Bücher der Saison

Erinnerungen, Autobiografien

23.11.2016. Wolf Biermann ist eitel? Was soll's - der Mann kann schreiben. Die Manns konnten das auch alle: Ihre Briefe sind ein "sprachliches Feuerwerk". Und dann die Riesenentdeckung Françoise Frenkel. Dunkle Zeiten sind immer gut für Erinnerungen!
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Eitel, großsprecherisch, ein politischer Renegat - so what? Wenn einer schreiben kann wie der jetzt achtzigjährige Wolf Biermann, liest man seine Memoiren mit Genuss, egal ob man sich manchmal ärgert oder nicht. So sehen das jedenfalls die Zeitungskritiker. "Warte nicht auf bessre Zeiten!" erinnert noch einmal daran, warum der Liedermacher und Dichter Biermann in der DDR ein solcher Koloss war (auch wenn sie ihn dann am Ende quasi abgeschoben haben): die "proletarische Biermann-Schnauze" ist einfach unwiderstehlich, meint Markus Schwering in der FR. Biermanns Aufwachsen unter Hamburger Kommunisten, seine frühen Jahre bei Brecht und die Schikanen der DDR - alles tritt Schwering bei der Lektüre noch einmal vor Augen. In der Welt freut sich Marko Martin über die frisch geschilderte Komplizenschaft Biermanns mit Robert Havemann, über aberwitzige Begegnungen (mit Ginsburg oder Sperber) und unerwartete Volten, Biermanns Wut und Traurigkeit und immer wieder Lebensgier. Auch FAZ- und Zeitkritiker verschlingen das Buch. Selbst Willi Winkler, kein Biermann-Fan, gibt in der SZ zu, einige herrliche Anekdoten gelesen zu haben.

Auf sehr gute Resonanz stoßen die Erinnerungen einer Reihe weiterer grundverschiedener Schriftsteller. Die von Tilmann Lahme ausgewählten, zu einem Familienporträt zusammengestellten, sechs Jahrzehnte umfassenden "Briefe der Manns" haben Hans Pleschinski einfach hingerissen, wie er in der SZ bekennt. Es geht um alles, aber die Familie - und hier insbesondere Katia Mann - scheint im Mittelpunkt zu stehen: Ob Drogenproblem, Schulflucht oder schriftstellerische Probleme, Katia Mann ist "Trösterin in jede Richtung". Alles in allem ein "sprachliches Feuerwerk", verspricht der Rezensent. Mit "Der Betrachter" wird außerdem die Lücke zwischen 1991 und 2001 in den Tagebüchern des im Frühjahr verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz geschlossen, jene Phase, in der der Autor internationale Bekanntheit erfuhr und aus der Isolation gerissen wurde, in die er sich während des ungarischen Kommunismus zurückgezogen hatte, "aufgestört aus dem Gleichmaß seines unglücklichen Lebens", wie sich Claus-Ulrich Bielefeld in der Welt ausdrückt.

Der Thriller-Autor John Le Carre erzählt in "Der Taubentunnel" Anekdoten aus seinem Leben, und auch wenn er keine Interna aus seiner Zeit als Geheimagent preisgibt, fühlen sich die Rezensenten von ihm doch bestens unterhalten. Der Romancier und Essayist Bora Cosic berichtet in "Konsul in Belgrad" von der deutschen Besatzung, dem Sozialismus unter Tito, von seinen Anfängen als Autor, vom Zeitungmachen in Cafes, vom Jungsein, von den Frauen und vom Provinzialismus, wie Paul Ingendaay in der FAZ äußerst angetan zusammenfasst.

