Bücher der Saison

Frühjahr 2015: Die Totalität der Welt

03.04.2015. Der Trend geht dieses Frühjahr zu den Fakten: Unter den Romanen fallen viele autobiografische und historische Stoffe auf. In der Theorie dreht sich alles ums Geld, die Praxis könnte Veganer in Verlegenheit bringen. Dieses Bücherfrühjahr ist nicht mild.
Dieses Frühjahr bietet einen reichgedeckten Büchertisch. Eine Entdeckung der klassischen Moderne ist zu feiern, autobiografische Romane, die die rauen Seiten des Lebens nicht aussparen, und historische Romane, die von der Belagerung Wiens durch die Türken bis in die revolutionär gestimmte Kunstwelt New Yorks in den Siebzigern führen. Hilary Mantel, Polina Scherebzowa und Mohamedou Ould Slahi schreiben in ihren Erinnerungen über alles, was weh tut. In den Politischen Büchern gehts um Geld. Sachbücher führen uns in die letzte große Zeit der Theorie, auf den entfesselten Kunstmarkt und zu einer Käuzin namens Mumble. Auf gut gefüllte Osternester!


Romane

Krieg

Wenn es in diesem Frühjahr eine Sensation gibt, dann ist es Moshe Kahns Übersetzung von Stefano D"Arrigos epischem Roman "Horcynus Orca" Im Original erschienen ab 1957 hier und dort Teilstücke, die D"Arrigo immer wieder veränderte und verbesserte, bis er 1975 endlich eine Schlussfassung abgab. Vergleichen, da sind sich die Rezensenten einig, kann man das Buch nur mit Kalibern wie Joyces "Ulysses" oder Musils "Mann ohne Eigenschaften". Wie diese ist es ein Versuch, die Totalität der Welt in einem großen Werk zu erfassen, erklärt Hans Ulrich Gumbrecht in der FAZ. Erzählt werden vier Tage im Kriegsjahr 1943, in denen ein Matrose versucht, nach Hause zurückzukehren. Doch Handlung ist hier nichts, so Gumbrecht, auch die vielen Wortschöpfungen D"Arrigos, die Kahn kongenial übersetzt habe, sollte man nicht nachschlagen, sondern sich ganz dem Rhythmus der Sprache hingeben, die den Rhythmus des Meeres widerspiegele. Im Tagesspiegel und in der Zeit singen Peter von Becker und Maike Albath eine Hymne auf den Übersetzer Moshe Kahn, der als erster überhaupt diesen 1400-Seiter in eine andere Sprache übersetzte. In der FAZ erklärt Kahn im Gespräch mit Hubert Spiegel: "Es ging mir darum, den Roman so zu behandeln, als müsste ich eine Mahler-Sinfonie in Worte fassen."

Steffen Kopetzky erzählt in "Risiko" aus der Sicht des jungen Marinefunker Sebastian Stichnote von der deutschen Niedermayer-Expedition 1915 nach Afghanistan. Der Hintergrund: Die Deutschen wollten den Emir von Afghanistan gegen die Briten aufstacheln und auf die Seite der Mittelmächte ziehen. Auch eine Liebesgeschichte hat Platz in diesem Männerdrama. Kopetzky hält sich eng an die Fakten, erklärt Ulrike Sárkány im NDR, die den Roman als "packend geschriebenen Historienschmöker" lobt, "der viele Denkanstöße gibt". Papierflüsterin Simone Dalbert fand schon die technischen Fakten faszinierend. Von Aha-Erlebnissen spricht ein begeisterter Andreas Kilb in der FAZ, der die bildliche Reflexion Kopetzkys ebenso genossen hat wie den Suspense. Auch Norbert Scheuers Roman "Die Sprache der Vögel" spielt in Afghanistan. Doch ist der Roman weniger eine Kriegserzählung als eine verdichtete Geschichte von Menschen und Wiedehopfen, Drongos und Kiebitzen: Die Hauptfigur, ein Sanitäter, ist gleichzeitig Ornithologe. Der Krieg kommt nur noch in vermittelter Form vor, erklärt Sandra Kegel in der FAZ. Ihr hat es gefallen, den Rezensenten in FR, taz und Zeit wohl auch, obwohl sie ein klein wenig ratlos wirkten.

