen.

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Das Interview erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Februar 1998.