Magazinrundschau - Archiv

Merkur

228 Presseschau-Absätze - Seite 5 von 23

Magazinrundschau vom 07.01.2020 - Merkur

Heute wird Kultur oft als Gegenpol zur Migration gesetzt, als wäre sie das verlässlich Bleibende gegenüber dem stetig unzuverlässigen Wandel. Doch aus dem Blickwinkel der Deep History ergibt sich für den Wissenschaftsphilosophen Oliver Schlaudt eine ganz anderes Bild: Erst die Migration hat den frühen Menschen abgenötigt und ermöglicht, sich einen Vorrat an Techniken anzueignen, mit dem sie auf Veränderungen reagieren kann: "Das Rätsel, wie sich der Mensch in seiner langen Migrationsgeschichte neue Habitate erschließen konnte, löst sich nun auf. Mit dem Auftauchen von Kultur begegnen die frühen Menschen der Natur nicht mehr einfach mit einem unveränderbaren Organismus (beziehungsweise einem Organismus, der sich nur auf der unendlich langsamen Skala der Evolution verändert), sondern durch eine variable Kultur. Mit den schneidenden Kanten steinerner Abschläge, die bereits vor über drei Millionen Jahren auftreten, wurden große Tierkadaver als Nahrungsquelle zugänglich. Mit den - sehr viel jüngeren - Jagdwaffen war der Mensch nicht mehr darauf angewiesen, Aas zu finden oder Raubtiere von ihrer Beute zu vertreiben, sondern konnte nun selbst jagen. Auch mit dem Feuer vermochten Menschen sich als Nahrungsquelle zu erschließen, was vormals unerreichbar oder wertlos war. Die Kultur bildet einen Puffer zwischen dem menschlichen Organismus und seiner Umwelt. Sie transformiert die ökologische in eine kulturelle Nische."

Magazinrundschau vom 03.12.2019 - Merkur

Leider in einem etwas absurden Sprachenmix, aber doch sehr lesenswert eruiert der Politikwissenschaftler Philip Manow, ob der Populismus heute ein Symptom für eine Krise der Demokratie oder eine Krise der Repräsentation ist. Seine These: Im 18. und 19. Jahrhundert war der Pöbel ökonomisch, politisch und ästhetisch strikt vom Volk unterschieden. Die moderne Demokratie versagt niemandem die gleichen Rechte und die Teilhabe: "Ansonsten aber muss diskursiv ausgeschlossen werden, was sozial längst eingeschlossen ist, durch ein Regime des Sagbaren und des Unsagbaren. Die Demokratie selber hat dafür keine eigenen Stoppregeln, zumindest keine prinzipieller, sondern nur solche praktischer Art. Deren Funktionskrise erleben wir gerade - aber anders verstanden als üblicherweise: nicht in dem Sinne, dass etwas Vorhandenes nicht mehr angemessen repräsentiert wird, sondern in dem Sinne, dass etwas immer Vorhandenes sich heute durch Repräsentation nicht mehr effektiv unterdrücken lässt. Repression by representation funktioniert nicht mehr wie gewohnt, die Disziplinierungsfunktion der Demokratie lässt nach."

Zu spät, ruft Moritz Rudolph den Rechtspopulisten im Osten zu, die sich hinter Pegida oder dem AfD-Slogan "Vollende die Wende" scharen: "Der Osten versucht sich also noch einmal an jener Revolte, um die er sich damals leichtfertig bringen ließ. Die Tragik besteht aber darin, dass der Augenblick, in dem sie möglich war, vorbei ist und sich nicht künstlich wiederherstellen lässt. Es gab nur diesen einen geschichtlichen Moment, aber den ließ man ungenutzt verstreichen. Seither geistert die Revolte als Zombie durchs Land und findet keine Erlösung."

Magazinrundschau vom 05.11.2019 - Merkur

Warum wurde und wird eigentlich der Antisemitismus der Brüder Grimm so beharrlich in Abrede gestellt oder minimiert, fragt der Schriftsteller Gerhard Henschel und stellt in erschreckender Folge judenfeindliche Zitate von Jacob und Wilmhelm Grimm den Beschwichtigungen ihrer Adepten gegenüber. Das beginnt etwa so: "Heinz Rölleke, der hochverdiente Nestor der Märchenforschung, schrieb 2007 in einem Aufsatz, man sage den Brüdern Grimm 'zuweilen unbesehen, einigermaßen töricht und ganz zu Unrecht' Antisemitismus nach. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Rölleke selbst Wilhelm Grimms Wiesbadener Kurtagebuch von 1833 herausgegeben hat, in dem es heißt: 'Ich bemerke nur daß die Juden immer mehr überhand nehmen, ganze Tische u. Plätze sind damit angefüllt, da sitzen sie mit der ihnen eigenen Unverschämtheit, fressen Eis u. legen es auf ihre dicken u. wulstigen Lippen, daß einem alle Lust nach Eis vergeht. Getaufte Juden sind auch zu sehen, aber erst in der 5ten oder 6ten Generation wird der Knoblauch zu Fleisch.'"

