Bücher der Saison

Bücher der Saison: Frühjahr 2015. Sachbuch

02.04.2015.
Romane, Lyrik / Erinnerungen, Reportagen / Politische Bücher / Sachbücher

Sachbücher

Philosophie

Neben den beiden Büchern von Christoph Türcke und Joseph Vogl (siehe hier) ist als ein wirkliches Buch dieser Saison Philipp Felschs "Langer Sommer der Theorie" zu nennen. Es knüpft gewissermaßen wie von selbst an Ulrich Raulffs Reminiszenzen an die letzte große Zeit der Theorie an, "Wiedersehen mit den Siebzigern", das zu den Büchern der letzten Saison gehört. Es geht um die gleiche Epoche, die sich im Programm des einst so bedeutenden Merve Verlags verkörpert, den Umschlag von der marxistischen Geistesproduktion der Nach-68er-Zeit in das "Post": Posthistoire, Postmoderne, Poststrukturalismus. Kurz vor dem Mauerfall glaubte man, "nach" der Geschichte zu leben. Von Felschs Erzählkunst gebannt, lässt sich Jens Bisky in der SZ gern in diese "Geschichte einer Revolte" ziehen, lobt das Buch als gelungenen Einblick in prägende Momente der bundesrepublikanischen Mentalitätsgeschichte und schwelgt nicht zuletzt mit Heiner Müller oder Martin Kippenberger im Westberliner Nachtleben. Wahrscheinlich sollte man parallel zur Felsch-Lektüre Oskar Roehlers autobiografischen Roman "Mein Leben als Affenarsch" lesen (läuft zeitgleich unter dem Titel "Tod den Hippies!! Es lebe der Punk!" im Kino), der von der gleichen Epoche handelt - Westberlin wird historisch.

Zu den politisch-philosophischen Neuerscheinungen der Saison gehört außerdem "Das Reich des kleineren Übels" des Philosophielehrers Jean-Claude Michéa, der einen sehr eigensinnigen, von weit links kommenden, aber an Orwell geschulten Blick auf den Liberalismus wirft. Hannah Bethke bekennt in der FAZ, so wie hier habe sie den Liberalismus selten gesehen: moralisch neutral, wertfrei und bar jeder Metaphysik.


Geschichte

Vor dem Hintergrund der Resowjetisierung Russlands unter Wladimir Putin dürfte es von Interesse sein, sich Orlando Figes" kompakte Geschichte der Sowjetunion, "Hundert Jahre Revolution" vorzunehmen. Michael Hesse beschreibt sie als eine nützliche und höchst lesbare Expedition durch die düsteren Kapitel dieses Jahrhunderts. Noch Chruschtschow, der seine Meriten im großen Terror erwarb, war kein unbeschriebenes Blatt. Laut Sabine Adler im Deutschlandradio beharrt Figes genau auf jenen Aspekten, die in Russland heute am liebsten verdrängt werden - nämlich dass Terror gegen die Russen zuerst kam. "Es regierte keine Diktatur des Proletariats, so der Londoner Geschichtsprofessor, sondern die Diktatur der Bürokratie, der Parteifunktionäre, die durch Denunziation, Haft oder Erschießungen permanent erneuert wurde." Ob Figes eine Antwort auf die Frage findet, warum die Russen aus dem Muster des Autoritarismus nicht herausfinden, sagt Adler leider nicht, aber sicher findet er Elemente für diese Antwort.

