Vorgeblättert

Leseprobe zu Lydia Tschukowskaja: Untertauchen. Teil 1

22.01.2015.
Nachts wachte ich mit Herzklopfen auf. Die Tränen liefen über das Haar und kitzelten im Ohr.
     Es war etwas Entsetzliches geschehen, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, was es war. In mir lebte nur die Erinnerung an das ausgestandene Entsetzen, nicht an den eigentlichen Traum.
     Ich liege in einem weichen, breiten Bett. Das Blut pocht in den Ohren, das Herz kann nach dem Sturz in den Abgrund immer noch nicht zur Ruhe kommen.
     Nächtliche Stille, dicht und schwarz, lagert um mich her. Man könnte sie beinahe berühren, tasten, wie einen Stoff.
     Ich kann kein Licht anmachen, nachts arbeitet der Generator nicht. Außerdem ist es leichter, mit diesem Entsetzen so zu leben, so ohne Licht.
     Was ist es gewesen? Das Herz klopft im Hals, in den Ohren, in den Schläfen, sein heißes Pochen füllt die ganze Brust aus und, wie mir scheint, das ganze Zimmer. Wahrscheinlich habe ich wieder Aljoschas Tod gesehen.
     Welchen eigentlich? Welchen? Unterwegs? Im Lager? Beim Verhör?
     Ich weiß nichts über seinen Tod, und deshalb kann meine Phantasie mit jedem etwas anfangen.
     Aber seit jenem Gespräch an der Steintreppe über dem Wasser sucht mich am häufigsten der Traum von Aljoschas Tod beim Verhör heim. Wie oft schon habe ich seinen Tod im Traum gesehen? Ich könnte es im Tagebuch nachrechnen, aber ich habe mein Tagebuch nur selten zur Hand … Man könnte es auch anders ausrechnen: Es begann im Jahre vierzig, im Herbst, in nieselndem Regen, als meine Freundin mich plötzlich auf den Quai bestellte und wir zusammen die Stufen zum schwarzen, Kälte ausströmenden Wasser hinunterstiegen - hier unten, auf diesen flachen Granitplatten unmittelbar am Wasser, ist es absolut sicher, hier ist niemand, hier ist nichts -, als sie mir über das Verhör das wiedererzählte, was sie von ihrer Cousine gehört hatte, und die Cousine wusste es von einem Mann, der neununddreißig entlassen worden war. Bis dahin hatten wir uns natürlich unsere Gedanken gemacht, aber wir hatten nicht gewagt, unseren eigenen Gedanken zu glauben, jetzt aber stellten sich diese Gedanken als Wahrheit heraus, und wir wussten mit Sicherheit, warum alle irgendetwas gestanden und einer den anderen beschuldigte. (Ich habe sie damals noch gefragt: »Was glaubst du, wie lange könntest du aushalten, wenn man dir einen Finger in der Tür einklemmen würde?« Und sie hat als Antwort gefragt: »Und du?«) Und seit damals, das heißt beinahe seit zehn Jahren, gibt es in meinen Nächten den Traum: Verhör und Aljoschas Tod beim Verhör.
     Aber heute war es etwas anderes. Ich starrte in das tiefe Dunkel des Zimmers, als würde es die Konturen des entglittenen Traumes bewahren.
     Heute sah ich im Traum einen anderen Tod Aljoschas. Welchen? Im Waggon? Nein, das war es nicht.
     Warum träume ich eigentlich immer wieder von dem Tod beim Verhör? Wahrscheinlich ist es so mit ihnen, mit den Träumen: Kommen sie einmal, dann kommen sie wieder und wieder. Warum unbedingt beim Verhör? Aljoscha wurde doch schließlich weitertransportiert und irgendwohin verschickt. Wie deutlich habe ich diese Daten behalten! Am Schalter im Gefängnis, es war der 5. Januar dreiunddreißig, wurde mir gesagt: »Verlegt!« - »Wohin?« - »Er wird Ihnen selbst schreiben.« Zwei Tage später auf der Staatsanwaltschaft: »Zehn Jahre strenge Isolation, mit Einziehung … Nach der Entlassung wird er Ihnen schreiben.