Weiteres Sonja Asal denkt vor Windrädern im Schwarzwald darüber nach, ob nicht auch Landschaft Schutz genießen sollte. Danilo Schulz rekapituliert in einem langen Essay die französische Kolonialpolitik, die im Gegensatz zur Sklaverei viel später abgeschafft und auch heute noch weniger kritisch reflektiert wird.

Magazinrundschau vom 08.10.2019 - Merkur

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Der Historiker Valentin Groebner hat sich in diesem langen Sommer im Freibad viele Gedanken über Tätowierungen machen können. Ihm ist zum Beispiel aufgefallen, dass Tattoos nicht Revolte, sondern Zugehörigkeit signalisieren, aber auch, dass ihre Bedeutung im Auge des Betrachters liegt. Die Frage, ob der tätowierte Mensch frei ist, mag Groebner nicht abschließend beantworten: "Alles, auch das Banalste, wird groß, schwer und bedeutungsvoll, wenn es unauslöschlich unter die Haut geschrieben wird. Tätowieren verändert die eigene Vergangenheit dadurch, dass sie nachträglich zeichenhaft gemacht und in ein etwas unheimliches Futur II überführt wird: Wie ich gewesen sein werde. Die Tätowierten, geht mir im Freibad der friedlichen Schweizer Kleinstadt auf, sind so gesehen Gefangene - gezeichnete Gefangene ihres eigenen Bedürfnisses nach Selbstdarstellung und Niemals-Vergessen, lebenslang. 'Glück' hatte eine junge Frau mit Hornbrille und markantem asymmetrischem Haarschnitt in blaugrünen Buchstaben auf ihren Nacken tätowieren lassen. Die Aufforderung 'be unique' habe ich auch schon gesehen, zweimal."

Thomas E. Schmidt verteidigt den internationalen Kunstmarkt gegen seine Verächter, die Kunst lieber in der öffentlichen Hand sehen. Unter staatlichem Schutz entstehe keine neue Kunst, meint Schmidt ein wenig apodiktisch, weder als Leitkultur noch als Sozialstaatsprojekt: "Globale Kultur und globale Öffentlichkeit - sieht man einmal vom schmalen Sektor des staatlich organisierten Austauschs ab - entwickeln sich derzeit in einer Sphäre des privaten Rechts. Genau das führt der Kunstmarkt mit seinen Preisen vor. Aber eben nicht als Furie des kulturellen Verschwindens, sondern als Quelle neuartiger sozialer und ästhetischer Phänomene."

Magazinrundschau vom 03.09.2019 - Merkur

Matthias Rothe prescht durch vierzig Jahre DDR-Literatur. Zwischen Erbauung und Völkerfreundschaft, Ermüchterung und destruktivem Verwalten, findet er die interessantesten Bücher in den sechziger und siebziger Jahren, als der Alltag zur Lebenswelt wurde und die Individuen mit der Gesellschaft in Konflikt gerieten: "Auch all das andere, was in der Produktionseuphorie besinnungslos mitgeschleppt wurde oder unbeachtet geblieben war, kommt nun literarisch zur Sprache: zum Beispiel der gewöhnliche Faschismus, die Mitläufer, Kleintäter, die marginalisierten Opfer und auch der alltägliche Widerstand, der nirgendwo aufgezeichnet ist... Vom Alltag aus, mit seinen kleinsten Gesten, stand also immer das Ganze, stand der Aufbau der DDR, das Projekt des Sozialismus auf dem Prüfstand. Die Utopie war der Kunst immer gegenwärtig, blieb lange zum Greifen nah. Das ist ein entscheidender Unterschied zur Kunst in der Bundesrepublik, die in den 1970ern natürlich die gleichen Themen entdeckte. Die DDR-Kunst operierte weitestgehend im Modus immanenter Kritik. Es ging nicht gegen den Staat, das System usw., sondern um die Rettung des Ganzen. Die Autoren und Autorinnen blieben selbst in radikaler Kritik dem Projekt DDR (Sozialismus plus Antifaschismus) zutiefst verbunden, zumeist noch im westlichen Exil. 'Man kann machen, was man will, man steht in einer Tradition, aus der man nicht heraus kann, ich bin hier geboren, dies ist mein Land, ich bin daran gefesselt in Hass-Liebe', schreibt Irmtraud Morgner an einen Freund nach dem Verbot ihres Romans Rumba auf einen Herbst (1965)."