Außerdem: Zwei Lebenswerke haben sich in dieser Saison gerundet. Heinrich August Winkler legt den letzten Band seiner Geschichte des Westens vor. Jan Assmann erzählt noch einmal den "Exodus" - und dass so neu, dass die Kritiker buchstäblich Kopf stehen. Beide Bücher haben wir in unseren Bücherbriefen (hier und hier) schon vorgestellt. Götz Aly legt in "Volk ohne Mitte" einige neuere und ältere Essays über Deutschland und die Nazizeit vor (einen davon haben wir vorgeblättert). Alwin Meyer legt mit "Vergiss meinen Namen nicht" ein Buch über Kinder in Auschwitz vor, eine Lektüre die einem laut Lennart Laberenz in der taz trotz aller Vorkenntnis, die wir heute haben, den Atem raubt. Und Miriam Gebhardt legt mit "Als die Soldaten kamen" eine Studie über die Vergewaltigungen deutsche Frauen durch alliierte Soldaten vor - und keineswegs nur russische, sondern auch amerikanische, britische und franzöische, wie sie nach Auswertung unbekannter Quellen herausfand.


Kunst

Hans-Ulrich Obrists Selbstbetrachtung "Kuratieren!" mit Ausrufezeichen ist angesichts des entfesselten Kunstmarkts auf Rieseninteresse bei den Rezensenten gestoßen, die das Buch allerdings mit unterschiedlichen Ergebnis zur Seite legen. Die Frage ist wohl, wie sehr man als Leser imstande ist, mit persönlicher Eitelkeit umzugehen, ob man sie verzeiht und Erkenntnisgewinn daraus saugen oder ob man sie schlichtweg nicht verknusern kann. Obrist analysiert nicht, er reflektiert nicht, betont Catrin Lorch in der SZ, er erzählt maximal subjektiv und mit großer Emphase von den Künstlern, denen er begegnet ist, und von den Großereignissen, die er kuratiert hat. Eben diese Emphase macht das Buch auf für Stephan Wackwitz (FAZ) höchst lesenswert. Ausgerechnet Christian Demand, Autor einiger wichtiger Bücher über den Kunstbetrieb, ist enttäuscht. Dass der Autor nicht mal Einblick in seine Arbeit gewährt, in den Maschinenraum des Kunstbetriebs, Strukturen und Netzwerke und Markt und Museen und Museen mag ihm Demand in der Welt nicht verzeihen. Immerhin: Wenn Obricht über seine Begegnungen schreibt, nimmt ihm Demand die Liebe zur Kunst ab.

Und wer sich aus dem Getümmel zurückziehen will, der kann dann mit Karl-Heinz Bohrer fragen: "Ist Kunst Illusion?"


Technik

Suchmaschinen sind kein Phänomen der Digitalisierung und des Internets, schon im 17. Jahrhundert gaben Adressbüros Auskunft und setzten Intelligenzagenturen Menschen miteinander in Verbindung. Anton Tantner erzählt in "Die ersten Suchmaschinen" die Geschichte der analogen Sucheinrichtungen auf, wie die Rezensenten versichern, anekdotenreiche und kurzweilige Weise. Dass der Widerstreit zwischen Privatheit und Kontrolle schon damals eine große Rolle spielte, macht Tantners "luziden Episodenführer durch mehrere Jahrhunderte Informationsvermittlung" für Marc Reichwein (Welt) hochaktuell. Helmut Mayer bekennt in der FAZ, viel über frühneuzeitliches Stadtleben gelernt zu haben, gerne hätte er aber noch mehr über den Niedergang der analogen Suchmaschinen erfahren.

Die Verheißungen von Freiheit und Reichtum hat das Internet nicht eingelöst, im Gegenteil: es vernichtet Arbeitsplätze, unterbindet den Wettbewerb und fungiert als Überwachungsapparat: Das behauptet Andrew Keen in "Das digitale Debakel" Nicht sachlich falsch, aber auch nicht sehr originell finden die Kritiker dieses Lamento. Als "lockere Gesamterzählung über das Silicon Valley" beschreibt Mara Delius in der Welt das Buch, dem sie die Nähe des Autors, selbst Gründer eines Start-ups, zu seinem Gegenstand im Guten (profunde Kenntnis) wie im Schlechten (mangelnde analytische Distanz) anmerkt. Für den Spiegel unterhält sich Christian Stöcker mit Keen über dessen Thesen. Was gute Neuerungen ausmacht, untersucht Marcel Hänggi in seinen "Fortschrittsgeschichten" wobei er darauf besteht, dass stets vom Nutzer abhängt, was er aus einer Erfindung macht: die Erfindung selbst bewirkt noch keinen gesellschaftlichen Wandel. So widersetzt sich Hänggi dem "scheinbar unaufhaltbaren Erneuerungszwang", freut sich Elisabeth von Thadden in der Zeit, und Ralf Krauter empfiehlt die "Fortschrittsgeschichten" im DLF als "Augenöffner", die dazu ermuntern, "die Chancen und Risiken neuer Technologien unvoreingenommen, kritisch und ganzheitlich zu bewerten".


