Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2003. In der NZZ kritisiert Francois Zabbal die arabischen Intellektuellen. In der FAZ erinnert sich Ivan Nagel an seine erste Begegnung mit Theodor W. Adorno. In der FR meditiert Gianni Vattimo über Nächstenliebe in der Weltpolitik. Die SZ präsentiert eine kleine Schau der transatlantischen Beleidigungen.

NZZ, 22.02.2003

Ohne für einen Krieg gegen den Irak zu plädieren, kritisiert Francois Zabbal vom Pariser Institut du monde arabe die europäische Friedensbewegung, aber auch die arabischen Intellektuellen: "Nicht unähnlich den europäischen Linken, die sich erst spät von ihren kommunistischen Ikonen trennen mochten und in den siebziger Jahren jede Volksrevolution bejubelten, wenn sie nur fern genug stattfand, haben die Moralprediger der arabischen Intelligenz nie davon abgelassen, Saddam Hussein ihre Reverenz zu erweisen und hervorzuheben, wie seine Langstreckenraketen dem Arabertum schlechthin den Rücken stärkten." Zabbal ist Chefredakteur der Zeitschrift Qantara.

Andrea Köhler trifft in New York den Autor Jonathan Safran Foer, dessen komischer Roman "Everything is Illuminated" (Leseprobe) in der New York Times Book Review in den höchsten Tönen gefeiert wurde. Marta Kijowska unternimmt einen Strefzug durch die polnische Literaturszene. Anlässlich des Rücktritts von Ingo Metzmacher stellt Joachim Güntner fest, dass "Hamburgs Hochkultur der politische Rückhalt fehlt". Hanno Helbling kommentiert jüngst publizierte Briefe der jüdisch-katholischen Philosophin Edith Stein und des Jesuiten Friedrich Muckermann an Papst Pius XI., die neues Licht auf das Verhältnis der Kirche zu den Nazis und zur Judenverfolgung werfen.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten Luigi Caccia Dominioni in Verona und Pierre Bourdieus letztes Buch, ein "soziologischer Selbstversuch" (siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr).

Literatur und Kunst veröffentlicht den Gedenkvortrag, den Jacques Derrida jüngst in Heidelberg für Hans-Georg Gadamer hielt: "Kann ich hier vor Ihnen meine Bewunderung für Hans-Georg Gadamer überhaupt angemessen und wahrheitsgetreu wiedergeben? Sie ist vor so langer Zeit aus Respekt und Zuneigung zu ihm entstanden, und in sie mischt sich dunkel eine uralte Melancholie." Uwe Justus Wenzel schreibt eine kleine Einführung zum Verhältnis, das der Hermeneutiker und der Dekonstruktivist zueinander unterhielten.

Helmut Mayer erinnert an den Präparator Honore Fragonard, dessen berühmter Reiter aus der Ecole veterinaire in Maisons-Alfort die plastifizierten Leichen Gunther von Hagens' vorwegnimmt. Urs Steiner unterhält sich mit Francesco Bonami über seine Pläne für die kommende Biennale von Venedig. Harm Klueting denkt über "200 Jahre Reichsdeputationshauptschluss und Säkularisation" nach, die eine wichtige Etappe auf dem Weg der Schweiz zu sich selbst darstellten. Christian Saehrendt erinnert an gescheiterte Denkmalprojekte für Friedrich Nietzsche in Sils Maria. Besprochen werden einige Bücher, darunter die bisher nur auf englisch erschienene Studie "Metamorphosis and Identity" von Caroline Bynum.

FAZ, 22.02.2003

Heinrich Wefing liest das (zur Zeit im Spiegel vorabgedruckte) Buch "The Threatening Storm" von Kenneth Pollack, das zu den interessantesten Lektüren zum Irak zählt und - so Wefing - für den Krieg plädiert. "'The Threatening Storm' ist vor der Rückkehr der Inspektoren in den Irak erschienen. Das hat dem Erfolg des Textes keinen Abbruch getan, der zu den meistdiskutierten der Saison zählt, schwächt aber ein wenig seine Überzeugungskraft. Denn Pollacks These, die Weltgemeinschaft werde sich nicht aufraffen können, das Inspektionsregime im Irak wiederzubeleben, hat sich als falsch erwiesen, und natürlich stellt diese Fehleinschätzung auch alle anderen Annahmen in Frage. Doch dieser Haarriss in der Argumentationskette wird überdeckt von der Präzision anderer Vorhersagen. Bisweilen macht es frösteln, wie akkurat Pollack die Eskalationslinien auszuziehen weiß. 'The Threatening Storm' liest sich streckenweise wie ein Drehbuch der Krise, die wir seit Wochen durchleben." Wefings Artikel ist im FAZ.Net freigeschaltet. Das erste Kapitel des Buchs ist hier zu lesen. Einen ausführlichen Artikel von Pollack zum Thema finden wir hier. Ferner verweisen wir nochmals auf Brian Urquharts Besprechung des Buchs in der New York Review of Books.

