Im Kino

Tanzen, tanzen, tanzen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh, Ekkehard Knörer, Maximilian Linz, Elena Meilicke, Nikolaus Perneczky, Jochen Werner
19.12.2012. Diese Woche ein etwas anderer Jahresrückblick: auf einige jener Filme, die es 2012 nicht auf die deutschen Leinwände geschafft haben. Mit dabei: unhedonistische Frivolitäten, Rotweinflecken auf weißen Hemden, bizarr-anrührende Schmerzensschreie, dehumanisierte Supersoldaten, ein fliegendes Pferd und sanft schaukelnde Baumwipfel.
Damsels in Distress



Whit Stillman, Chronist der amerikanischen "urban haute bourgeoise" mit großem Herz für alle Nicht-Marginalisierten und Über-Privilegierten, für alle Yuppies, Preppies und WASPs, hat nach zwölf Jahren erstmals einen neuen Film gemacht. Der lief zwar mit großem Erfolg auf den Filmfestivals in Venedig und Toronto, ist in Deutschland aber nicht in die Kinos gekommen. Egal, sieht man ihn sich eben über Weihnachten auf DVD an. Denn "Damsels in Distress" (auf Deutsch dämlicherweise: "Algebra in Love") ist der Film zur Jahreszeit: Es geht um Depressionen und wie man ihnen beikommt.
 
Violet (Greta Gerwig) hat da ihre ganz eigenen Methoden. Die resolute Blondine ist Studentin am elitären Seven Oaks College und leitet im Rahmen ihrer extracurricularen Aktivitäten das "Suicide Prevention Center" (vgl. zur identitätsstiftenden Bedeutung des Extracurricularen in amerikanischen Bildungskarrieren Wes Andersons "Rushmore"). Gut riechen, sich schön kleiden und tanzen, tanzen, tanzen (in erster Linie Step) - darin besteht Violets Therapieansatz, den sie mit Inbrunst und in druckreifer Diktion verteidigt: "Tap is a highly effective therapy as well as a dazzlingly expressive dance form that has been sadly neglected for too many years!" (Das Schöne daran: Violets völlig unhedonistische Frivolität.)
 
"Damsels in Distress" zitiert nicht nur im Titel und mit seinem herrlich eskapistischen Finale ein Astaire-Musical aus den 30ern. Violet selbst ist eine Filmheldin wie aus vergangenen Zeiten, groß gewachsen und stattlich, mit einer Würde, die früheren Filmdiven locker das Wasser reichen kann. Auf der anderen Seite ist da etwas Verstolpertes in ihren Bewegungen, der Gang leicht watschelnd, ein Schuss Tantenhaftigkeit - unwiderstehlich (Gerwig war Mumblecore-Ikone, bevor sie Stillman-Heroine wurde). Und wenn Violet, untermalt von den Klängen eines großartig süßlichen Scores (Streicher, Glöckchen), mit ihren Freundinnen das Campusgelände durcheilt, ein pastellfarbener Tussi-Club auf Weltverbesserungs-Mission, dann strahlt ihr Blondschopf im Sonnenlicht wie ein Heiligenschein. Ein Film für die Jahreszeit eben.

Elena Meilicke

Algebra in Love - USA 2011 - Originaltitel: Damsels in Distress - Regie: Whit Stillman - Darsteller: Greta Gerwig, Carrie MacLemore, Megalyn Echikunkoke, Analeigh Tipton, Zach Woods - Länge: 99 min.

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The Color Wheel



Wir haben dich nicht zur Beerdigung eingeladen, aus Angst, du würdest die Stimmung verderben. Sagt Colin (Alex Ross Perry) zu seiner Schwester J.R. (Carlen Altman), und das ist so ungefähr der herzliche Ton, in dem die beiden miteinander verkehren. Sie hatte eine Affäre mit einem Professor und begibt sich mit Colin auf eine Reise von New York raus aufs Land: Der Plan ist, den Ex-Lover zu besuchen, einen freundlichen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Warum sie glaubt, dass das funktioniert; warum sie ihren Bruder dahin mitschleppt - kaum zu erklären. Alles jedenfalls eine totale Fehlkalkulation. Ein Desaster. Neil ist ein Arschloch und war ganz sicher immer schon eins. Aber auch J.R. und Colin fliegen die Herzen der Zuschauer nicht zu.