« Es gab also nach all den Verhören noch eine Fortsetzung, ich aber träumte nur vom Verhör. Das kommt wahrscheinlich deshalb, weil man von Nichtgesehenem nicht träumen kann: von der Verschickung, vom Lager. Und ich habe auch nie jemand getroffen, der von dort kam. Aus einem Lager. Das ist für mich ein Entsetzen, das keine Farbe, keinen Geruch hat. Die Träume übrigens stören sich nicht daran. Im Märchen kommen immer die Träume und erzählen. Es sind eben Träume. Sie haben ihre eigenen Gewohnheiten. Sie kommen, wann sie wollen, und sie zeigen, was sie wollen. Zum Beispiel dieser Traum: 'Aljoschas Tod beim Verhör.' Obwohl mir gesagt wurde, wie es dabei zugeht, sehe ich immer etwas ganz anderes. Man sollte Folgendes sehen: einen Schreibtisch, Akten, den Staatsanwalt, einen Stuhl, eine Lampe, Nacht, und dann erscheinen zwei Kerle, die ihn schlagen. Aber ich sehe jedes Mal schweres, schwarzes, Kälte ausströmendes Was- ser - Wasser und Schweigen. Ja, ich sehe das Schweigen: Es ballt sich wie Dampf. Wolken von Schweigen. Und das ist 'Aljoscha beim Verhör'. Irgendwelche Menschen stoßen ihn mit Knüppeln ins Wasser. Ebenfalls schweigend. Er kommt dem Granitrand immer näher. Jetzt ist er schon mit einem Bein abgerutscht - gleich rutscht er mit dem zweiten - das ist 'Aljoschas Tod beim Verhör'. Ich schreie und wache auf. Das Herz donnert wie die Waggonräder über den Schienenenden.
     Aber heute war ein anderer Tod Aljoschas da. Ein anderes Entsetzen.
     Ich drehte mich auf den Rücken, und die Tränen liefen jetzt in beide Ohren. Welch ein undurchdringliches Dunkel. Es hält meinen flüchtigen Traum in seinem tiefen Schlund versteckt.
     Und plötzlich zeigte er sich wieder. Ich erinnerte mich, wovon ich aufgewacht war. Der Traum war noch unmittelbar da, noch in der Nähe, er war noch nicht aus dem Zimmer verschwunden, wahrscheinlich gelang es mir deshalb, ihn noch am Zipfel zu packen.
     Es war nicht der Tod Aljoschas, es war seine Rückkehr. Das Entsetzen bei seiner Rückkehr. Er kehrte zurück, aber nicht zu mir.
     Auch dieser Traum war schon da, zweimal.
     Es stellt sich heraus, dass Aljoscha lebt. Ich erfahre es von einem Fremden, einem mir völlig unbekannten Freund Aljoschas. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nur, dass er Aljoschas Freund ist. Wir stehen in Katenkas Kinderzimmer, das Parkett schimmert gelbrosa, und ich denke - im Schlaf -, die Kinderfrau Elwi hat ihn heute, zum Fest, mit einem Wolllappen poliert. Aljoschas Freund sieht mir nicht ins Gesicht, sondern zur Seite, und ich erkenne daran, dass Aljoscha am Leben ist, dass seine Freunde wissen, wo er sich aufhält, dass er mich aber nicht sehen will. Ich habe mir etwas zuschulden kommen lassen. Aljoscha hat mich verurteilt, wirft mir etwas vor, Aljoscha hat mich auf ewig von sich gestoßen. Wofür? Habe ich etwas verschuldet, Hab ich ihm etwas versagt? Wie ich ihn liebte, zu sagen Habe ich niemals gewagt. Ich liege in dem niedrigen weichen Bett. Schwarze tiefe Stille. Das Herz klopft so, als hätte ich in der Zirkuskuppel gearbeitet, wäre abgestürzt und läge nun im Netz.
     Heute habe ich meine Schuld erkannt. Im Traum. Ich lebe. Das ist es. Ich lebe, ich lebe immer noch, obwohl man ihn mit Knüppeln ins Wasser getrieben hat. Er kam für einen Augenblick, um mir das vorzuwerfen. Das zeigte der Traum.

zu Teil 2