Redaktionsblog - Im Ententeich

Die sentimentalen Valeurs

Von Thierry Chervel
23.01.2019. Zuerst will man's nicht glauben, aber beim zweiten oder dritten Hören konkretisiert es sich: James Blake nimmt in "Assume Form" als Doo-Wop-Balladensänger Gestalt an. Er singt Sunshine-Music. Und das ist wohl auch als Hommage an Brian Wilson zu verstehen.
Bisher hielt ich James Blake für den ersten Singer-Songwriter des posthumanen Zeitalters, ein in Nährlösung schwebendes hochmusikalisches Superhirn, das seiner Sehnsucht nach realem Kontakt und seiner Angst davor Ausdruck gab, und übrigens in Formen ganz eigenen Rechts und eigener Schönheit. Autotune war für Blake kein Effekt, sondern ein Musikinstrument, das ihn zu einem technoiden Engel, einem Wesen ohne Geschlecht machen konnte. Noch im letzten Jahr legte er da einen bestürzenden Popsong vor, "If The Car Beside You Moves Ahead", in dem er mühelos vom Bass in den Sopran schwebt, oder eher umgekehrt vom Sopran in den Bass, denn eine Eigenart seiner Songs ist ihre späte Grundierung in Bass, Schlagzeug und absichernder Struktur. Das wahre Register seiner Stimme - wobei man sagen muss, dass er ganz von allein zu einem bewunderungswürdigen Falsett fähig ist - zeigt er oft nicht gleich am Anfang seiner Lieder. Das Interessante aber an "The Car Beside You" ist, dass es ein langsames Lied über hohes Tempo ist. Die Geschwindigkeit, die sich wie über eine driftende Struktur zu legen scheint, erzeugt er, indem er fast jedes Wort, das er singt, zweimal singt, wie Kinder, die in ihren Geheimsprachen Silben verdoppeln.



Aber diesen Song, den die Kritik so gut wie nicht zur Kenntnis nahm, hat Blake gar nicht in seine neue Platte "Assume Form" aufgenommen. Er hätte vielleicht auch nicht so gut gepasst, denn in dieser Platte - kann man eigentlich noch so sagen? - zeigt er sein Gesicht, wie in der Kritik vielfach bemerkt wurde, gleich von vornherein. Direkt blickt er einen vom Cover an, während er sich auf früheren Covern stets verwischt oder zeichnerisch stilisiert präsentierte.

"Assume Form", Gestalt annehmen, klingt nun wirklich programmatisch und ist auch gleich der Titel des ersten Songs: "I will leave the ether, I will assume form", heißt es darin. Jameela Jamil, seine glamouröse Freundin, hat ihm den Weg aus der Depression gewiesen, die ihn seine unglaubliche Musik machen ließ. "Assume Form" ist eine einzige Liebeshymne auf Jamil.

"Assume Form" ist aber auch der Weg, den James Blake in den zehn Jahren seiner Karriere - er ist dreißig und kann schon auf ein Werk zurückblicken! - gegangen ist: Er war DJ, machte also eine Musik, die ihrem Wesen nach eigentlich gestaltlos ist, vor allem aus Impulsen zur Bewegung besteht. Aufmerksam geworden bin ich auf ihn geworden durch einen grandiosen SZ-Artikel von Diedrich Diederichsen über "James Blake", die erste Platte, in der Blake tatsächlich schon anfing, Gestalt anzunehmen. "Limit to Your Love", übrigens eine Cover-Version, ist in gewisser Hinsicht sein erster Song: Seine Stimme ist kantig, scharf, etwas unangenehm, eine Qualität, die er auch heute noch, wenn es für ihn richtig ist, hervortreten lässt.

Zugleich ist aber auch in "Limit" schon diese Sehnsucht nach Grundierung angedeutet, die er später in vielen Songs vorsichtig ausagieren wird. Nur momentweise lässt er sich dann gehen, in einem weichen hinzutretenden Bass wie ein trockener Schwamm in warmem Badewasser. Meist nimmt er es wieder zurück. Aber es ist zu spüren, wo er hin will: Es geht ihm schon darum, die sentimentalen Valeurs eines Popsongs - einer Ballade! - neu zu formulieren, neu zuzulassen: Ein Popsong ist gegenüber den repetitiven Mustern von Techno, House, Dub, auch HipHop und allen abgeleiteten Formen, Gestalt mit Vers und Refrain und einem irgendwie pointierten Schluss. Aber, und das ist das Faszinierende: Blake holt den Pop aus deren Techniken zurück. Seine Musik ist nicht Retro, sondern Rekonstruktion aus Versatzstücken und Techniken, die sich einst aus dem Pop losgelöst hatten.