Er wäre gern Schriftsteller, aber einer, der gern Schriftsteller wäre, möchte er auch wieder nicht sein. Sie wäre gern Fernsehsprecherin, aber als sie einer solchen im Café begegnet, benimmt sie sich, als hätte sie nichts dringender vor, als eine mögliche Karriere von vornherein zu sabotieren. Bruder und Schwester werfen sich Beleidigungen an den Kopf, sie sind Virtuosen darin, den anderen zu verletzen: Jede Berührung in Worten und Taten fügt dem Nächsten einen Schaden, einen Schmerz, eine Beleidigung zu. Jeder Satz, der dem anderen gilt, ein Wisch mit Brennesselzweigen aus Worten. Aber auch zwischen allen anderen geht es ähnlich zu. Auf der Party ein Glas Rotwein mit voller Absicht über das weiße Hemd gekippt, aus schierer Bosheit. Ein Reigen der Bösartigkeiten: Eine Hand, ein Herz, ein Mund besudelt des anderen Hand, Herz und Mund.

"The Color Wheel" ist eine Komödie. Alles ist so furchtbar, dass einem nichts bleibt als zu lachen. Oder so komisch, dass es schon wieder furchtbar ist. Das Lachen macht aber nichts leichter. Es klärt auch nicht, wie man zu all dem, den Geschwistern, den anderen, dieser ganzen Welt, die hier entfaltet wird, steht. Auf den ersten Blick wirkt alles sehr vertraut "American Indie": 16 mm, schwarzweiß, sehr, sehr körnige Bilder, die Darsteller sind durch keine Schauspielschule gegangen, Mittelschicht-Hipster-Milieu. Kennt man, denkt man, aus der Mumblecore-Ecke. Begreift aber schnell: Core allemal, aber Mumble schon nicht. Hier wird sehr deutlich, sehr scharf, geradezu überartikuliert formuliert. Wenngleich meist durchaus anhedonisch im Ton, unmoduliert. Keine mimetische Anähnelung an amerikanische Twentysomethings, sondern brutale verbale Operationen an offenen Herzen. Die Kamera folgt zitternd und schwankend, kurze Erholungspausen durch Autofahren, Musik. Dann zurück aufs zwischenmenschliche Schlachtfeld. Am Ende stellt eine Plansequenz vieles, das man gesehen und kaum begriffen hat, vom Kopf auf die Füße.

Die Hauptdarsteller Carlen Altman und Alex Ross Perry haben auch das Drehbuch verfasst. Wie wenig sie tun, Sympathien auf sich zu lenken, ist bewunderungswürdig. Und doch stellt sich auf die Dauer und durch all die ganz anders gearteten Emotionen hindurch zusehends etwas wie Empathie ein. "The Color Wheel" scheint simpel, ist in Wahrheit aber ein Experiment mit hochbeschleunigten Abstoßungsenergien, bei dem immer wieder mal etwas durchschmilzt.

Ekkehard Knörer

The Color Wheel - USA 2011 - Regie: Alex Ross Perry - Darsteller: Caren Altman, Alex Ross Perry, Bob Byington, Kate Lyn Sheil, Anna Bak-Kvapil, Ry Russo-Young, Craig Butta - Länge: 83 min.

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For Love's Sake




Der vielleicht produktivste Genrefilmer der Gegenwart ist längst ein "genre of his own" geworden: Bald 100 Filme hat der Japaner Takashi Miike seit 1991 inszeniert, immer noch kommen jährlich zwei bis drei neue hinzu. Inzwischen hat er sich in fast jedem Genre (bis hin zum Western) ausgetobt. Und kaum ein Genre sieht, nachdem der frenetische Dekonstruktivist Miike sich seiner angenommen hat, noch genauso aus wie vorher. Hierzulande kennt man ihn höchstens - und auch das fast ausschließlich über Import-DVDs - als Regisseur besonders blutrünstiger Horror- und Gangsterfilme wie "Audition" oder "Ichi the Killer". Weit weniger bekannt sind die ruhigeren, nachdenklichen Alltagsdramen, die er über seine ganze Karriere hinweg gedreht hat - und erst recht jene knallbunten Kinderfilme, auf die er sich gerade in den letzten Jahren zunehmend verlegt.