Ivan Nagel erinnert sich in einem wunderschönen Artikel an die Zeit, als er nach Deutschland kam, und an seine erste Begegnung mit Adorno: "Im Sommer 1952 fuhr ich von Heidelberg nach Darmstadt, um ein Vortragskonzert auf der Mathildenhöhe zu hören. In der Pause sah ich Adorno zum ersten Mal. Heute noch sehe ich, über die vielstufige Freitreppe erhoben, das Plateau vor dem Olbrichschen Jugendstilportal. Ich sehe es nicht in einer späteren Erinnerung, sondern ganz umrissklar an jenem einen Tag: Adorno im Gespräch mit einer jungen Gruppe, vermutlich Musikern. Er trug, dem strahlenden Sommertag gemäß, einen weißen Leinenanzug. Weißer noch war, dem Sonnenwetter ungemäß, die seidenpapierdünne Haut seines Gesichts. Sie sprach von der Lebensform eines Stubenhockers und Bücherwurms; das flößte mir, zusammen mit dem Privaten, ganz und gar nicht Amtsträgerischen seiner Züge, Mut ein."

Einen interessanten Kulturartikel finden wir im Wirtschaftsteil. "Die Musikbranche verspielt ihre Zukunft", konstatiert Marcus Theurer anlässlich der bevorstehenden Grammy-Verleihung. "Die Superstars der Musikindustrie sind, kommerziell gesehen, nur noch Schatten früherer Jahre. Inzwischen verkauft in den Vereinigten Staaten der erfolgreichste Künstler des Jahres nur noch gut halb so viele Alben wie noch vor vier Jahren. Hierzulande hat die Musikindustrie seit 1999 gut ein Viertel ihres Geschäfts verloren."

Zurück ins Feuilleton: Mark Siemons berichtet über eine Aktion der Künstlerin Saskia Draxler, die im Forum-Hotel am Alexanderplatz, einem Turm aus DDR-Zeiten für 50 Tage einen "Hubert-Fichte-Hotel-Room" angemietet hat, wo man sich einchecken und in aller Ruhe die Werke des Autors lesen kann. Christian Geyer kommentiert eine Meinungsumfrage, in der sich herausstellt, dass das Vertrauen der Gläubigen in die Kirche schwinde. Andreas Platthaus denkt über die Folter-Diskussion nach, die im Fall des entführten Jakob von Metzler aufgekommen ist - dem Entführer war Folter angedroht worden, damit er das Versteck des Kindes preisgibt. Caroline Neubaur gratuliert dem Psychoanalytiker Bela Grunberger zum hundertsten Geburtstag. Joseph Croitoru liest in seinem Blick durch osteuropäische Zeitschriften unter anderem ein Heft von Transit, das die Stimmung und Lage in der Ukraine beleuchtet. In der Reihe "Wir vom Bundesarchiv" stellt Jürgen Real einen Brief Thomas Manns an Erich Koch-Weser, einen Politiker der Weimarer Zeit vor. Andreas Rossmann kommentiert Gerard Mortiers Herbst-Programm für die Ruhr-Triennale ("Vieles, was im Herbst avisiert wurde, musste gestrichen, das Programm abgespeckt, die Erwartung von zweihunderttausend Besuchern halbiert werden und Kulturminister Michael Vesper sich vorrechnen lassen, dass bisher jede Eintrittskarte mit 1500 Euro gefördert wurde.") Gerhard Rohde macht uns auf ein Bonner Treffen des Deutschen Musikrats aufmerksam, wo die Zukunft der Institution nach ihrer Insolvenz geklärt werden muss.

Auf der Medienseite berichtet Joseph Hanimann über die Aktion des Revolverblatts The Sun, das Jacques Chirac als Wurm darstellte und die Ausgabe in Paris kostenlos verteilte. Heinrich Wefing hat sich Martin Bashirs Fernsehinterview mit Michael Jackson angesehen. Michael Hanfeld meldet, dass Joachim Fests Buch über Hitlers letzte Tage im Auftrag der ARD verfilmt wird.

