Magazinrundschau - Archiv

The New York Review of Books

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Magazinrundschau vom 14.11.2017 - New York Review of Books

Charles Simic blickt auf das Leben des polnischen Dichters, Diplomaten, Exilanten und Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz, dessen Lebensgeschichte die gesamten Verwerfungen des 20. Jahrhunderts erfasst, wie er auch in Andrzej Franaszeks Biografie nachlesen kann: die beiden Weltkriege, die Russische Revolution, den Nationalsozialismus, das besetzte und das kommunistische Polen. Dass Milosz dichterisch auf Distanz zur Moderne blieb und auf den Realitätsgehalt eines Gedichts pochte, kann Simic bei einer Biografie nur zu gut verstehen, in der es immer ums Ganze ging: "Ich erinnere mich, mit meiner Frau bei einem älteren, sehr kultivierten polnischen Paar in new Hampshire vor ungefähr vierzig Jahren. Wir verstanden uns hervorragend, bis mir entfuhr, wie sehr ich Czeslaw Milosz liebe. Sie erstarrten. 'Er war Abschaum', knurrte der freundliche alte Herr, sichtlich erregt. Ich hatte gehört, um die Reaktion zu verstehen: dass Milosz sich geweigert hatte, 1944 am Warschauer Aufstand gegen die Nazis teilzunehmen, und dass er nach dem Krieg Diplomat für die kommunistische Regierung wurde und als Kulturattaché in New York, Washington und Paris diente. Für die meisten Polen war der Aufstand, den die polnische Exilregierung in London angeordnet hatte, ein heroisches Aufbegehren, nobilitiert durch den Kult patriotischer Tapferkeit. Aber der Aufstand führte zum Tod von zweihunderttausend Menschen in Straßenkämpfen und zur Zerstörung Warschaus. Für Milosz war er ein sinnloser Akt, der unschuldige Menschen das Leben kostete. Aber mehr noch, er glaubte, ihm sei ein anderes Schicksal beschiedene. Laut einem Freund hatte er zu seiner Frau gesagt, 'dass es für ihn darauf ankomme, den Krieg zu überleben: Seine Aufgabe sei es zu schreiben, nicht zu kämpfen.' Da auch meine Familie wie so viele in Osteuropa gespalten, die einen wollten überleben, die anderen kämpfen. Heute verstehen ich nur zu gut die unmögliche Situation der Polen und denke, dass beide auf tragische Weise recht und unrecht hatten."

Benjamin Nathans liest Yuri Slezkines Saga der Russischen Reolution "The House of Government". Frances FitzGerald bespricht noch einmal Ken Burns und Lynn Novicks Dokumentation "The Vietnam War".

Magazinrundschau vom 07.11.2017 - New York Review of Books

Der Krieg in Syrien scheint zu Ende zu gehen, Lindsey Hilsum rekapituliert die Ereignisse, liest von Dissidenten, die sich wünschten, nie rebelliert zu haben, und blickt auf die aktuelle Lage: "Der Kampf gegen den Islamischen in Syrien ist fast vorbei - nach den Angriffen des Regimes und seiner Alliierten auf der einen und der von den USA unterstützten Koalition ist seine Führung auf der Flucht. Sein Territorium wird von Tag zu Tag kleiner. Anderswo in Syrien werden auf Russlands Geheiß die Feindseligkeiten eingestellt. Die Revolution ist gescheitert, und die Kriege, die ihr folgten, verändern entweder ihre Gestalt oder schleppen sich zu ihrem bitteren, kläglichen Ende. Die Fronten auf der Karte verschieben sich noch, doch auch wenn Syrien niemals mehr so vereint werden wird, wie es vor 2011 war, konsolidiert die Regierung Assad wieder mit russischer und iranischer Hilfe ihre Macht in den städtischen Zentren. Neue Konflikte brauen sich zusammen. Die Kurden hoffen, die Kontrolle über den Nordosten wieder zu erlangen, doch ihre Eintracht mit arabischen Kämpfern im Kampf gegen den IS wird den Sieg nicht überstehen: Rakka ist trotz allem eine arabische Stadt. Die Türkei beginnt aus Furcht vor einem kurdischen Staat an ihren Grenzen, zu drohen und arabische Milizen zu unterstützen. Die Amerikaner könnten jetzt da die Schlacht gewonnen ist, aufhören, die syrischen Kurden zu unterstützen, um die Türkei nicht weiter vor den Kopf zu stoßen. Israel wird keine iranische Basis im südlichen Syrien akzeptieren und hat bereits sporadische Luftschläge verübt. Saudi Arabien fürchtet den Aufstieg seines regionalen Rivalen Iran und ist entschlossen, sich dem schiitischen Halbmond zu widersetzen, der sich durch Syrien bis in den Irak und den Libanon zieht."