An die schließt "For Love's Sake" zunächst an - und dann doch wieder überhaupt nicht. Selbst für Miike-Verhältnisse ist das ein sonderbares Ding, ein High-School-Musical (basierend auf einem hochtrabend-romantischen Siebzigerjahre-Manga), das knallbunt-übercampy, mit zahlreichen j-poppigen Gesangseinlagen beginnt: Ai, ein Mädchen aus reichem Haus, findet ihren Kindheitsfreund Makoto während einer Straßenschlacht wieder und nimmt ihn unter ihre Fittiche. Zunächst besuchen beide ein teures Internat, aber als der nichtzähmbare Makoto von der Schule fliegt, folgt Ai ihm auf die Hanazone High, eine vermüllte "Problemschule", die von einer brutalen Jugendgang terrorisiert wird. Wie aus dem Nichts nimmt der Film da eine ungeheuer düstere, regelrecht knochenbrecherische Wendung. Die Artifizialität des bonbonfarbenen Beginns wird damit aber nicht negiert; ganz im Gegenteil nimmt die Stilisierung immer extremere Formen an, bis hin zu einer grandiosen Szene, in der Ais Vorgeschichte mithilfe fast schon Melies-artiger Bühnentricks nachgestellt wird. Erlösung findet man in Miikes Filmen nicht in der Abkehr vom Artifiziellen, kulturindustriell Zugerichteten, sondern höchstens in dessen konsequenter Durcharbeitung. Und vielleicht wird Erlösung ja sowieso überbewertet.

Wie kaum einem zweiten Regisseur gelingt es Miike, seine eigene, im Grunde klassisch humanistische Autorenhandschrift in den unterschiedlichsten Filmen durchscheinen zu lassen. Und das besondere daran ist, dass er seinen Stoffen dabei keine Gewalt antut. Es wirkt eher so, als würde er jedem Genre etwas entlocken, das in ihm als Latenz schon immer enthalten war: eine etwas andere als die gewöhnliche, weil sehr konsequent von Außenseiterfiguren her gedachte Perspektive vor allem. Die interessantesten Figuren in "For Love's Sake" sind denn auch nicht Ai und Makoto, sondern Ais unglüklicher, bebrillter Verehrer Hiroshi und vor allem Gumko, die humpelnde, sich hilflos durchs Leben prügelnde Anführerin der Hanazone-Gang, ein Mädchen mit zernarbter Seele. Ihr Lied - fast das einzige in der zweiten Filmhälfte - wird zu einem einzigen, bizarr-anrührenden Schmerzensschrei.

Lukas Foerster

For Love's Sake - Japan 2012 - Originaltitel: Ai to makoto - Regie: Takashi Miike - Darsteller: Emi Takei, Satoshi Tsumabuki, Sakura Ando, Tsuyoshi Ihara, Taumi Saitoh, Ito Ono - Länge: 130 min.

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Universal Soldier: Day of Reckoning



Manchmal wird das Kino revolutioniert aus einer Richtung, aus der man es nicht unbedingt kommen sieht. Am Montag dieser Woche ist einer der originellsten, aufregendsten Filme des Jahres 2012 in Deutschland erschienen - direkt in den Regalen der Videotheken. So weit, so alltäglich, könnte man meinen, denn dass zahllose interessante Filme hierzulande nicht mehr das Licht der -spielhäuser erblicken, davon legt die dieswöchige Kolumne ohnehin beredt Zeugnis ab. Dass es sich bei "Universal Soldier: Day of Reckoning" freilich um den vierten (oder gar sechsten, je nach Zählung) Teil einer in den Frühneunzigern von Roland Emmerich begründeten Reihe von B-Actionfilmen handelt und mit Jean-Claude Van Damme, Dolph Lundgren und Scott Adkins drei Protagonisten aus diesem Segment des DTV-Kinos darin agieren, lässt doch kurz stutzen.