Besprochen werden eine Carl-Spitzweg-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und ein Konzert des Folkrocksängers Richard Thompson und Bücher, darunter Yann Martels "Schiffbruch mit Tiger" (mehr hier) und Pawel Huelles "Mercedes Benz".

In den Ruinen von Bildern und Zeiten lässt Andreas Kilb die Friedrich-Murnau-Retrospektive der Berlinale Revue passieren.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans-Joachim Jans-Joachim Simm ein Gedicht Paul Celans vor - "Die Krüge":

"An den langen Tischen der Zeit zechen die Krüge Gottes. Sie trinken die Augen der Sehenden leer..."

FR, 22.02.2003

Der italienische Philosoph und Gadamer-Schüler Gianni Vattimo klärt uns im Gespräch nicht nur über die Nächstenliebe in der Politik auf, sondern äußert sich auch zu einer zukünftigen Welt, in der es keine Staaten mehr gibt. "Ich bin lange der Vorstellung nachgehangen, dass Europa als künstliches Gebilde das Modell eines Weltstaates sein könnte, wie ihn Kant entworfen hat, eine Art bessere UN. Heute zweifle ich daran. Ich frage mich, ob ein politisches Gebilde, das die Freiheit bejaht, nicht auch einer gewissen Begrenzung durch andere Mächte bedarf. Ich beginne ernsthaft zu glauben, dass eine multipolare Welt, die, wenn auch nicht gerade aus kleinen Nationen, aber, sagen wir, aus drei, vier großen Blöcken besteht, pazifistischer und freier sein kann als eine unipolare Welt. Vollständig integrierte Systeme haben eine totalitäre Tendenz."

Zeit und Bild ist heute ganz und gar Hans Thills ausgiebiger Würdigung des französischen Dichters und Schriftstellers Raymond Queneau (mehr hier) vorbehalten, dem Meister des "dritten Französisch", der vor hundert Jahren geboren wurde. Seine Kindheit beschrieb er selbst so: "Dann gab man mich fort im Morgendämmer / ich war mir keiner Schuld bewusst / zu einer Fremden, geizig, behämmert, / einer Amme, sie gab mir die Brust. // Ob mir dieser Milchschlauch schmeckte? / Ich nehme es nicht an: / das birnenförmige Etwas an dem ich da leckte / das weibliche Organ."

Weiteres: Gabriella Vitiello berichtet über das Reformprogramm, das italienische Intellektuelle in 24 Essays in der Zeitschrift MicroMega vorgestellt haben, gegen Berlusconi und dessen "Kultur der Illegalität, gegen die Vettern- und Privilegienwirtschaft und gegen den fachlichen Dilettantismus". Detlef Kuhlbrodt grüßt fröhlich aus dem Jammertal und versucht uns darauf vorzubereiten, wenn die Krise vorbeischaut und die Coolness verschwindet. Renee Zucker enthüllt in ihrer Zimt-Kolumne, dass sie die vergangenen drei Wochen in Asien verbracht hat und dort auf philosophiebefördernde Verdauungsprobleme stieß. Gemeldet wird, dass deutsche Künstler ihre 1996 in Berlin gestohlenen Zeichnungen und Gemälde nun zurückbekommen - aus der Schweiz.

Auf der Medienseite erspäht Jenny Niederstadt immer mehr Schleichwerbung in den Fernsehshows. Eva Schweitzer erlebt in New York, wie die US-Medien sich auf die "undankbaren Franzosen" einschießen.

Besprochen werden "Die sexuellen Neurosen unserer Eltern" von Lukas Bärfuss und deren Uraufführung in Basel, Karoline Grubers Inszenierung von Claudio Monteverdis Oper "L' incoronanzione di Poppea" in Hamburg, und Bücher, darunter Peter Nadas vollkommene Verbindung von Bild und Text in "Der eigene Tod", zwei neue Bücher zum Werk von Gershom Scholem und eine bibliophile Reproduktion von Else Lasker-Schülers Künstlerbuch "Theben" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr ).

Auch das Magazin scheut den Konflikt nicht und hat deshalb Norbert Walter und Bruder Paulus miteinander streiten lassen. Der Chefökonom der Deutschen Bank und der Kapuzinermönch reden über Sozialismus, die Krise und den Luxus und gehen dabei immerhin ein bisschen aufeinander los. Der Vertreter des Glaubens sagt dann etwa: "Reichtum ist ein Statussymbol. Materieller Reichtum macht blind, das ist meine Meinung." Und der Kapitalist hält dagegen. "Ich bin in meinem Lions-Club sehr engagiert. Wir haben mehrere solcher Projekte."