Kara Walker: Slaughter of the Innocents (They Might be Guilty of Something), 2017. Sikkema Jenkins & Co., New York

Bewundernswert, dass Kara Walker nie die Nerven verloren hat und allen Anfeidungen zum Trotz ihre verstörende Arbeit fortgesetzt hat, meint Darryl Pinckney, der vor ihrer Sphinx aus weißem Zucker am liebsten in die Knie gegangen wäre: "Von schwarzer Kunst oder schwarzen Künstler wird erwartet, dass sie die Würde und die Schönheit schwarzer Menschen wieder herstellen beziehungsweise anerkennen. Doch Walker bleibt bei den überzeichneten Gesichtern und den krausen Haaren. Sie sind nicht hübsch. Elizabeth Hardwick schrieb einmal, dass sie in ihrer Kindheit in den zwanziger Jahren in Kentucky Weiße sagen hörte, sie könnten nicht verstehen, warum sich Schwarze fotografieren ließen. Das Gemetzel in Walkers Arbeit fragt Weiße: Was ist an Euch denn so hübsch? Doch bei aller Gewalt sind Schwarze bei ihr keine Opfer. Sie werden verletzt und getötet, aber sie sind nicht machtlos, ihre Bilder fügen sich zu einer Armee der Seltsamen, es sind die Grotesken und Comicfiguren, die Weiße erfunden haben, um sich selbst - und auch Schwarze - zu überzeugen, dass Schwarze nur für niedere Dienste taugen, dass sie unfähig und unwillig zur Revolte sind. Walker richtet gegen Weiße, was Weiße erfunden haben: Die lustigen Gesichter kommen, um Massa zu töten. Jetzt sind sie nicht mehr so lustig, und tatsächlich haben Walkers Arbeiten in der Sikkema Jenkins Ausstellung einen Hauch von Wildheit und Vergeltung."

Magazinrundschau vom 04.10.2017 - New York Review of Books

Schön, dass alle genau wissen, wie Europa zu helfen wäre, meint Anne Applebaum nach Lektüre von James Kirchick, Ivan Krastev, Giles Merritt und Loukas Tsoukalis. Aber hat jemand auch einen Plan, wie all die Ideen umgesetzt werden können? "Um eine parlamentarische Reform durchzudrücken, eine echte europäische Armee aufzubauen, Unterstützung für ein größeres Budget oder eine Zentralbank zu gewinnen, braucht Europa Institutionen, denen gegenüber die Leute loyal und gebunden sind. Kleine europäische Nationen mit genug Vertrauen auszustatten, dass sie in einer globalen Welt gut bestehen können, genug Wachstum zu erzeugen, damit es auch den Menschen im ländlichen Spanien und Bulgarien gut geht, eine richtige Grenzbehörde aufzubauen, mit der sich die Leute sicher fühlen, die Südeuropäer zu überzeugen, dass sie die russische Bedrohung ernst nehmen, und die Osteuropäer die Flüchtlingskrise - all das erfordert einen Grad an politischer Energie, der auf europäischer Ebene komplett fehlt, und in vielen europäischen Ländern auch auf nationaler."

Weiteres: Linda Greenhouse lässt sich von der Historikerin Marjorie J. Spruill daran erinnern, wie Ende der siebziger Jahre das von der National Women's Conference unter der großen Bella Abzug in die Wege geleitete Equal Rights Amendment gekippt wurde: Obwohl beide Parteien im Kongress dafür waren, tyranniserte die Christian Coalition den Kongress so lange, bis er einknickte. James Fento widmet sich dem mexikanischen Barockmaler Cristóbal de Villalpando. Hayden Pelliccia liest Übersetzungen von Homers "Ilias".