Denn obgleich der B-Actionfilmen sich seit einigen Jahren in einer künstlerischen Blütezeit befindet, hat es einen Film wie "Universal Soldier: Day of Reckoning" noch nicht gegeben. Regisseur John Hyams, der bereits den gleichfalls grandiosen dritten Teil "Universal Soldier: Regeneration" inszenierte, zielt auf nichts weniger als den ultimativen Trip ins finstere Herz der zombiefizierten Militärfilmreihe ab: ein "Apocalypse Now" des Actionkinos, mit einem weißgeschminkten, kahlrasierten Van Damme als Kurtz-Paraphrase. Die finale Konsequenz, die Hyams aus seinen Topoi zieht - dem militärindustriellen Recycling gefallener Soldaten, dem Klonen dehumanisierter Supersoldaten, der gewaltsamen Umformung der menschlichen Kreatur zur auf Gefühllosigkeit programmierten Kriegsmaschine -, führt "Universal Soldier: Day of Reckoning" zu allerlei Zerfallserscheinungen. Von einem linearen, minimalistischen Storytelling, wie es noch Hyams' ersten Beitrag zur Reihe strukturierte, ist dieser ausufernde, psychedelische, zerschossene Bastard von einem Film weit entfernt - nicht einmal mehr die für das Actionkino so grundlegende Differenzierung von Gut und Böse (oder zumindest: Böse und Weniger Böse) ist noch in Kraft. Die Figuren selbst lösen sich auf, werden vervielfacht, umprogrammiert, wie willenlose Schachfiguren in einem end- und sinnlosen Kriegsspiel aufeinander losgehend.

Aber der Horizont, den Hyams aufspannt, erschöpft sich - bei aller Brutalität und Verzweiflung - nicht in der bloßen Resignation. Es gibt eine Idee der Revolution, tief im Inneren von "Universal Soldier: Day of Reckoning", in den Kellern, Bunkern, Tunneln, vielleicht gar tief vergraben in den Gehirnwindungen der geschundenen Kreaturen. Dorthin, in ein ganz grundsätzliches Jenseits, haben sich der nunmehr völlig entrückte Luc Devereaux (Van Damme) und der zum Revolutionsführer avancierte Andrew Scott (Dolph Lundgren) - bei Emmerich noch sadistischer Antagonist, in "Regeneration" schon der eigentliche Philosoph der Reihe - zurückgezogen, um zur Revolte aufzurufen, die eigenen Ketten zu sprengen und sich ein kleines Stück eigener Identität zurückzuerkämpfen. "Universal Soldier: Day of Reckoning" ist, wenn man so will, ästhetische Schmuggelware: in der Camouflage des DTV-Actioners - von Trash zu sprechen verbietet sich ohnehin - inszeniert John Hyams einen überaus komplexen Kunstfilm und ist fortan im Zirkel der großen transgressiven Auteurs des Welt(-DTV-)Kinos zu verorten.

Jochen Werner

Universal Soldier: Day of Reckoning - USA 2012 - Regie: John Hyams - Darsteller: Scott Adkins, Dolph Lundgren, Jean-Claude Van Damme, Andrei Arlovski, Mariah Bonner, Tony Jarreau, Craig Walker - Länge: 114 min.

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Hail



Ein Symbol, ein starkes Bild, von dem sich nicht sagen lässt, für was es steht: So hat Werner Herzog einmal das Schiff bezeichnet, das er für "Fitzcarraldo" über einen Dschungelberg gezogen hat. In Amiel Courtin-Wilsons "Hail" findet sich ein Moment, den man ähnlich beschreiben könnte: Da stürzt ein Pferd aus höchsten Höhen hinunter zur Erde, überschlägt sich, dreht sich, immer wieder. Ein Moment schönster Cine-Irritation, dessen ekstatische Berauschung am rätselhaften Bild sich eigentlich erst im Kino wirklich einstellt - schon auch, weil der Film plötzlich in ein aeronautisches Panorama wechselt, wo er zuvor noch höchste Intimität suchte: "Hail" ist im ruppigen White-Trash-Milieu Australiens angesiedelt und handelt von einem Kleinkriminellen mit verstörendem Aggressionspotenzial, der nach langem Knastaufenthalt zu seiner Frau zurückkehrt (angeblich sollen autobiografische Erfahrungen des Laien-Hauptdarstellers in den Film eingegangen sein - man glaubt das gern). Wenn beide als erstes im Bett landen, ist die Kamera als dritter mit im Bunde: Falten, fahles Fleisch, fettig-strähnige Haare und Zahnlücken ergeben im farbentsättigten DV-Look eine eigene Körperpoesie fernab Distanz wahrender Kinoklassik. Doch eine Liebesgeschichte ist "Hail" nicht, eher ein Film über Dämonen, die man nicht los wird: Der dokumentarische Gestus fällt ab, die Beobachtung des Alltags eines Ex-Knastis zwischen Re-Intergration und Rückfall weicht einem exaltierten, dem Experimentalfilm nahen Filmmodus: Die Haut, von der Kamera zuvor zärtlich abgetastet, wird als Grenze durchstoßen, innere Bilder tosen und wüten, während das Ausmaß eines Kapitalverbrechens zusehends Gewissheit wird. Das Pferd fliegt, der Mörder stellt sich selbst.