Weiteres: Hanna Engelmeier umkreist die jüngste der regelmäßig aufploppenden Kanon-Debatten. In einem Leserkommentar zum Text plädiert dagegen ein Fritz Iff für einen deskriptiven Ansatz, der die einflussreichsten Werke anhand ihrer tatsächlichen Wirkmacht erklärt: "Die Arbeit an einem deskriptiven Kanon geht natürlich nicht in einer Woche, sondern würde wohl gute zehn Jahre beanspruchen - das wäre aber immer noch viel weniger Zeit, als mit den Bauchgefühl-Debatten vertan wurde und wird."

Magazinrundschau vom 17.09.2019 - Merkur

Einen großen Roman hat der amerikanische Horrorschriftsteller H.P. Lovecraft nie geschrieben, sein vor allem aus Kurzgeschichten und Novellen bestehendes Werk erschien in den Zwanzigern und Dreißigern in Pulpmagazinen auf billig-grauem Papier. Dennoch erweist es sich als erstaunlich vital und erfreut sich immer wieder neuer Kontextualisierungen vor allem auch der Theorie, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Eva Geulen in einem Essay aus dem aktuellen Merkur, den ZeitOnline zugänglich gemacht hat. Lovecrafts Konzept des kosmischen Grauens, das den Budenzauber von Spinnweben und wallenden Gewändern durch ein Gefühl des Verloren-Seins inmitten des indifferenten Kosmos ersetzt, erweist sich bis heute als anregend: "Hyperobjekte sind Dinge, deren Ausmaß unsere Fassungskraft übersteigt, die keine verlässliche Form haben und sich der Unterscheidung von Natur und Kultur entziehen. Das Klima ist ein solches Hyperobjekt. Und 'Die Farbe aus dem All' ist auch eins. Unter diesem Titel hat sich Lovecraft in einer seiner vielleicht besten Erzählungen einem Gegenstand zugewandt, der schon die noch von keinem theoretischen Selbstzweifel angenagte Philosophie von Leibniz über Kant und Goethe bis Wittgenstein irritiert hat. Ist Farbe eine Sache subjektiver Wahrnehmung, oder hat sie objektive Substanz? Farbe ist gewiss kein Begriff, sondern eher ein Ding, das aber erst an anderen Dingen überhaupt ein Ding zu werden scheint. Farbe ist eigentlich ein Unding beziehungsweise ein Hyperobjekt. In Lovecrafts Erzählung kommt die Farbe als sich rasch in nichts auflösende heiße und verformbare Blase mit einem Meteoriten auf die Erde und sorgt dann auf unheimliche Weise für die 'Vergrauung' aller normalen Vegetation im Umkreis des Einschlags. ... Auch die Menschen fallen den Veränderungen zum Opfer und sind zum Todeszeitpunkt nicht mehr als menschliche Wesen erkennbar... Minus den Überbietungsfuror ist das der Stoff, aus dem auch die neuen Ökologien gemacht sind. Donna Haraway, Verfasserin des berühmten 'Cyborg Manifests' (1985), das Bruno Latour wiederholt in seinen 'Gaia-Lectures' (2017) zitiert, fordert in Anspielung auf Lovecrafts tintenfischartige Monster 'tentacular thinking'. Sein Cthulhu-Mythos wird in ihrem jüngsten Buch 'Unruhig bleiben - Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän' (2018) zum Epochenbegriff erhoben."