Naturwissenschaften

Sind Pflanzen Lebewesen niederer Ordnung, die einfach nur vor sich hinvegetieren? Nicht, wenn es nach Stefano Mancuso geht, der an der Universität in Florenz das Labor für Neurobiologie der Pflanzen leitet. In seinem populärwissenschaftlichen Buch "Die Intelligenz der Pflanzen" erläutert er detailliert, dass Pflanzen nicht nur alle fünf Sinne des Menschen haben, sondern dazu noch zehn weitere, mit denen sie etwa elektromagnetische Felder erkennen, entfernte Wasserquellen ausmachen oder untereinander über Chemikalien kommunizieren können. Diese enormen Fähigkeiten haben dazu geführt, dass Pflanzen zwischen 99,5 und 99,8 Prozent der Biomasse auf der Erde ausmachen, lernt Andreas Austilat (Tagesspiegel) - der Rest sind Menschen und Tiere. Joachim Müller-Jung fragt sich in der FAZ besorgt, ob man angesichts dieser Erkenntnisse Pflanzen nicht womöglich von der Speisekarte streichen sollte, und regt eine Ethikkommission für den Umgang mit Pflanzen an. Erleichtert zeigt er sich, dass Mancuso bei allem Überzeugungswillen einen heiteren Ton behält.

Auch Olaf L. Müller hat sich in "Mehr Licht" eine Rehabilitierung vorgenommen, nämlich von Goethes Farbenlehre, die seit ihrer Entstehung in Fachkreisen als Verirrung eines Dilettanten gilt, während Isaac Newtons von Goethe für widerlegt gehaltenen Theorien bis heute in der Wissenschaft Bestand haben. Höchst anregend findet das Wolfgang Krischke in der FAZ, der sich zwar hier und dort etwas Straffung gewünscht hätte, aber insgesamt sehr gut durch die komplexe Materie geführt fühlt. Nicht minder anspruchsvoll ist das Thema von Pia M. Heidenreichs Essay zum "Mehrkörperproblem" dem seit Copernicus und Kepler bekannten mathematischen Problem der Berechnung des Bahnverlaufs dreier Körper unter dem Einfluss ihrer gegenseitigen Gravitation. Mit "fast schon kecker Prosa" macht die Autorin die Geschichte dieses Problems bis in die Gegenwart unterhaltsam verständlich, lobt Helmut Mayer in der FAZ. Ausgleich zu diesen eher trockenen Themen bietet Martin Windrow, der in "Die Eule, die gern aus dem Wasserhahn trank" von seiner fünfzehnjährigen Freundschaft zu der Käuzin Mumble erzählt. Die hinreißenden Szenen des Zusammenlebens dieses ungleichen Paares liest Manuela Lenzen (FAZ) als eine Liebesgeschichte voll Zärtlichkeit und Wildheit.