Der niederländische Autor Jan Brokken erzählt in seinem Roman "Die Vergeltung" die Geschichte des Dörfchens Rhoon bei Rotterdam, das 1944 einem Vergeltungsmassaker der Wehrmacht zum Opfer fiel, nachdem ein deutscher Soldat dort tot aufgefunden worden war. Auch hier ist der Autor bemüht, die Fakten korrekt zu präsentieren und nicht literarisch zu verfremden. Brokken gehe es auch nicht um Schuldzuweisungen, so ein erschütterter Dirk Schümer in der Welt, sondern vielmehr darum, die Verwüstungen über den Krieg hinaus sichtbar zu machen, was ihm anhand der Fallbiografien nahezu fotorealistisch gelinge. Der Freitag präsentiert "Die Vergeltung" als Buch der Woche mit vielen Hintergrundartikeln und Videos. Schließlich sei auch noch auf Heinz Reins Antikriegsroman "Finale Berlin" hingewiesen, der erstmals 1946/47 als Fortsetzungsroman in der Berliner Zeitung erschien und heute endlich seinen Platz neben Falladas "Jeder stirbt für sich allein" einnehmen kann, schreibt Jens Bisky in der SZ. Für ihn liegt die große Stärke des Romans in seiner sprachlichen Rohheit, einer raffinierten Spannungsdramaturgie und einem reportagehaften, den Leser packenden Wirklichkeitszugriff.


Durch das Raue zu den Sternen

Den vielleicht interessantesten autobiografischen Roman der Saison haben wir bereits im letzten Bücherbrief vorgestellt: Édouard Louis" "Das Ende von Eddy" eine literarische Verarbeitung der von Brutalität und Verachtung gekennzeichneten Jugend des schwulen Autors im Arbeitermilieu der nordfranzösischen Provinz. Die schneidende Klarheit, mit der Louis diese sonst gern sozialdemokratisch verklärte Welt seziert, hat die Rezensenten ganz schön schlucken lassen. Gänzlich unsentimental beschreibt auch Michael Fehr in "Simeliberg" eine eigene Welt - ein Dorf in der Schweiz, wo es oben gibt und unten, wo eine Frau verschwindet, sieben Neonazis in einer gewaltigen Explosion in Rauch aufgehen und die Behörden verstockten Zeugen gegenüberstehen. Klingt wie ein Krimi und hat auch Anflüge davon. Aber dieser Roman des jungen Berner Autors zeichnet sich vor allem durch seine ungewöhnliche Sprache aus, erklärt Philipp Theisohn in der NZZ. Der Autor serviert bloß Halbzeiler und verzichtet auf Zeichensetzung gleich ganz: "Es gibt in dieser Welt keine stabile Kommunikation, nur aufleuchtende und verglimmende Worte." Der protokollarische Duktus des Ganzen aber und das Mundartliche machen die Erzählung für Theisohn zum Fest. (Lesenswert übrigens auch Theisons Artikel in der Zeit über den Paradigmenwandel in der Schweizer Literatur.)

Außerdem gut besprochen: Robert Kischs autobiografischer Roman "Möbelhaus" (mehr hier,die Geschichte eines Journalisten, der seinen Job verliert und sich als Möbelverkäufer durchschlagen muss. Bei Doris Knecht zieht sich eine gescheiterte Modedesignerin gleich in den "Wald" zurück und wird zur Selbstversorgerin. Und Russell Banks erzählt in "Verstoßen" die Geschichte eines 22-jährigen verurteilten Sexualstraftäters, der eine Affäre mit einer 14-Jährigen hatte und sich nach seiner Haft nur noch mit Fußfesseln und Abstand von Kindergärten und Schulen bewegen darf.


