Heute in den Feuilletons

Junge schöne Menschen vor gepflegten Landschaften

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.11.2010. Die FR schildert, wie in Italien jetzt Neofaschisten Häuser besetzen und in Kulturzentren umwandeln. Die Zeit inspiziert die neue Berliner Kreativwirtschaft. Die SZ bilanziert die Expo von Schanghai eher süß-sauer. Im Freitag durchlebt Jochen Schmidt noch einmal die Schrecken der DDR-Kinderliteratur. Die Welt sieht Rentiere im Hamburger Bahnhof. Und die taz entdeckt in Angela Schanelecs "Orly" Gott, vielleicht aber auch die wahre Kunst.

FR, 04.11.2010

Volker Weiß bringt eine interessante Recherche über die "Casa Pound" in Rom, ein von Neofaschisten besetztes Haus, das bereits seit einigen Jahren als Kulturzentrum genutzt wird. Dabei bemächtigen sich die Rechtsradikalen subkultureller Praktiken, die von denen linker Jugendkulturen kaum zu unterscheiden sind: "Der Einfluss der neofaschistischen Studentenorganisation Blocco Studentesco, deren einschlagender weißer Blitz auf schwarzem Grund dem deutschen Betrachter unangenehm vertraut ist, hat Spuren hinterlassen. Es gibt im Umfeld des Zentrums nicht nur eine Kneipe, sondern auch das Onlineradio Bandiera Nera und einen Buchladen. Der Weg zur neuen Ordnung der 'italienischen Wiedergeburt' soll von der Tanzfläche auf die Straße und in die Hörsäle führen."

Weitere Artikel: Christian Thomas wundert sich in der Leitglosse, dass sich in Deutschland niemand über die Seligsprechung Pius des XII. durch die ARD aufzuregen scheint. Ingeborg Ruthe schreibt einen Nachruf auf die Fotografin Sibylle Bergemann. Christian Schlüter liest einen New York Times-Artikel Jürgen Habermas', der den Amerikanern die Debatte um Sarrazin und Wulff erklären will.

Besprochen werden Filme, darunter Lars Kraumes Zukunftsdrama "Die kommenden Tage" (mehr hier), dessen dekadentes Spätestbürgertum Daniel Kohenschulte nicht überzeugt, Jan Peters' auf Video gedrehter Film "Nichts ist besser als gar nichts" (mehr hier) und Angela Schanelecs Avantgardetrauerspiel "Orly" (mehr hier), außerdem Katharina Thalbachs Inszenierung von Brechts "Im Dickicht der Städte" am Berliner Ensemble, die CD "Ensoku" des münchnerisch-japanischen Avantgardepopduos Coconami und Guy Deutschers Essay "Im Spiegel der Sprache - Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 04.11.2010

"Zärtlich, entspannt und ironisch" findet Georg Seeßlen Angela Schanelecs neuen Film "Orly", der zwei Stunden am Flughafen Paris-Orly beobachtet und dabei vier Fragmente von Lebensgeschichten erzählt. "Gott, möglicherweise, sitzt in einem Flughafen-Wartesaal und beobachtet melancholisch die Menschen, die hier eine sehr merkwürdige Zwischenzeit in ihrem Leben verbringen. Eingreifen kann er nicht in das Leben seiner Geschöpfe. Oder er will es nicht, was bei einem Gott wahrscheinlich das Gleiche ist. Jedenfalls kommt ein solcher Gott des Herumsitzens und Zusehens in dem Brief vor, der am Ende von Angela Schanelecs Film 'Orly' aus dem Off gelesen wird, während der Flughafen des Titels wegen einer im Abfalleimer gelandeten Handtasche geräumt wird. Und vielleicht kann man für 'Gott' auch 'die Kunst' sagen."

Weiteres: Brigitte Werneburg würdigt im Nachruf die verstorbene Ostberliner Schwarz-Weiß-Fotografin Sibylle Bergemann. Besprochen werden die Ausstellung "Not in Fashion - Mode und Fotografie der 90er Jahre" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, ein Konzert der kalifornischen Zweimannband No Age im Berliner Festsaal Kreuzberg, der neue B-Film "Machete" von Robert Rodriguez und Ethan Maniquis sowie die DVD von Nikolas Winding Refns schwer einzuordnendem Film "Walhalla Rising".

Und Tom.