Ein hinreißendes Beispiel von seiner vorletzten Platte ist "My Willing Heart":



Übrigens ist James Blake nicht allein. Man könnte ja sagen, dass Pop, und zwar gerade der langsame und leise, balladeske und sentimentale, sich einen Rückweg durch den Lärm von Techno und den Protz von HipHop sucht, seit über zwanzig Jahren, angefangen mit Trip Hop im Grunde. Schon Massive Attack, die Kings of Cool, schafften es ja in ihren Stücken, ihre Coolness mit Sentiment, ja Pathos zu verbinden.

Noch wichtiger dürfte Burial für ihn gewesen sein, dessen Lieder klingen wie kaputte Cyndi-Lauper-Balladen, die er aus den Schlamm vor den Eingangstüren der Londoner Clubs aufgelesen hat. Und er singt die Cyndi selbst (ab etwa 1'30"), mit Autotune:



Wie hört es sich also an, wenn James Blake nun sogar dem eigenen Bekenntnis nach "Gestalt annimmt"? Nun ja, wider Erwarten nicht direkt und konfrontativ, sondern zart und sanft in seinem Beziehungsreichtum. Mein Lieblingsbeispiel von "Assume Form" ist "Can't Believe the Way We Flow", der kalifornische Song auf dem Album. Ja, das Wort "California" fällt darin. Blake und Jamil sind von London nach New York, und dann gar von New York nach Kalifornien gezogen. Blake besingt den Flow, in dem die beiden fortan leben.



Ich hatte es zuerst nicht verstanden, aber beim zweiten und dritten Hören, wird es offensichtlich: James Blake nimmt hier als Doo-Wop-Ballade Gestalt an. Selbst die Micky-Maus-Stimmen, die gleich zu Anfang die Begleitfiguren einer solchen Ballade imitieren, sind ja schon aus der Frühgeschichte des Pop bekannt.

Aber Doo Wop ist nicht Frühgeschichte des Pop, sondern Vorgeschichte: Pop vor dem Pop, bevor Rock'n'Roll entstanden war. Die Linien lassen sich zurückverfolgen bis in die dreißiger Jahre und die Zeit der Barbershop-Quartette. Später verschmolz die Doo-Wop-Tradition, die immer eine des chorischen Gesangs von Einzelstimmen war, mit den melodiöseren Formen des Rock'n'Roll-Zeitalters zum eher komaptiblen und manchmal unendlich süßen amerikanischen Pop der späten fünfziger Jahre.

Die Struktur dieses skizzenhaft hingeworfenen Lieds ist allerdings gebrochen. Blake lässt zu Anfang und dann nochmal gegen Ende die Textur der um sich kreisenden und zeitweise ein bisschen bedrohlich klingenden Doo-Wop-Begleitfiguren hörbar werden. Diese Figuren haben Blakes Gesang psychedelisch aufgeladen und gesprengt, und als sie wie ein eiernder Kreisel übrigbleiben, umspielen sie eine Passage des Zweifels, bevor der Refrain um so weicher und begütigender wieder einsetzt.

James Blake macht Sunshine-Music! Das Wort "California" fällt nicht von ungefähr. Dies Lied (und übrigens "I'll Come Too", später auf der Platte) ist nicht einfach Doo Wop, sondern bestimmt auch eine Hommage auf die kalifornischste aller Popmusik, die Beach Boys. Die Beach Boys haben mit Doo Wop angefangen. Die immer komplexeren Vokalsätze, die am Ende jedes Projekt Brian Wilsons platzen ließen, leiten sich ab aus der ursprünglichen Süße und Virtuosität dieser Musik.

Hier ein Beispiel aus der frühen Zeit der Beach Boys, ganz Doo Wop. Auch hier sind schon zarte harmonische Schattierungen zu spüren.



Die Hommage Blakes liegt auch in der Brüchigkeit der Struktur, dem leicht überdrehten Duktus, dem etwas gewaltsam aufgesetzten Refrain und ganz allgemein dem Interesse an der menschlichen Stimme: "Mein größtes Interesse liegt darin, moderne vokale Harmonie zu erweitern", hat Brian Wilson 1966 in einem Interview gesagt. "Am meisten liebe ich die Stimme um ihrer selbst willen, aber ich kann sie auch mit Distanz als ein weiteres Musikinstrument nutzen." Wer hätte gedacht, dass sich Brian Wilson und James Blake von ferne zuwinken?

Thierry Chervel
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