Blick nach vorn

Es ist kurz vor dem Weltuntergang in Valerie Fritschs Roman "Winters Garten" "Es ist leise geworden in unserer Stadt, entsetzlich leise, und die Menschen so dünn", beobachtet der Hauptprotagonist, der Vogelzüchter Anton. Er hat sich das erste Mal unsterblich verliebt, in Friederike, mit er zurück in die Gartenkolonie zieht, den paradiesischen Garten, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Auch wenn hier eine in Auflösung befindliche Gesellschaft beschrieben wird, mit dystopischer Untergangsliteratur hat das rein gar nichts zu tun, versichert Josef Bichler im Standard. Schon weil Erkenntnis in diesem Roman möglich ist. Die großen Themen - Erinnerungen, Apokalypse, große Liebe - werden zusammengehalten durch Fritschs wunderbare Sprache und einen Blick, der geschult ist durch ihre Reisen durch Nigeria, Benin, Togo und Ghana, aus denen sie literarische Reportagen schickte, erklärt Klaus Kastberger in der Presse. "Ob der Fremdartigkeit und des Glanzes dieses Textes wird man große Augen machen." Die Autorin kann was, gibt Paul Jandl in der Welt zu, ihm war der Roman jedoch zu kunstvoll stilisiert. In unserem Vorgeblättert kann man das selbst überprüfen.

Vor vier Jahren machte der 1983 geborene Leif Randt mit seinem zweiten Roman "Schimmernder Dunst über CobyCounty" Furore. Ein in einer Art in einer Wellness-Oase spielender Science-Fiction-Roman, der ungemütlich nah an der realen Gegenwart war. Auch der neue Roman, "Planet Magnon" spielt in einer gar nicht so fern erscheinenden Welt - diesmal ist es gleich ein ganzes Sonnensystem - das Frieden und perfekte Vernunft kultiviert hat. Richard Kämmerlings denkt in der Welt jedenfalls sofort an Big Data, Eliten, Kollektive, Kontrolle. Hier gibts kein lautes Peng, dafür minimalistische Schönheit und sprachliche Komik, versichert Doris Akrap in der taz. Zeit-Rezensent Burkhard Müller dagegen kam die ganze Handlung vertraut und zahm vor. Lob auch für "Dunkle Stadt Bohane" den dystopischen Debütroman des irischen Autors Kevin Barry. Er spielt im Jahr 2053, in einer verwahrlosten, heruntergekommenen Stadt, mitten in der "Großen Nichtöde", so Florian Schmid im Freitag, die von Ganoven und Banden beherrscht wird und schließlich mit Karacho in einen Krieg rauscht. Barry hat sich ausgiebig bei der Populärkultur bedient, erklärt Marcus Müntefering in einer Kurzkritik auf Spon.


Blick zurück

Hauptfigur in Amos Oz" Roman "Judas" ist ein israelischer Student, der über Judas Ischariot forscht, und sich im Winter 1959/60 in die wesentlich ältere Schwiegertochter seines Vermieters verliebt. Wie Oz hier Religionsgeschichte, Weltpolitik und Liebe zusammenführt, hat die Rezensenten beeindruckt. In der SZ bewundert Stephan Speicher den historischen Reichtum und die stilistische Bravour, mit der Fakten literarisch dargestellt werden. FR, FAZ und Welt stimmen in die Lobeshymnen ein und vergessen dabei auch nicht Übersetzerin Mirjam Pressler, die für ihre Arbeit mit dem Leipziger Buchpreis für Übersetzungen ausgezeichnet wurde. Nach vierzehn Jahren ist wieder ein Roman von Milan Kundera erschienen, "Das Fest der Bedeutungslosigkeit" Vier ältere Herren flanieren durch Paris und räsonieren über Stalin, Kindheit, Tod und junge Frauen. Hegels unendlich gute Laune findet die Zeit, gute Altherrenwitze die FR, altmeisterlich gelungene Lebensprojekt-Ermattung die taz. Doch es gab auch Gegenstimmen: FAZ-Rezensent Andreas Kilb hat sich eher gelangweilt und Andreas Breitenstein zeigt sich in der NZZ geradezu entsetzt. Altersrenitenz bescheinigt er dem Autor, dessen Buch ihm außerdem wie ein "trotzig-höhnischer" Kommentar zu seiner mutmaßlichen Denunzierung eines antikommunistischen Aktivisten 1950 bei der Polizei erscheint. Was bleibt am Ende? Nur Paris.