Welt, 04.11.2010

Tim Ackermann ist total high von Carsten Höllers Berliner Ausstellung "Soma", die die "Drogenküche auf Museumsformt" hievt, aber auch zwölf nichthalluzinierte Rentiere präsentiert: "Im Hamburger Bahnhof in Berlin trotten die Tiere in zwei Sechserherden durch ihr Rentierleben. Sie haben dazu ein gemütliches Doppelgehege bekommen, mit allen Finessen: Futtertrog, Wasserbehälter und Birkenstamm zum Schubbern sind in beiden Hälften vorhanden."

Weiteres: Richard Herzinger sieht die Gedenkfeier zum 9. November in Frankfurt auf einen Eklat zusteuern: Zumindest er findet es sehr fragwürdig, Alfred Grosser die Hauptrede halten zu lassen, der von den Deutschen immer wieder mehr Kritik an Israels Besatzungspolitik verlangt. In der Randglosse meldet Harald Peters zum Harry-Potter-Filmstart in Indien verstärkten Eulenklau. Günter Agde beobachtet beim Leipziger Filmfestival die Entstehung des neuen Genres Animadok. Gabriele Walde schreibt zum Tod der großen Ost-Berliner Fotografin Sibylle Bergemann. Sven Kellerhoff gratuliert dem Historiker Hans Mommsen zum Achtzigsten.

Besprochen werden Lars Kraumes Science Fiction "Die kommenden Tage" und Robert Rodrigez' B-Movie "Machete".

Auf den Forumsseiten wird Michail Chodorkowskis Rede vor dem Gericht abgedruckt: "Wenn ein Mensch auf ein System trifft, hat er keinerlei Rechte. Selbst wenn das Recht im Gesetz verankert ist, wird es vom Gericht nicht geschützt. Denn das Gericht hat entweder ebenfalls Angst oder ist ein Teil des Systems." Und Andre Glucksmann konstatiert, dass sich Chodorkowski vor allem einer Sache schuldig gemacht hat: "Er ist gegenüber Wladimir Putin im Recht."

Freitag, 04.11.2010

Autor Jochen Schmidt holt die alten DDR-Bücher aus dem Schrank. Erstaunlich, was man als Kind alles unbeschadet übersteht: "Im Lesebuch standen Anekdoten über Partisanen, Matrossow, der die Bunker-Schießscharte mit seinem Körper versperrt, damit die anderen vorbeikönnen. Oder wie August Bebel die preußischen Gendarmen austrickste, die ihm seinen Bücherkoffer trugen, weil sie dachten, es sei eine Bombe drin. Am listigsten war natürlich Lenin, der im Gefängnis mit Geheimtinte schrieb und ein Tintenfass aus Brot formte und runterschluckte, wenn die Wärter kamen. Ein blinder Arbeiter, der in Paris seine Büste betastet und mit feuchten Augen sagt: 'Jetzt habe ich Lenin gesehen.'"

NZZ, 04.11.2010

Die NZZ hat ihre heutige Ausgabe noch nicht online gestellt. Darum erst mal alles unverlinkt.

In Kuba hat die Regierung Mitte September entschieden, eine halbe Million Staatsbedienstete zu entlassen, berichtet Knut Henkel. Davon sind nicht alle begeistert. Aber: "'Man kann nicht mehr ausgeben, als man einnimmt', so begründete Staatspräsident Raul Castro die Sparmaßnahmen".

Besprochen werden eine Ausstellung zum Thema Architektur und Comics in Paris, Lisa Cholodenkos Film "The Kids Are All Right", eine Ausstellung zum Thema "Frauenhaar und Film" in der Cinematheque francaise und Oksana Sabuschkos Romanepos "Museum der vergessenen Geheimnisse" ("Ein Buch unter Starkstrom", verspricht Ilma Rakusa, mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 04.11.2010

(via Jezebel) Mike Figgis ("Leaving Las Vegas") hat das Video für die Lanvin-Kollektion von Alber Elbaz für H&M gedreht, die ab 23. November verkauft wird. Das beste daran: Man kann die Kleider wirklich sehen!



Fans interessanter Kleidung und gewagter Posen könnten sich auch für diese Aufnahme von Marc Jacobs im Boom Boom Room interessieren, die Terry Richardson seinem Tagebuch anvertraute.

(Via Rivva) Einige höchst unsympathische Geschichten über Facebook erzählt Matias Roskos in seinem Blog SocialNetworkStrategien: "Spinnt Facebook jetzt komplett? Zumindest in Österreich muss man diesen Eindruck haben. Erst neulich berichtete ich über den Innsbruck-Fall. Hannes Treichl wurden seine gut besuchte Fanseite weggenommen und Innsbruck-Tourismus überantwortet. Das Wegnehmen an sich mag rechtlich sogar noch im Rahmen liegen. Aber alle Fans ungefragt zu einer neuen Seite zu übertragen, ist eine Unverschämtheit und höchst bedenklich. Und was mich noch nachdenklicher macht, ist der Fakt, dass Facebook - als weltweit größter Kommunikationsraum - selbst nicht in der Lage ist mit den auf ihrer Plattform agierenden Menschen zu kommunizieren."