Außerdem: Philipp Kohlhöfer hat die Hamburger Versionen von Brad Pitt und Edward Norton aufgespürt und einen Abend in einem Fight Club verbracht, wo sich Freiwillige vor wettenden Zuschauern bis aufs Blut prügeln (hier das cineastische Original). Zu guter letzt verkündet das Magazin die Rückkehr der Friedenslieder und belegt das mit gleich vier Beispielen, etwa Konstantin Weckers Waffenhändler-Tango, dessen Refrain wir ihnen nicht vorenthalten wollen. "Man kann das nennen wie man will, humanitärer Overkill, heiliger Krieg, gerechte Sache,die Fahne hoch, dass ich nicht lache."

TAZ, 22.02.2003

Das tazmag bringt einen Vorabdruck von Susanne Fischers Erzählband "Unter Weibern", in dem sie nicht nur, wie wir hoffen, die Geburt ihrer Tochter schildert. "Mein Unterleib war Gulasch, und ich schwitzte wie ein überforderter Oberkellner, obwohl der Oktober schon weit fortgeschritten war. (...) Das Wesen guckte wie ein müder alter Frosch. Einen Namen hatte es noch nicht, weil 'müder alter Frosch' in Deutschland kein zugelassener Mädchenname ist, und ein besserer fiel mir nicht ein."

Franz Burda, Alt-Verleger von Bunte & Co, wäre heute hundert Jahre alt geworden. Grund genug für Peter Köpf, ein wenig in der Vergangenheit des "erfolgreichen Opportunisten" zu stöbern. "In der Wirtschaftswunderzeit hatten deutsche Kapitalisten noch ein Gewissen. Seinen Wohlstand zeigte Franz Burda nicht öffentlich; selbst nachdem er seine erste Million längst gemacht hatte, fuhr er einen alten VW Käfer. Bescheiden war er deshalb noch lange nicht. Und unschuldig schon gar nicht."

Weitere Artikel im Magazin: Katrin Zeiss begibt sich auf die Spuren des ersten deutschen Konzentrationslagers im thüringischen Nohra, einer Anlage, von der "niemand weiß und niemand wissen will". Bernd Festerling und Charly Kowalczyk erzählen vom neuen Viagra-Konkurrenten Levitra (mehr hier und hier, ein Überblick über die Vorläufer hier) und der Angst der Männer, sich zu outen. Jan Feddersen spricht mit Manager Hans R. Beierlein, der viele von Deutschlands singenden Stars fabriziert. Feddersen plaudert zudem mit Carsten Pape, einst Postbote, Friedhofsgärtner, Punk - und jetzt beim Grand-Prix-Vorentscheid dabei.

Fast ausschließlich Rezensionen im Feuilleton heute, Jan Engelmann blättert in einem Fanzine namens "eigentümlich frei", das zwar mit Che Guevara auf der Umschlagseite aufwartet, aber trotzdem mit den 68ern abrechnet. Besprochen werden außerdem die katholische Show der isländischen Band Sigur Ros in Berlin, Christine Jeffs Debütfilm "Rain" und Bücher, darunter Heinz Emigholzs Tagebuch "Das Schwarze Schamquadrat" (mehr in unserer Bücherschau sonntags ab 11 Uhr).

Auf der Medienseite porträtiert Martin Weber den Wasserträger Sven-Olav Schmidt, der gerne Fruchtgummi-Designer geworden wäre und heute als Requisiteur der Harald Schmidt Show dem Protagonisten das Wasser hinstellt.

Und schließlich Tom.

SZ, 22.02.2003

Heute morgen stand die SZ noch nicht im Netz, deswegen fassen wir sie unverlinkt zusammen.

Jeder Stoß ein Franzos', jeder Tritt ein Britt - von solch griffigen Parolen sind wir noch weit entfernt, stellt Alex Rühle in seiner kleinen Schau der transatlantischen Beleidigungen fest. Einige der wechselseitigen Sticheleien hätten aber durchaus Potenzial, wie etwa dieser Vorstoß von Mark Steyn in der Jewish World Review: "Auf die Liste der politischen Gebilde, die dazu ausersehen sind, im Urinal der Geschichte heruntergespült zu werden, müssen wir auch die EU und Frankreichs Fünfte Republik setzen."