Oder New York. Dorthin führt uns Rachel Kushner in ihrem vielbesprochenen Roman "Flammenwerfer" ins Soho der siebziger Jahre, um genau zu sein. Hier stürzt sich die Hobby-Motorradrennfahrerin und Kunststudentin Reno mit ihrem reichen Machofreund in die revolutionär gestimmte Kunstwelt jener Zeit. Christian Bos bewundert in der FR die grandiose Coolness, mit der Kushner durch ihre Geschichte und den hochgekochten Kunstbetrieb anno 1975 braust. Ijoma Mangold liest das Ganze in der Zeit als fantastisch geschriebene "Satire auf die großen Berserker der Kunstszene". FAZ-Felicitas von Lovenberg trägt es beim Lesen allerdings mehrmals aus der Kurve, wenn sich das Tempo mal wieder überschlägt.

Etwa zur gleichen Zeit wie Kushners "Flammenwerfer" spielt Alain Mabanckous autobiografischer Roman "Morgen werde ich zwanzig" : Eine coming-of-age-Geschichte aus dem Kongo der siebziger Jahre, kindlich naiv, manchmal etwas langatmig, aber insgesamt doch lesenswert findet SZ-Rezensent Joseph Hanimann. Lydia Tschukowskajas "Untertauchen" ist eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1975, die aus einem Sanatorium für Künstler auf dem Lande vom sowjetischen Nachkriegsalltag, von Leid und Lebenswillen erzählt. Eine "Perle", verspricht die NZZ. Wir haben den Roman vorgeblättert. Auch Otar Tschiladses "Der Garten der Dariatschangi" erschien im Original erstmals 1973, eine literarische Geschichte des georgischen Volkes, die Jan Koneffke stark beeindruckt hat und die er als "süffiges Lesevergnügen" weiterempfiehlt.

Zeitlich schwer verorten lässt sich Péter Esterházys "Mantel-und-Degen-Version" Fröhlich hüpft der Autor zwischen der ungarischen Verteidigung Wiens gegen die Türken im siebzehnten Jahrhundert und der Gegenwart hin und her, sinnlich, intertextuell und leidenschaftlich. Das geht bei Esterházy problemlos zusammen. Helmut Böttiger ist in der Zeit etwas irritiert von so viel Leichtfüßigkeit, Welt-Rezensent Paul Jandl hat sich prächtig amüsiert.

Wer sich für den spanischen Erbfolgekrieg 1714 interessiert, wird mit Albert Sanchez Pinols Schlachtengemälde "Der Untergang Barcelonas" bestens bedient, versichert Sebastian Schoepp in der SZ. Schlachtszenen, Kriegsgerät, Festungsbau - alles lebendig, pointiert und faktengesättigt erzählt. Da gerät auch FAZ-Rezensent Paul Ingendaay in Begeisterung. Unbedingte Leseempfehlung in fünf Zeitungen für John Williams" "Butcher"s Crossing" ein Roman über das große amerikanische Büffelschlachten 1873, rasant und sachlich erzählt am Beispiel eines "Prärie-Parsifals auf Selbsterfahrungstrip", so die hingerissene SZ. Gut besprochen wurden außerdem Jerome Ferraris "Das Prinzip" ein Roman über den Physiker Werner Heisenberg, den die SZ als europäische Gegenwartsliteratur ersten Rangs feiert, während die FAZ die kongeniale Verbindung von Literatur und moderner Physik lobt.