Thomas Groh

Hail - Australien 2011 - Regie: Amiel Courtin-Wilson - Darsteller: Leanne Campbell, Daniel P. Jones, Tony Markulin, Jerome Velinsky - Länge: 104 min.

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Two Years at Sea



Der Film "Two Years at Sea" des britischen Regisseurs Ben Rivers ist eine 16mm-Meditation über einen mittelalten Mann, der im bewaldeten Nirgendwo haust; in einer großzügigen, aber mit allerlei Gerümpel vollgestellten Hütte, die im Begriff steht, von der sie umgebenden Natur zurückerobert zu werden. Rivers hat einige Zeit mit dem Einsiedler verbracht und bringt verstreute, keiner klaren Linie folgende Beobachtungen von einem Alltag zurück, der nur in seinen biologischen Rhythmen - Aufstehen, Essen, Schlafengehen - dem unseren gleicht. Dazwischen ereignet sich ein eigentlich zielloses Leben, das sich seine Zwecke selbst schaffen muss. Diesen Eindruck jedenfalls vermittelt "Two Years at Sea"; tatsächlich dürften Konfabulation und Selbstmythisierung einen ähnlichen Anteil an der Darstellung des Protagonisten haben wie im Falle Timothy Treadwells, des tragischen Helden von Werner Herzogs "Grizzly Man", ohne dass Regisseur Rivers allerdings je seine Karten offenlegen würde. Nur in gelegentlichen Momenten der Schutzlosigkeit - etwa beim selbstvergessenen Pfeifen unter der Dusche - meinen wir dem Mann hinter dem Wuschelbart (oder der Person hinter dem wie in einem Tierfilm beobachteten Menschen) näher zu kommen. Und dann sind da noch einige völlig unerklärliche Begebenheiten, die klar machen, dass Rivers trotz dokumentarischem Blick und Materialästhetik (das 35mm-Blowup betont die innere Bewegtheit der Körnung) auf etwas anderes abzielt als auf Walden-eskes Einsiedlertum und einen geraden Realismus. Zum Beispiel findet sich ein Wohnwagenanhänger, der zunächst vor der Hütte lagert, später sanft schaukelnd in einem Baumwipfel wieder. Bis zum Schluss weiß man nicht, wie er dorthin gelangt ist.

"Two Years at Sea" ist Teil einer vom Kunstbereich herkommenden Wiederentdeckung des Zelluloid im Moment seiner Obliteration - nicht "A Film by", sondern "Film by Ben Rivers" ist im Abspann zu lesen. Leider konnte ich den Film nicht so sehen, wie er gesehen werden sollte, sondern lediglich als DCP-Abtastung, die stabilisierend auf das ungestüme Bild einwirkt. In England ist der Fortschritt so weit fortgeschritten [sic!], dass alles, was hinter den Stand der Kinotechnik "zurückfällt" zum Anachronismus gestempelt wird - weshalb "Two Years at Sea" (darin vielleicht ein wenig defensiv, den Kampf verloren gebend) auch von einem aus der Welt gefallenen Leben erzählt und nicht von der digitalen Gegenwart.

Nikolaus Perneczky

Two Years at Sea - UK 2011 - Regie: Ben Rivers - Länge: 88 min.

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Videographen, Vidéasten und die Künstler-Dokumentation im Kino

Eine Figur zeitgenössischer Produktion ist der Videograph/die Videographin: Akteure, die außerhalb festgelegter Drehpläne, aber innerhalb einer bestimmten medienkünstlerischen Praxis mit der Videokamera arbeiten. Obwohl die Figur des Videographen/der Videographin mit neuesten audio-visuellen Medientechniken hantiert, ist sie nicht im Kino, eher in Kunsträumen, im Internet, vor allem auch auf der Straße im Sinne eines zu reklamierenden öffentlichen Raumes zu verorten. Sie geht, je nach Kontext, verschiedenen Zielen nach: der Dokumentation flüchtiger, performativer Situationen; zerstreuter, flaneuristischer Alltagspoetik; Produktion von Gegenbildern zur Evidenzerzeugung gegen Staatsgewalt und Medienapparatschiks. Der letzte Aspekt ist Ausgangspunkt meiner Überlegung, ausgelöst von einer Dokumentation mit dem Titel "Ai Weiwei: Never Sorry", die nach ihrer Premiere auf der Berlinale auch einen größeren Kinostart hatte.