Vor sechzig Jahren wurde die junge NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl hingerichtet, die SZ bringt einen kleinen Schwerpunkt: Dagmar Bodenstein schreibt wider das Vergessen, während Claudia Lanfranconi sich Gedanken zu einer zeitgemäßen Ästhetik des Erinnerns jenseits der Walhalla macht. Zu lesen sind außerdem Auszüge des Briefverkehrs von Sophie Scholl und Fritz Hartnagel, etwa dieser Rat der 21-Jährigen an den Frontsoldaten: "Un esprit dur, un coeur tendre!"

Weiteres: Rainer Erlinger schimpft über die Melange von Realität und Fiktion, mit der regelmäßig die Angst vor einer Pockenepidemie geschürt wird. Wolf Lepenies hat einen Leitartikel des aus Deutschland emigrierten Max Rychner nocheinmal gelesen, der die Deutschen nach dem Austritt aus dem Völkerbund im Oktober 1933 vor der Isolation warnte, und Parallelen zu den USA entdeckt. Tim Müller stellt uns in der Reihe der Briefe aus dem 20. Jahrhundert ein Schreiben von 1946 vor, in dem Herbert Marcuse Max Horkheimer bedrängt, doch die 1943 eingestellte Zeitschrift für Sozialforschung wiederzubeleben.

Wolfgang Kil sieht in den schrumpfenden ostdeutschen Städten das globale Signal für das Ende einer Epoche und erklärt die Industriebrachen zu künftigen Paradiesen. Alexander Kissler stellt uns den Biologen Rene Röspel vor, der Vorsitzender der bioethischen Enquetekomission des Bundestags wird. Oliver Fuchs hat nicht viel zu berichten von den Brit Awards: ein bisschen Politik und weit und breit keine Skandale. "egge" geißelt die neue hessische Verwaltungssteuerung, nach der Kulturgüter künftig als Aktivgüter in den Bilanzen gehandelt werden sollen und damit für die Sanierung des Haushalts herangezogen werden können. "awi" referiert das Programm von Gerard Mortiers Ruhrtriennale für das laufende Jahr. Martin Z. Schröder schreibt auf der Literaturseite von einer Berliner Lesung mit Georg Klein und Tobias O. Meißner, die etwas in "kollegialem Genuschel" unterging.

Auf der Medienseite berichtet Juan Moreno, dass Berlin Thomas Gottschalk und sein "Wetten, dass...?" fest an die Hauptstadt binden möchte. Gerti Schön informiert uns über den amerikanischen Talkmaster Bill O'Reilly, bei dem die Deutschen und andere Weicheier "nichts zu lachen" haben. Peter Köpf würdigt den "König der Blättle" Franz Burda, der Tiger und Prinzessinnen mochte und vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden nur Bücher, etwa Felicitas Hoppes Ritterroman "Paradiese, Übersee", ein Fotoband mit Kinderporträts von Emil Brunner aus dem Jahre 1943 oder Dietrich Fischer-Dieskaus Buch zu Leben und Werk von "Hugo Wolf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die SZ am Wochenende erfreut uns mit einem langen Gespräch mit Walter Jens, in dessen Verlauf er und Willi Winkler neben Fußball auch auf die Genesis und die Privilegien der Intellektuellen zur Zeit von Brandt und Böll zu sprechen kommen. "Damals waren sie im Bunde mit einer Partei, auf die weitgehend Verlass war, und sie hattten einen großen Teil der Presse für sich. Das ist der Unterschied zu heute. Wo soll ich denn schreiben? Soll ich darauf eingehen, wenn es heißt, Martin Walser hat Kurioses über meine Frau geschrieben? Da bleibt zum Glück die Tinte trocken. Der einzige, der einmal im Jahr anfrägt, ist Paul Sahner, der einen Rückblick in der Bunten haben will."

Außerdem: Holger Gertz bricht eine Lanze für den Nonsens, die reinigende Kraft eines Witzes und all die geschmähten Provokateure in den Medien. "Vielleicht kann man einfach sagen, dass es lustig ist". Peter Müller und Michael Mueller beschreiben, wie der des Mordes an seiner Freundin angeklagte Dieter Riechmann gegen seine Hinrichtung in den USA kämpft. Tanja Rest beobachtet, wie Benetton sich auf seine Stärken besinnt und jetzt wieder mit sozialen Missständen Werbung macht. Rainer Stephan erinnert an die Autorin Sarah Kane (mehr hier), die sich vor vier Jahren das Leben nahm. Und Hans Pleschinski nimmt sich im zehnten Teil der Reihe über Deutsche Landschaften die Ost-Heide vor.