Aleida Assmann
reagiert ziemlich kritisch auf einen Essay von
Ivan Krastev und
Stephen Holmes, in dem die beiden Politikwissenschaftler ein
akutes Anerkennungsdefizit der postsozialistischen Staaten diagnostizieren (
hier auf Englisch). Bevormundet vom "liberalen" Westen konnten sie demzufolge nach dem Ende der sowjetischen Ära ihren Nationalstolz nicht ausleben. Tappen die Autoren damit nicht in die Falle ihrer eigenen Geschichtskonstruktion?, fragt Assmann. Warum spielen die Menschenrechte keine Rolle in ihrer Erzählung zu 1989? "Den Kalten Krieg haben nicht nur die Amerikaner gewonnen, sondern auch jene europäischen Politiker, die 1975 die
Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatten, und es war nicht nur der Kapitalismus, sondern es waren gerade auch
die osteuropäischen Dissidenten, die sich auf die Menschenrechte beriefen und damit das Ende des Ost-West-Konflikts eingeleitet haben. Das hat der Menschenrechtsaktivist
Gáspár Miklós Tamás kürzlich bestätigt, der unter Ceauşescu in Rumänien gelebt hat: 'Viele Politologen sprechen davon, dass der Systemwechsel von außen und von oben kam. Unsinn. Den Systemwechsel hat zwar nicht das ganze Volk gemacht, aber wir waren damals zwei, drei Millionen Menschen, es gab Klubs, Debatten, Versammlungen, Demonstrationen, es gärte unglaublich in der Gesellschaft. Dieser unbändige Freiheitswille von 1989, dieses
Freiheitspathos, das war ein Augenblick von sehr großer Schönheit. Das bleibt.' Nichts davon bleibt jedoch, wenn wir dem Narrativ vom
Nachahmungsimperativ folgen. Der Kampf um die Menschenrechte vor 1989 ist aber gerade deshalb ein so wichtiges Kapitel in der Geschichte der EU, weil die Ostblockstaaten eben nicht, wie es die Geschichte der Sieger will, mit dem westlichen Gut der Demokratie 'beschenkt' beziehungsweise
kolonial überrannt und überwältigt worden wären, sondern weil sie dieses Gut selbst erkämpft und damit ihre eigene Utopie in die Europäische Union eingebracht haben." Assmann glaubt allerdings auch, dass die Osteuropäer eine schwere Kränkung erfahren haben, nur sei diese anders gelagert: "Denn was die ost- und mitteleuropäischen Dissidenten erkämpft und erhofft hatten, war
eine liberale Demokratie; doch was sie tatsächlich bekommen haben, war
eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die der Globalisierung des Kapitals neue Räume erschloss."