Wenn ein Historiker und ausgewiesener Holocaust-Experte wie Saul Friedländer seine Autobiografie vorlegt, ist davon auszugehen, dass sie schon durch analytische Schärfe aus der Fülle der Zeitzeugenberichte herausragt. In "Wohin die Erinnerung führt" (bestellen) knüpft Friedländer an sein Memoirenbuch "Wenn die Erinnerung kommt" aus dem Jahr 1978 an, in dem er seine Kindheit im Krieg und die Flucht nach Frankreich nachzeichnete. Der neue Band setzt in der Nachkriegszeit ein und erzählt von der Migration nach Israel, gefolgt von Studien-, Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Stockholm, Genf, Jerusalem, Tel Aviv, Berlin und Los Angeles, vor allem aber von der Auseinandersetzung mit dem Lebensthema Holocaust. Friedländers Schilderung, wie er als Holocaust-Foscher trotz aller eigenen Betroffenheit "die Fassade der Normalität" aufrechtzuerhalten versuchte, hat Dietmar Süß (SZ) tief bewegt. Im Merkur hebt Sabine Dultz sowohl die klare Positionierung Friedländers etwa zur israelischen Politik hervor, als auch "seinen Humor, der es ihm vermutlich überhaupt erst ermöglicht hat, sein schweres Schicksal ins Positive zu wenden". Der emeritierte Politologe Hajo Funke lobt in seinem Blog die "beeindruckende Darstellung" für ihre "schriftstellerische Stilsicherheit". Der SWR wählte "Wohin die Erinnerung führt" zum Buch der Woche und empfiehlt es als "außergewöhnliches Leseerlebnis". Sehr hörenswert ist auch Antonio Pellegrinos knapp einstündiges Feature über Saul Friedländer für den br.

Viel Aufsehen hat auch Françoise Frenkels Memoirenband "Nichts, um sein Haupt zu betten" erregt, und das nicht nur wegen seiner kuriosen Entdeckung auf einem Flohmarkt in Nizza. Frenkel ist eine frankophile Polin, die im Berlin der Zwanziger- und Dreißigerjahre eine einschlägige französische Buchhandlung führte, bevor sie nach Kriegsbeginn als Jüdin vor der Naziverfolgung fliehen musste, zunächst nach Frankreich, später in die Schweiz. Wenn Tilman Krause (Welt) liest, wie sich Fremde in Lebensgefahr begeben, um Frenkel zu verstecken oder zur Flucht zu verhelfen, dann hat das Buch für ihn "das Zeug, uns den Glauben an das Gute im Menschen zurückzugeben." Als "anschaulich, literarisch anspruchsvoll, dabei direkt und mit vielen Dialogen" lobt Carsten Hueck das Buch im DradioKultur.

Unter den Neuerscheinungen von Holocaust-Zeitzeugen sei außerdem der Band "Anatomie des Holocaust" des Historikers Raul Hilberg hervorgehoben, der Essays und Erinnerungen aus den Jahren 1965 bis 2004 des 2007 verstorbenen Doyen der Holocaust-Forschung enthält. Sehr berührt sind die Kritiker auch von den bereits in den Neunzigerjahren aufgeschriebenen und nun erstmals veröffentlichten Erinnerungen Hannelore Grünberg-Kleins die Ijoma Mangold (Zeit) für ihre "stoisch-gleichmütige Anschaulichkeit" schätzt: ein "kunstlos-kunstvolles" Buch, das ganz ohne Sentimentalitäten vom Überleben im KZ erzählt, staunt der Mangold. Eine Fluchtgeschichte anderer Art (und in andere Richtung) erzählt der Historiker Dmitrij Belkin, der in "Germanija" schildert, wie er Anfang der Neunzigerjahre als "Kontingentflüchtling" aus der Ukraine nach Deutschland kam.

Schließlich sei noch auf den mit großer Begeisterung aufgenommenen Erinnerungsband "Raumpatrouille" hingewiesen, in dem der Schauspieler Matthias Brandt von seiner Kindheit im Kanzlerbungalow erzählt: keine "ranzigen Schnurren aus Bonner Zeiten", wie Sandra Kegel in der FAZ versichert, sondern feine Prosaminiaturen mit einer gelungenen Mischung aus "rheinisch archaischem Humor" und "fast schon pietistischer Strenge". Nicht weniger Zeitgeschichte atmen die Memoiren "My Life on the Road" der feministischen Journalistin Gloria Steinem. Ihr Talent, bei historischen Momenten anwesend zu sein - sei es John F. Kennedys Dallas-Reise oder Martin Luther Kings berühmteste Rede - lässt Steinem wie ein "gescheiter Forrest Gump" erscheinen, meint Susan Vahabzadeh in der SZ.

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