Magazinrundschau vom 06.08.2019 - Merkur

Wer sagt eigentlich, dass Europa ganz selbstverständlich mit Liberalismus und Emanzipation einhergeht? Und wer glaubt noch an jene geschichtsphilosophische Sicht, derzufolge die Menschheit sich stetig zur global geeinten Gattung entwickelt? Moritz Rudolph jedenfalls nicht. Für ihn oszilliert die Globalisierung seit dem 15. Jahrhundert zwischen Expansion und Kontraktion, auf jede Öffnung folgten Rückzug und Abschottung, wenn auch nicht unbedingt im selben Zuschnitt: "Der nächste Nationalismus könnte supranational-europäisch sein und sich als Antinationalismus camouflieren. Seine geschichtsphilosophische Funktion ist jedoch noch immer dieselbe: Er unterbricht den Welteinigungsprozess, schließt einen partikularen Raum ab und wendet sich scharf nach außen.... Die europäische Rechte befindet sich damit ganz auf der Höhe der kontrahierenden Zeit, und wenn sie sich einmal auf Europa als Aktionsraum geeinigt hat, wird sich alles Weitere schon finden. Noch bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Rechtsparteien: Salvini will mehr Schulden machen, die AfD will ihm das verbieten; Le Pen ist für die Verteidigung des Wohlfahrtsstaats, die Mehrheits-AfD will ihn weiter abbauen; die AfD bejubelt den gemeinsamen Binnenmarkt, Le Pen will ihn einschränken; die AfD ist Klimaskeptikerin, Le Pen schwingt sich zur Großökologin auf; Wilders gibt sich israelfreundlich, antiimperialistische Rechte halten es dagegen mit dem palästinensischen Befreiungskampf, den sie zugleich gegen das internationale Finanzjudentum führen wollen; westeuropäische Rechte schwärmen für Russland, osteuropäische hassen die Russen. Viele Politikwissenschaftler drehen aus diesen Widersprüchen ihre Beruhigungspillen und bezeichnen das neue Bündnis, das es, wie sie selbst zugeben müssen, so noch nicht gab und daher Beachtung verdient, als 'wackelig'. Die Rechte, das macht sie ja so rechts, versammelt sich jedoch gerne unter dem Banner des Mächtigsten, der seine Linie dann schon irgendwie durchdrückt. Für langanhaltende Grabenkämpfe ist sie nicht bekannt."

Weiteres: Der Schriftsteller Per Leo lässt seine verändert Sicht auf die Politik in den USA Revue passieren. Emily Witt schreibt über die Opioid-Krise in den USA.

Magazinrundschau vom 09.07.2019 - Merkur

Die Autorin Hazel Rosenstrauch ist nicht mit allem einverstanden, was der Historiker Sebastian Panwitz in "Das Haus des Kranichs", seiner Geschichte der Privatbankiers von Mendelssohn & Co schreibt. Aber wie er in dem Buch Finanz- und Geisteswelt verbindet, das imponiert ihr. Denn hierzulande gehörten "Kapital und Musik, Fonds und Literatur" immer noch getrennten Welten an: "Als Nachteil dieser Vermischung von Disziplinen mit unterschiedlicher Tradition und Sprache erweist sich, dass diese Arbeit kaum wahrgenommen wird, weil Academia immer noch in Rubriken konferiert und rezensiert. Als Vorteil erweist sich, dass Zuordnungen und Theorien (zu Banken, Firmengeschichte, Juden und Preußen) nicht automatisch einrasten. Die Darstellung folgt weder den Usancen von Firmengeschichten noch bleibt sie im Ghetto jüdischer Geschichte beziehungsweise Geschichte von Juden stecken, die ja meist abgesondert von der 'normalen' deutschen Geschichtsschreibung betrieben wird. Im Raum zwischen den akademischen Heimaten bleibt Platz für Assoziationen. Erstaunlich viele Arbeiten zu Privatbanken, schreibt Panwitz, wurden nicht fertiggestellt. Warum? Vielleicht ist es besonders schwierig, im Geschäft mit Geld verdienstvolle Männer zu ehren?"

Weitere Artikel: Reiner Nägele wehrt sich gegen Versuche, Musikwissenschaft als reine Philologie zu betreiben. Rainer Maria Kiesow schreibt über Carl Schmitts "Gesetz und Urteil".