Erzählungen

Echte Begeisterung hat die amerikanische Autorin Molly Antopol bei den Rezensenten mit ihrem Erzählband "Die Unamerikanischen" ausgelöst. Locker springt sie über Länder, Zeiten, Generationen und landet oft in Weißrussland, wo ihre Vorfahren herkamen, erklärt eine beeindruckte Lena Bopp in der FAZ. Fremdheit und die Suche nach Anerkennung sind ihre Themen. Wie sie das macht, ist so gelungen, dass sich Welt-Rezensent Martin Ebel jetzt schon auf ihren ersten Roman freut. Lob erntet auch der Österreicher Bernhard Strobel für seinen Erzählband "Ein dünner Faden" Die meisten seiner Geschichten spielen in Einfamilienhäusern in der österreichischen Provinz. Strobel erzählt minimalistisch Alltägliches lässt dabei doch eine Atmosphäre der Bedrohung entstehen, die der FAZ-Rezensentin Beate Tröger buchstäblich an die Substanz ging. In der Presse findet Linda Stift dafür ein gutes Beispiel in der Erzählung vom Brandstifter: Seine Frau würde ihm so etwas nie zutrauen. ""Aber irgendwas traust du mir doch zu?", so die bange Frage des Zündlers am Ende von "Alles ist bestens". Auf eine Antwort wartet er vergeblich."

Von der kühlen Lakonik zur eisigen Abstraktion: Laszlo Krasznahorkais Prosaband "Die Welt voran" hat die Rezensenten schon in der Form verunsichert: Sind es Erzählungen, Prosaskizzen oder doch ein Roman? Bernd Schneid vom Rezensionsforum Literaturkritik weiß es auch nicht. Er beschreibt Krasznahorkais Erzählwelt als hermetisch, mühsam zu erschließen, doch baut der Autor auch "Erzählbrücken von unnachahmlichem Reiz". Und Zeit-Rezensent Andreas Isenschmid findet sich in der "transzendentalen Obdachlosigkeit" wieder, die Georg Lukács als Wesensmerkmal des modernen Romans beschrieb. Isenschmidt hätte sich vielleicht etwas weniger Transzendenz und etwas mehr Materie gewünscht. Monty Python, Karl Valentin, Historiendrama - das alles und mehr fand eine hochamüsierte Irene Bazinger (FAZ) in Michael Frayns aus 30 Minidramen bestehendem "Streichholzschachteltheater" "Selbst die Pause wird im Streichholzschachteltheater zu einem großen Moment der Selbstfindung und persönlichen Entfaltung", verspricht Sophie Weigand im Blog Literaturen.


Krimis

Kaum einer kann die Abgründe der italienischen Republik so düster ausmalen wie der einstige Richter am kassationsgericht, Giancarlo De Cataldo. Korruption und Verbrechen, die Allianz von Mafia und Faschismus, die Verderbtheit von Politik, Kirche und Ökonomie beherrschen auch seinen neuen Roman "Suburra" den er zusammen mit dem Journalisten Carlo Bonini verfasst hat. In der NZZ staunt Franz Haas, wie präzise die Autoren die Machenschaften der Unterwelt schon beschrieben haben, bevor die Mafia Capitale aufflog. In der FAZ bedankt sich Jörg Bremer bei den Autoren für die geglückte Desillusionierung: So richtig schön kann er diese böse Stadt jetzt nicht mehr finden. In der Welt stört sich Dirk Schümer allerdings an der allzu leichtfertigen Kombination aus Ästhetizismus, Blutorgien und Hässlichkeit. In der taz hätte sich Christian Müller-Lobeck einen Hoffnungsschimmer gewünscht.