Zeit, 04.11.2010

Drei Seiten lang tummeln sich Thomas Groß und Tobias Timm in Berlins neuer Kreativwirtschaft, die vom Risikoinvestment ebenso umschwärmt wird wie vom Stadtmarketing. Der Soziologe Ulrich Bröckling glaubt allerdings nicht so ganz an Berlins hippe Zukunft: "Das Lob der Kreativwirtschaft klingt in meinen Ohren wie eine Identifikation mit dem Aggressor. Man feiert die Zumutungen, weil man sie nicht ändern kann. Ökonomisch erfolgreich sind nur die wenigsten."

Weiteres: Eberhard Straub erinnert daran, was die abendländische Kultur dem Islam verdankt. Peter Kümmel beobachtet in Stuttgart, wie S21-Vermittler Heiner Geißler aus Politik Kunst macht. Cees Nooteboom verabschiedet seinen Freund und Kollegen Harry Mulisch. Benedikt Erenz schreibt zum Tod der Berliner Fotografin Sibylle Bergemann.

Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Leos Janaceks "Katja Kabanowa" in Brüssel, Robert Rodriguez' linken Pulpfilm "Machete", Angela Schanelecs Transitfilm "Orly", Michael Thalheimers "Heilige Johann" an der Wiener Burg, Carsten Höllers Installation "Soma" im Hamburger Bahnhof in Berlin und Bücher, darunter die Tagebücher des Londoner Barock-Chronisten Samuel Pepys' und Vladimir Sorokins Roman "Der Zuckerkreml" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

FAZ, 04.11.2010

"Es gibt keinen Terrorismus. Es gibt nur Staatsterrorismus", erklärt Regisseur Olivier Assayas im Interview über seinen Film "Carlos" (mehr hier). "Es gibt keine wütenden Individuen, die plötzlich Bomben bauen - das ist eine zu naive Vorstellung. Wenn sie je gestimmt hat, dann vielleicht im neunzehnten Jahrhundert. Aber nicht heute. Terrorismus ist die Botschaft eines Staats an einen anderen Staat. [...] man kennt nicht alle Karten, die im Spiel sind. Aber mit dem Abstand einer Generation tritt plötzlich vieles sehr klar zutage. Wie in diesem Fall: Plötzlich gibt es Mitschnitte der Stasi, Akten der ungarischen Staatssicherheit, französische Polizisten, die ihre Version im Zeitungsinterview erzählen, Memoiren, Geschichtsbücher."

Weitere Artikel: In Madrid erlebt Paul Ingendaay einen Auftritt des seit der Nobelverkündigung ziemlich schlaflosen Mario Vargas Llosa, der seinen neuen Roman "Der Traum des Kelten" vorstellte. (Die deutsche Übersetzung wird im übrigen bei Rowohlt, nicht bei Suhrkamp erscheinen.) In der Glosse staunt Lorenz Jäger nicht schlecht, dass sich in den Grußworten zum fünfzigsten Geburtstag der Zeitschrift Jeune Afrique (Webauftritt) auch jovial-mörderische Erinnerungen des Terroristen Carlos finden. Hannes Hintermeier kommentiert den angekündigten Abschied des Buchhändlers Hugendubel von seinem Münchner Stammhaus. Eleonore Büning stellt die diesjährige Produktion der ORF-Edition Alte Musik vor, in der es viel zu entdecken gibt. Aus einem demnächst erscheinenden Band vorabgedruckt werden drei Huldigungsbriefe an Ernst Jünger, und zwar von den nicht unbedingt als Gesinnungsgenossen zu betrachtenden Kollegen Wolfdietrich Schnurre, Hubert Fichte und Heiner Müller. Anke Schipp schreibt zum Tod der Fotografin Sibylle Bergemann. Auf der Kinoseite porträtiert Daniel Haas den US-Komiker Zach Galifianakis.

Auf der Medienseite meldet Jürg Altwegg, dass laut Canard enchaine Sarkozy höchstpersönlich die Überwachung französischer Journalisten angeordnet haben soll: "Er habe mit dieser Aufgabe den Chef der innenpolitischen Nachrichtendienste, Bernard Squarcini, betraut. Squarcini sei dem Auftrag nur ungern nachgekommen, habe aber keine andere Wahl gehabt." (Mehr dazu im Standard) Burda setzt im Netz nicht mehr auf Journalismus, sondern auf Marketing, berichtet Don Alphonso.

