Bücher der Saison

Bücher der Saison: Frühjahr 2015. Erinnerungen, Reportagen

02.04.2015.
Romane, Lyrik / Erinnerungen, Reportagen / Politische Bücher / Sachbücher

Reportagen

Dass Joseph Roth nicht nur grandioser Schriftsteller war, sondern auch ein hervorragender Journalist war, lässt sich in seinen "Reisen in die Ukraine und nach Russland" nachlesen. Für Tim Neshitov zeigt sich in der SZ Roths Größe nicht nur in der sprachlichen Brillanz, sondern auch in der Fähigkeit, sich enttäuschen zu lassen. Roth wurde von der postrevolutionären Realität sehr enttäuscht, aber selten getäuscht, wenn er für die Frankfurter Zeitung aus Kiew, Moskau, Odessa oder Lemberg schrieb ("Es gibt Städte, in denen es nach Sauerkraut riecht. Dagegen hilft kein Barock.") In der FR bemerkt Harry Nutt, dass der gebürtige Galizier Roth mit großer Sympathie für die Ukrainer schrieb, die fatalerweise in der Natur häufiger vorkämen als in den Geschichtsbüchern. In der taz findet Lennart Laberenz Roths Reportagen nicht nur politisch luzide: "Sein Blick ist geprägt von Neugier, Erwartung, sinnlicher Lust."

Der Diaphanes Verlag hat sich bereits mit mehreren Bänden um die Reportagen verdient gemacht, in denen Joseph Mitchell einst für den New Yorker die verruchtesten Ecken der Metropole erkundete. Auch im neuesten Band "Old Mr. Flood" erzählt Mitchell von Lebenskünstlern und Schwadroneuren, Gestrandeten und Exzentrikern, Abbruchunternehmern und Fischhändlern im Hafen von New York Mitte der 40er Jahre. Wie Jörg Häntzschel in der SZ betont, sind das dezidiert keine Sozialreportagen, sondern Lebensreportagen, und zwar so prall, witzig und intensiv, dass der Geruch von geräuchertem Fisch durch die Seiten zieht.

Mit großer Begeisterung hat Andreas Fanizadeh in der taz Sudir Venkateshs "Floating City" gelesen, für die sich der an der Columbia University lehrende Soziolge auf Feldforschung in die New Yorker Halbwelt begeben hat. Akademischen Standards genügt der Band aber bestimmt nicht, warnt der Rezensent vergnügt. Beeindruckt zeigte sich Susanne Mayer in der Zeit auch von Jenny Nordbergs Reportage "Afghanistans Verborgene Töchter" die von Mädchen erzählt, die als Jungen aufgezogen werden.


Erinnerungen, Tagebücher

So ist es nun mal: Die größten Schriftsteller sind auch die besten Memorialistinnen. Hilary Mantel überflügelt mit ihren monumentalen Historienromanen inzwischen den Ruhm (und womöglich auch die Verkaufszahlen) der drei Freunde aus den wilden Achtzigern Salman Rushdie, Ian McEwan und Martin Amis. Ihre Erinnerungen "Von Geist und Geistern" kommen mit 240 Seiten recht schmal daher. Die Kritiker waren durchweg überwältigt: Sie schreibt über alles, was wehtut, hieß es. Vor allem aber wohl über Kindheit und Jugend, schlagende Nonnen im Heim und eine jahrelang nicht diagnostizierte, quälende Krankheit der Gebärmutter. Für Wieland Freund in der Welt ist das Buch in seiner Härte exzeptionell, genauso wie in seiner Form, die auf eine Chronologie verzichtet und lieber motivisch vorgeht. Mantel erzählt in ihrem Buch, wie ihr die Literatur über die schweren Jahre half - und so schließt sich der Kreis. Zu den Büchern mit autobiografischen Schriften von Autoren gehören in diesem Jahr auch Briefe und Tagebücher Michail Bulgakows, "Ich bin zum Schweigen verdammt" die die FAZ zum besseren Verständnis dieses Autors, der ab 1927 in der Sowjetunion nicht mehr veröffentlichen durfte, empfiehlt.

Auch Polina Scherebzowa schreibt in "Polinas Tagebuch" über den Trost der Literatur, und auch hier sind die Kritiker tief beeindruckt, selbst wenn dieses Buch aus einer ganz anderen Sphäre kommt und eher zeitgeschichtlichen Charakter hat. Scherebzowa ist Tochter einer Russin und eines Tschetschenen, ist in den grauenhaften Jahren in Grosny aufgewachsen, hat beide Tschetschenienkriege miterlebt und lebt nun in Finnland. Neben dem Schrecken beeindrucken Sabine Berking in der FAZ immer wieder Berichte von ganz Alltäglichem, von Teenager-Träumen, aber auch von Polinas Überlebensstrategien: Nicht nur Literatur, etwa Cervantes, Dumas oder Hugo, sondern auch Yoga und Meditation helfen dem jungen Mädchen, die Grausamkeiten des Krieges zu überstehen. Zu den zeithistorischen Erinnerungen gehören auch die Guantanomo-Schilderungen von Mohamedou Ould Slahi, die die Kritik mit großem Interesse, aber zwiespältig aufgenommen hat, und die Erinnerungen des ehemaligen Israelischen Botschafters in Deutschland, Avi Primor.

Und natürlich sind auch die Popmusiker längst im memoirenfähigen Alter: Kim Gordon von Yonic Youth hat ihre Erinnerungen als "Girl in a Band" aufgeschrieben. Und der Techno-DJ Westbam rekapituliert "Die Macht der Nacht" Dazu passen Oskar Roehlers hochgelobten Erinnerungen ans Westberlin der achtziger Jahre "Mein Leben als Affenarsch" inklusive Blixa Bargeld, SO 36 und Berlin-Zulage, über die er ja auch einen Film gedreht hat. Und aus Marcel Ophüls unterhaltsamen Memoiren "Meines Vaters Sohn" hat der Perlentaucher ja schon vorgeblättert. Dazu sollte man die Erinnerungen seines Vaters Max reichen die der Alexander Verlag in einer kommentierten Neuausgabe herausgebracht hat.

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