Zoe Beck erzählt in ihrem Roman "Schwarzblende" wie ein junger Filmemacher in die Mühlen des Anti-Terrorkampfs gerät, als er zufällig die Hinrichtung eines Soldaten durch islamistische Gotteskrieger filmt. Besser und aktueller kann Kriminalliteratur nicht sein, meint Tobias Gohlis in der Zeit und weiß, dass es hier um einen authentischen Fall geht. In der Welt sieht das Elmar Krekeler ganz genauso, vor allem die Verbindung von multimedialen Kriegswelten, Terrorgesetzen und Rassismus ergibt für ihn eine harte, aber überzeugende Geschichte.

Martin Suters Freunde werden auch mit dem neuen Krimi des Schweizer Autors auf ihre Kosten kommen, "Montecristo" erzählt gewohnt geschmeidig und kenntnisreich aus der skrupellosen Welt der Hochfinanz. Viel Beachtung gefunden hat auch Gila Lustigers Roman "Die Schuld der anderen" in dem der Journalist Marc Rappaport einem uralten Mordfall nachgeht, der ihn nicht, wie er glaubte, in die Pariser Halbwelt führt, sondern in die oberen Etagen der Pharmaindustrie. Alan Carters Krimi "Prime Cut" der vom Rohstoff-Boom in Westaustralien erzählt, bekam ebenfalls gute Kritiken.


Lyrik

In Südafrika ist die 1952 in Kroonstad in eine konservative Burenfamilie geborene Dichterin Antjie Krog eine bekannte Größe. Mit "Körper, beraubt" findet man erstmals auch im Deutschen einen Zugang zum Werk dieser "exzeptionellen Autorin" und "feurigen Zeugin", freut sich Claudia Kramatschek im DRadio Kultur. Liebes- und Naturlyrik, Sprachexperimentelles, Hermetisches, Empörung gegen das Alter und Zorn über die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung - das alles findet man hier, erklärt Renate Wiggershaus in der NZZ. Besonders die Gedichte über die Apartheid und ihre Folgen, die sich jeder verführerischen Sprachschönheit enthalten, haben sie beeindruckt, etwa "eine Montage von Aussagen der Opfer weißer Gewalt und Momentaufnahmen einer Ausgrabung nackter Leichen, in die nur zwei Zeilen mit Aussagen von Tätern eingebaut sind. Eine auffallende sprachliche Neuschöpfung in diesem Gedicht dient - nach einem durch Leerraum symbolisierten Stocken - der genauen Benennung eines spezifischen Phänomens: "der spaten macht ein plötzliches wie-auf-mensch-geräusch"." Lesenswert auch die Unterhaltung von Katharina Borchardt und Claudia Kramatschek über die Autorin auf SWR2.

Und hier liest Krog auf dem Spier Poetry Festival eins ihrer Gedichte:



Gut besprochen wurden außerdem Christian Lehnerts Gedichtband "Windzüge" - religiöse Gedichte mit ästhetischer Relevanz, so Harald Hartung in der FAZ, Jeffrey Yangs Langgedicht "Yennecott" das Nico Bleutge in der SZ in der Tradition von Walt Whitman und Gary Snyder verortet, eine Gesamtausgabe der Gedichte von Christoph Meckel - 60 Jahre Schönheit und Wahrheit, freut sich Welt-Rezensent Herbert Wiesner, und Charles Bernsteins "Angriff der schwierigen Gedichte" der dem beeindruckten FAZ-Rezensenten Werner von Koppenfels Einblick in das komplexe Werk der amerikanischen "language poets" verschaffte.

Last but not least sei auch noch einmal auf Jan Wagners bereits im August letzten Jahres erschienenen, vielgelobten "Regentonnenvariationen" hingewiesen, die in diesem Frühjahr als erster Lyrikband mit dem Leipziger Buchpreis für Literatur ausgezeichnet wurden. Zeit-Rezensent Alexander Cammann verbringt einen staunenden Nachmittag mit vier CDs "Gebrannter Performance" von Thomas Kling, dessen Stimme immer noch einen Zauber wirft. Hier sieht und hört man ihn noch mal im holländischen Fernsehen:



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