Besprochen werden die deutsche Premiere von Michael Laubs Choreografie "Schauspielerinnen und solche, die es werden wollen" in Essen, die große Eadweard-Muybridge-Ausstellung in der Tate Britain, eine Live-Einspielung von Jörg Widmanns neuem Oktett, Lars Kraumes Apokalyptikum "Die kommenden Tage" ("ambitioniert", aber leider "gescheitert", bedauert Bert Rebhandl) und Bücher, darunter Annette Mingels' neuer Roman "Tontauben" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 04.11.2010

Man fragt sich, was beunruhigender ist: die Meldungen des Canard Enchaine, dass Sarkozy höchstpersönlich hinter den Abhörmaßnahmen bei französischen Medien steckt, oder der seltsame Umstand, dass die französischen Medien die Geschichte so klein fahren. Bei lemonde.fr findet man die Geschichte nur unter ferner liefen und in rue89 lautet der zahnlose Kommentar: "Nicolas Sarkozy ist total von den Medien besessen, wie wohl alle Politiker, aber ein solches Niveau ist selten erreicht worden."

SZ, 04.11.2010

Gottfried Knapp resümiert die Schanghaier Expo - und sieht sie trotz des großen Publikumserfolgs nicht gerade als zukunftsweisende Veranstaltung: "Innerhalb der Geschichte der Weltausstellungen markiert Schanghai einen Rückfall in Zeiten, als Weltausstellungen noch wie olympische Wettkämpfe empfunden und nach dem Prinzip Medaillenspiegel beurteilt wurden... Die Nationen der Welt wollten sich dem wichtigsten Geschäftspartner der nächsten Jahre und der touristisch noch kaum aktivierten chinesischen Bevölkerung möglichst vielversprechend anempfehlen... Aber wenn in Pavillons ganz unterschiedlicher Herkunft immer wieder junge schöne Menschen vor gepflegten Landschaften und Stadtbildern Glück mimen, verschwimmen die individuellen Eindrücke zu etwas Säuerlich-Süßem, das irgendwann Brechreiz erzeugt."

Weitere Artikel: Martin Krumbholz kommentiert den Theaterskandal, den die Düsseldorfer Inszenierung von Elfriede Jelineks "Rechnitz"-Stück mit (in München zuvor weggelassener) Kannibalen-Sättigungsbeilage ausgelöst hat: "Dass es überhaupt noch szenische Experimente gibt, die gründlich verstören können, ist eine eher gute Nachricht." Thomas Steinfeld meldet, dass die dänischen Rechtspopulisten in bestimmten Gegenden die Parabolantennen verbieten wollen, damit Sender wie Al-Dschasira nicht mehr in die Einwanderer-Wohnstuben gelangen. Nicht so ganz einverstanden ist Lothar Müller mit den Geboten zur übersetzerischen Übergenauigkeit, die die Don-Quijote-Neuübersetzerin Susanne Lange in ihrer Antrittsvorlesung als Gastprofessorin an der FU Berlin aufgestellt hat. Den tschechischen Film "Habermann", der erstmals fürs große Publikum die Vertreibung der Sudetendeutschen schildert, hat schon vor seinem Deutschlandstart Ende des Monats Klaus Brill gesehen - die Reaktionen in Tschechien sind gewaltig (und positiv). Gar nicht gern sieht es der Vatikan, wie Alexander Kissler meldet, dass durch eine Strukturreform im Bistum Aachen die Hierarchie zwischen Priestern und Laien nicht mehr klar genug ist. Rainer Gansera unterhält sich mit der Choreografin Helena Waldmann. Horst Bredekamp schreibt zum Tod des Philosophen John M. Krois. Von Nadine Barth ist der Nachruf auf die Fotografin Sibylle Bergemann.

Besprochen werden ein Münchner Public-Enemy-Konzert, Claus Guths "Götterdämmerung" an der Hamburger Staatsoper, Mariola Groener & Günther Wilhelms Choreografie "Am Bildaltar" beim Münchner Dance-Festival die Ausstellung "Marc Chagall. Lebenslinien" im Bucerius Kunstforum Hamburg, Olivier Assayas' Terrorismushistorienfilm "Carlos" (dazu gibt es auch ein Interview mit dem Regisseur) und Lars Kraumes Apokalypsefilm "Die kommenden Tage" (mehr).