Redaktionsblog - Im Ententeich

Kopftuch im Overton-Fenster

13.08.2018. Geht es darum, das Kopftuch zu einer Art natürlichem Merkmal zu erklären, das vor Rassismus zu beschützen wäre? Ein paar Anmerkungen zur redaktionellen Aufmachung von Patrick Bahners' letztem Artikel im Feuilleton der Sonntags-FAZ.
Im Grunde ist dieser Aufmacher des Sonntags-Feuilletons ein typischer Bahners-Artikel, zugleich pedantisch und mäandernd, klug, im Ton belehrend und apodiktisch, dabei aber ohne wirklich klare Themensetzung. Die redaktionelle Unterzeile versucht zwar zu bündeln: "Deutschland ist kein Einwanderungsland: #MeTwo zeigt, dass die führenden Politiker in diesem Land keine Vorstellung davon haben, wie Einwanderer leben. Die Regierenden flüchten sich in eine Dauerdebatte, die von Empirie und Selbstkritik nichts hören will." Aber es geht in dem Artikel auch um alles mögliche andere. Um Staecks Plakat "Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen". Um den Fall Özil. Darum, dass Heiko Maas weder als Justiz-, noch als Außenminister befugt sei, persönliche Meinungen zu äußern. Ums Kopftuch geht es diesmal nicht.

Zwei Punkte machen den Artikel dennoch interessant und geben vielleicht Aufschluss über die Richtung, in die Bahners die Debatte lenken will. Da ist einerseits die Provokation des Aufmacherfotos: kleine Mädchen der Ahmadiyya-Gemeinde (die nicht von allen Muslimen als muslimisch anerkannt wird) unter feierlichen Kopftüchern, mit deutschen Fahnen geschmückt.

Aufmacher des FAS-Feuilletons am gestrigen Sonntag.




Das andere ist Bahners' en passant gegebene Rassismus-Definition, mit der er begründet, warum man die Beschimpfungen gegen Özil nach seinem Wahlkampf-Foto mit Erdogan und dem Abschneiden der Nationalelf sehr wohl als rassistisch bezeichnen könne: "Habituelle Diskriminierung aufgrund der aus sichtbaren Merkmalen erschlossenen Herkunft - dieses Phänomen ist mit dem Begriff des Rassismus korrekt bezeichnet", so Bahners.

Unabhängig davon, ob das auf die Özil-Debatte zutrifft - es lohnt sich, diese Rassismus-Definition anzusehen und sie dann zur redaktionellen Aufmachung in Bezug zu setzen.

Antisemitismus wäre nach Bahners' Definition kein Rassismus, denn es gibt bei Juden kein äußerliches Kriterium, das auf Herkunft schließen lässt, zumindest nicht bei nicht orthodoxen Juden. Wenn also etwa Juden unter dem Hashtag #MeTwo über ihre Erfahrungen berichten, habe sie das Wesen der Bahnersschen Rassismus-Definition schon missverstanden.

Weiterhin würden wohl auch zum Beispiel Diskriminierungen Behinderter laut Bahners nicht unter Rassismus fallen. Denn bei ihnen gibt es zwar oft eine optische Differenz, aber es fehlt der Aspekt der Herkunft: Die Differenz verweist nicht auf eine Herkunft, die nicht im Mainstream liegt.

Die Wahl des Fotos ist nun insofern erstaunlich, als in Bahners' Artikel kaum vom Islam die Rede ist. Das Kopftuch wird wie gesagt gar nicht angesprochen, schon gar nicht die aktuelle Debatte um Kopftücher bei Mädchen, die noch nicht religionsmündig und noch nicht einmal in der Pubertät sind.

Die Frage, die die Aufmachung von Bahners' Artikel offen lässt, ist, ob dieses Foto gewissermaßen laut Bahners (oder der aufmachenden Redakteurin) das Inbild dessen darstellt, was von der deutschen Gesellschaft zu integrieren oder zumindest zu tolerieren wäre. Diese Schwebe findet sich zugleich auch in Bahners' Rassismus-Definition: Es gibt drei optische Marker in diesem Foto, alle verweisen auf Herkunft - und darauf kommt es laut Bahners ja an: der Teint der meisten Mädchen ist dunkler als es zumeist in Deutschland üblich ist. Das Kopftuch verweist auf die Herkunft aus der muslimischen Religion (obwohl die Ahmadiyya-Gemeinschaft wie gesagt etwas Spezielles ist). Die Banderolen mit den deutschen Farben behaupten zugleich die Herkunft aus Deutschland und den Wunsch, die beiden anderen Differenzen - besonders die eine! - als integralen Bestandteil Deutschlands zu sehen.

Bahners' Definition ist hier vielleicht absichtlich unscharf: Fällt denn eine durch Kleidung hergestellte optische Differenz, die auf eine Herkunft aus einer Religion schließen lässt, auch unter die Bahnersschen Definition der Differenzen, die vor dem Rassismus zu beschützen seien?

Mein Verdacht ist, dass Bahners das neuerdings modisch beschworene "Overton-Fenster" (unsere Resümees) in diese Richtung verschieben will. Das Overton-Fenster definiert bekanntlich, was die gesellschaftliche Mitte als politisch akzeptabel ansieht. Besonders den Rechtspopulisten wird vorgeworfen, das Overton-Fenster in Richtung Rassismus verschieben zu wollen.

Bahners stemmt es in eine andere Richtung, die er selbst als Gegenrichtung ansieht, ganz besonders auf Twitter (einem Tool, das Bahners Heiko Maas für seine Meinungen nicht zugestehen will). Es geht darum, so mein Verdacht, auch das Kopftuch zu einer Art natürlichem Merkmal zu erklären, das vor Rassismus zu bewahren ist. Der Antirassismus selbst ist es dabei, der eine Differenz derart essenzialisiert, als wäre das Kopftuch den Mädchen angeboren wie eine Hautfarbe oder Augenform.

Und das ist, was mir an der Inflation und Expansion des Rassismus-Begriffs so suspekt ist: Der Antirassismus führt paradoxer Weise zu einer Sakralisierung der Differenz, ja, zu immer neuen Differenzen, die an immer neue Merkmale geheftet werden, und zu einer absichtlichen Vermischung unterschiedlicher Sphären: Schon die Kritik am Kopftuch, gerade bei kleinen Mädchen und an Schulen, gerät so unter Rassismusverdacht. "Islamophobie", Rassismus, alles eins (nur Antisemitismus nicht, siehe oben.)

Nicht dass Bahners das hier tun würde - er spricht ja gar nicht über das Kopftuch. Es ist nur die Aufmachung des Artikels, die es ins Overton-Fenster rückt.

Thierry Chervel