Literatur- und Kulturgeschichte

Kulturpessimistische und fortschrittsfreudige Kommentatoren sind sich längst einig, dass das gedruckte Buch im digitalen Zeitalter dem Untergang geweiht ist. Doch warum die Vorzüge des einen gegen das andere ausspielen, fragt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner in seiner Studie "Zur Sache des Buches" und regt an, stattdessen nach den Chancen und möglichen Synergien von Papier und Digitalisat zu fragen. Obwohl Hagner dabei dezidiert das geisteswissenschaftliche Publizieren im Blick hat, finden die Rezensenten seine Einlassungen für die Zukunft der ganzen Buchbranche relevant. In der NZZ hebt Urs Hafner hervor, dass Hagner nicht etwa "hinter die digitale Revolution zurück" will, sondern vielmehr die mit der Digitalisierung verbundenen Illusionen und Gefahren - etwa den Trend des "Open Access" - differenziert beschreibt. Als "gründlich und brillant" lobt Hans von Trotha in der Zeit das Buch, das, wie er anmerkt, übrigens auch als E-Book erhältlich ist.

Seit der Antike hat sich an der europäischen Tradition der großen Rede wenig verändert: Durch logische und stilistische Brillanz soll der Zuhörer für den Redner und sein Anliegen eingenommen werden. Vor diesem Hintergrund vergleicht der Germanist Karl-Heinz Göttert in "Mythos Redemacht" Reden von Perikles und Richard von Weizsäcker, Cicero und Joschka Fischer, Demosthenes und Charles de Gaulle, Gorgias und Martin Luther King und räumt mit einigen Vorurteilen auf, etwa dass Rhetorik nur in der Demokratie floriere. "Frisch und anschaulich" findet das Johan Schloemann in der SZ, und Uwe Walter empfiehlt in der FAZ, sich die vorgestellten Reden wo möglich zur Veranschaulichung auf Youtube anzuhören. Die große Aufmerksamkeit, auf die Göttert mit seinem Buch gestoßen ist, schlägt sich in Interviews mit Matthias Heine (Welt), Tobias Becker (SpOn) und Michael Köhler (DLF) nieder.

Seefahrer, Bohèmien, politischer Kabarettist und ambitionierter Maler - dass Joachim Ringelnatz (1883-1934) mehr war als nur der Dichter geistreicher Albernheiten, verdeutlicht Hilmar Klute in seiner Biografie "War einmal ein Bumerang" In der FAZ zeigt sich Dirk von Petersdorff beeindruckt, wie nah der Autor seinem Gegenstand dabei kommt. Noch intimer geht es in Brigitte Roßbecks Biografie von Franz Marc (1880-1916) zu, die, wenn man Julia Voss (FAZ) glauben mag, vor allem Einblick in die zahlreichen Liebesaffären bietet, die der Maler mit verheirateten und ledigen, kinderlosen und schwangeren Frauen hatte. Daneben sind aber natürlich auch die Bekanntschaft mit Kandinsky, Macke und Werefkin und Marcs verhängnisvolle Kriegsbegeisterung Thema. In beiden Biografien geht es um Künstler, die "in faszinierender Weise das vergangene Jahrhundert und seine Sichtweisen auf Weltwahrnehmung geprägt" haben, fasst Sabine Zaplin im br zusammen.

Auch ohne Jubiläumsjahr drückt Goethe der Saison seinen Stempel auf. Neben seiner Rolle als theoretischer Physiker (siehe oben: naturwissenschaftliche Bücher) ist er im Porträt des Germanisten Albrecht Schöne als Briefschreiber zu entdecken. Die in über fünfzig Forschungsjahren zusammengetragenen Erkenntnisse reißen Gustav Seibt in der SZ zu einer hymnischen Besprechung hin. Auch Bruno Preisendörfer unternimmt in "Als Deutschland noch nicht Deutschland war" eine Reise in die Goethezeit, in deren Verlauf Tobias Lehmkuhl (SZ) unter anderem erfährt, dass Goethe keine Unterhosen trug. Aber auch von Wunderheilern auf Jahrmärkten, öffentlichen Hinrichtungen und Abtreibungs-Praktiken ist hier zu lesen, berichtet Helmut Böttiger (Dradio Kultur), dem dieses "einzigartige Kompendium" ein "ganz konkretes Gefühl für Geschichte" vermittelt hat.

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