In "Ai Weiwei: Never Sorry" erfährt man, dass Ai ein kompromissloser Künstler und großer Catlover ist, gerne kocht und kürzlich Vater wurde. Außerdem verwickelt er sich oft in einen ungemütlichen Hazzle mit der Polizei, wobei meistens nicht Ai selbst, sondern sein Assistent Zhao Zhao mit dem Camcorder im Mittelpunkt der Aktion steht - im Gegensatz zu Klaymans Kamera, die immer wieder nach einer rückversichernden Meta-Perspektive sucht, externe Experten zu Ais Status befragt, auf Nachrichtenmaterial zurückgreift. Soweit das aus dem amerikanischen Infotainment-Fernsehen bekannte Doku-Larifari: durch hohe Schnittfrequenz wird Pausenlosigkeit simuliert, im Zentrum steht unbewegt ein großzügiges Künstlergenie, um das sich scheininvestigativ Mysterienspiele ranken lassen, die es am Ende zur kommodifizierten Klatschspaltenfigur degradieren.

Mit Blick auf den Videographen in der Ai-Entourage aber frage ich mich nach den Weltzuwendungspotentialen, die im Kino Jahr für Jahr nicht aktualisiert werden. Natürlich ist die Video-Aufzeichnung einer Auseinandersetzung zwischen Ai Weiweis Team und der Polizei kein fertig produzierter Film. Kinoproduzenten im weiteren Sinne könnten aber die kuratorische Aufgabe übernehmen, dem Material jenseits der Verleihlogik eine Sichtbarkeit im Kino zu verschaffen. Mit der Omnipräsenz von HD-Technik haben Künstlerteams die Dokumentation ihrer Arbeit selbst übernommen, nicht nur in hyper-politisierten Kontexten ist das Dokumentieren und "Zurückfilmen" deren integraler Bestandteil. Agressiv normalistische Berichterstattungsformate wie "Ai Weiwei: Never Sorry" reduzieren mit der ästhetischen Komplexität der künstlerischen Programmatik nicht nur die Signifikanz des Kinos als öffentlichem Ort zeitgenössischer Kritikproduktion. Sie verstärken auch wechselseitige Ausschlusstendenzen und Zuständigkeitsdünkel zwischen den Institutionen und ihren Öffentlichkeiten, eine Apartheid der Künste, wie sie sich zuletzt in den erzkonservativen Reaktionen der Feuilletons auf die Nominierung Ai Weiweis, im kommenden Sommer gemeinsam mit Romuald Karmakar, Santu Mofokeng und Dayanita Singh im deutschen Auftrag den französischen Pavillon zu bespielen, wieder artikuliert hat.

Maximilian Linz

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Algebra in Love - USA 2011 - Originaltitel: Damsels in Distress - Regie: Whit Stillman - Darsteller: Greta Gerwig, Carrie MacLemore, Megalyn Echikunkoke, Analeigh Tipton, Zach Woods - Länge: 99 min.

The Color Wheel - USA 2011 - Regie: Alex Ross Perry - Darsteller: Caren Altman, Alex Ross Perry, Bob Byington, Kate Lyn Sheil, Anna Bak-Kvapil, Ry Russo-Young, Craig Butta - Länge: 83 min.

For Love's Sake - Japan 2012 - Originaltitel: Ai to makoto - Regie: Takashi Miike - Darsteller: Emi Takei, Satoshi Tsumabuki, Sakura Ando, Tsuyoshi Ihara, Taumi Saitoh, Ito Ono - Länge: 130 min.

Universal Soldier: Day of Reckoning - USA 2012 - Regie: John Hyams - Darsteller: Scott Adkins, Dolph Lundgren, Jean-Claude Van Damme, Andrei Arlovski, Mariah Bonner, Tony Jarreau, Craig Walker - Länge: 114 min.

Hail - Australien 2011 - Regie: Amiel Courtin-Wilson - Darsteller: Leanne Campbell, Daniel P. Jones, Tony Markulin, Jerome Velinsky - Länge: 104 min.

Two Years at Sea - UK 2011 - Regie: Ben Rivers - Länge: 88 min.