Magazinrundschau vom 14.05.2019 - Merkur

Während die Geologen wohl noch hundert Jahre brauchen düften, um das menschliche Zeitalter anzuerkennen, ist das Anthropozän in den Geistes- und Kulturwissenschaftler längst ausgemachte Sache. Allerdings stellt es sie vor das Problem, wieder den Menschen denken zu müssen, den doch schon Michel Foucault verschwinden sah "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand". Hannes Bajohr versucht, Ordnung in diesen  anti-, post- und neohumanistischen Schlamassel zu bringen: "Ganz gleich, auf welcher Seite man sich in der Auseinandersetzung um den Anthropos im Anthropozän wiederfindet - sie zeigt, dass der Mensch zumindest als diskursiver Gegenstand just in dem Moment auf die Bühne der Geisteswissenschaften zurückgekehrt ist, da seine endgültige Verabschiedung schon sicher schien. Schreibt sich zwar die Tradition des Antihumanismus fort, sind gerade ihre widerwilligen Apostaten wie Morton oder Colebrook bestes Zeichen dafür, dass es zwar nicht mit dem Menschen, ganz ohne ihn aber auch nicht geht. Diese prekäre Wiederkehr bedeutet aber gerade keine Restitution einer substantiellen Anthropologie, so als hätte es die antihumanistische Kritik nie gegeben. Das Modell des Weltenbildners homo faber, den das 'gute Anthropozän' aufruft, das ist der richtige Punkt des Posthumanismus, ist in der strikten Gegenüberstellung von Mensch und Natur nicht aufrechtzuerhalten. Seine völlige Bestreitbarkeit ist aber im Anthropozän ebenso wenig zu haben - als Adressat ethischer Forderungen, als politisch Handelnder oder als Verursacher und Verantwortlicher des Klimawandels bleibt 'der Mensch' weiterhin ein operativer, aber eben prekärer Begriff."

Zu lesen ist außerdem ein Interview, in dem Anne Peters, die Direktorin des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, bemerkenswert nüchtern über die Macht des Völkerrecht spricht: "Das Recht ist natürlich nur ein Ordnungsfaktor neben anderen in den internationalen Beziehungen. Militärische Macht und wirtschaftlicher Druck - also: Gewalt und Geld - sind zwei weitere. Man darf sich keine Illusionen darüber machen, dass das Recht nur einen kleinen Beitrag zur Ordnung der Welt leistet - zumal harte Sanktionsmöglichkeiten kaum zur Verfügung stehen."

Magazinrundschau vom 02.04.2019 - Merkur

Aleida Assmann reagiert ziemlich kritisch auf einen Essay von Ivan Krastev und Stephen Holmes, in dem die beiden Politikwissenschaftler ein akutes Anerkennungsdefizit der postsozialistischen Staaten diagnostizieren (hier auf Englisch). Bevormundet vom "liberalen" Westen konnten sie demzufolge nach dem Ende der sowjetischen Ära ihren Nationalstolz nicht ausleben. Tappen die Autoren damit nicht in die Falle ihrer eigenen Geschichtskonstruktion?, fragt Assmann. Warum spielen die Menschenrechte keine Rolle in ihrer Erzählung zu 1989? "Den Kalten Krieg haben nicht nur die Amerikaner gewonnen, sondern auch jene europäischen Politiker, die 1975 die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatten, und es war nicht nur der Kapitalismus, sondern es waren gerade auch die osteuropäischen Dissidenten, die sich auf die Menschenrechte beriefen und damit das Ende des Ost-West-Konflikts eingeleitet haben. Das hat der Menschenrechtsaktivist Gáspár Miklós Tamás kürzlich bestätigt, der unter Ceauşescu in Rumänien gelebt hat: 'Viele Politologen sprechen davon, dass der Systemwechsel von außen und von oben kam. Unsinn. Den Systemwechsel hat zwar nicht das ganze Volk gemacht, aber wir waren damals zwei, drei Millionen Menschen, es gab Klubs, Debatten, Versammlungen, Demonstrationen, es gärte unglaublich in der Gesellschaft. Dieser unbändige Freiheitswille von 1989, dieses Freiheitspathos, das war ein Augenblick von sehr großer Schönheit. Das bleibt.' Nichts davon bleibt jedoch, wenn wir dem Narrativ vom Nachahmungsimperativ folgen. Der Kampf um die Menschenrechte vor 1989 ist aber gerade deshalb ein so wichtiges Kapitel in der Geschichte der EU, weil die Ostblockstaaten eben nicht, wie es die Geschichte der Sieger will, mit dem westlichen Gut der Demokratie 'beschenkt' beziehungsweise kolonial überrannt und überwältigt worden wären, sondern weil sie dieses Gut selbst erkämpft und damit ihre eigene Utopie in die Europäische Union eingebracht haben." Assmann glaubt allerdings auch, dass die Osteuropäer eine schwere Kränkung erfahren haben, nur sei diese anders gelagert: "Denn was die ost- und mitteleuropäischen Dissidenten erkämpft und erhofft hatten, war eine liberale Demokratie; doch was sie tatsächlich bekommen haben, war eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die der Globalisierung des Kapitals neue Räume erschloss."