Magazinrundschau vom 05.09.2017 - New York Review of Books

Rei Kawakubo for Comme des Garçons. Blood and Roses, spring/summer 2015; MoMA, Courtesy of Comme des Garçons. Photograph by © Paolo Roversi
Die Rei-Kawakubo-Ausstellung im Moma ist bei uns schon mehrere Male vorgekommen. Trotzdem sollte man unbedingt noch David Salles Text zur Ausstellung lesen, der mit Abstand der beste ist. Das japanische No-Theater ist für Salle erster Anknüpfungspunkt für eine Annäherung an die japanische Modedesignerin, deren erstaunliche Kleidung künstlerische Einflüsse von überall her spielend aufnimmt, zerlegt, auf den Kopf stellt bis sie ganz neu vor einem erstehen. Den "Frank Gehry des Stoffs", nennt Salle sie einmal und ein andermal - noch besser - den "Arcimboldo des Stoffs". Aber am Ende kommt es nicht darauf an, was sie nimmt, sondern was sie daraus macht: "Es gibt eine Art von Kunsterfahrung, die unsere Reaktionen voraussieht und, darüber hinaus, unsere Sehnsucht nach einem bestimmten Gefühl, vor allem dem, zu einem verfeinerteren Ort gelangt zu sein. Die Kunst ist zuerst dort angekommen. Ja, denken wir, wie haben es vorher nicht bemerkt, aber so fühlt es sich an, in diesem Moment lebendig zu sein. Es mag ausgelöst werden durch eine überraschende Nebeneinanderstellung, den neuen Gebrauch eines alten Materials, kombiniert mit einem Griff zurück, einer rudimentären Erinnerung an eine fast verlorene klassische Vergangenheit. Das Gefühl ist kompliziert. Es kann einem den Magen umdrehen, wegen dem, was es von uns verlangt, oder schneidend sein, wenn es, sagen wir, mit einer Kombinierten Malerei von Rauschenberg verbunden ist."

Magazinrundschau vom 12.09.2017 - New York Review of Books

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books schaut sich Simon Kuper David Conns "The Fall of the House of FIFA" genauer an, eine Rekapitulation des Multimillion-Dollar Korruptionsskandals im Weltfußball, und stellt fest: "Blatters Abgang war kathartisch, so wie der Niedergang Saddams im Irak 2003. Aber die alten Pfade der FIFA sind weiterhin intakt. Im Februar 2016 wurde mit Gianni Infantino ein weiterer Schweizer Bürokrat zum Präsidenten gewählt, nachdem er vor 209 nationalen Federations-Präsidenten verlauten ließ: 'Das Geld der FIFA gehört Ihnen'. Ein Satz, der laut Conn spontanen Applaus bekam. Vieles an Infantino lässt an Blatter denken: Seine Begabung in der Vetternwirtschaft, seine multilinguale Bonhomie und sein Anspruchsdenken. Nach Blatter hat die FIFA nur wenige Reformen angestrengt, aber die Verträge der beiden Vorsitzenden des Ethikrates nicht verlängert. Das klingt vertraut. Der Rat hatte Infantino mit verschiedenen Fällen von Misswirtschaft in Verbindung gebracht. Und Infantino hatte Kritik an seiner Person als 'fake news' abgetan. Trotz der in diesem Herbst anstehenden Verfahren in den USA und in der Schweiz - der Fall FIFA ist merklich abgekühlt. Kaum ein Journalist befasst sich regelmäßig mit der Organisation."

Fintan O'Toole denkt über die irische Frage nach, die mit dem Brexit wieder hochkommt: Denn das Belfast Abkommen versöhnte den irischen und den britischen Nationalismus. Doch Britannien gibt es so nicht mehr: "Jede einzelne Region von England-ohne-London stimmte für den Austritt aus der EU, von den Cotswolds bis Cumbria, von den sanften Hügeln bis zu zerklüfteten Bergbautälern. Das war ein genuin nationalistischer Aufstand, eine Nation überwand ihre soziale und geografische Spaltung und versammelte sich hinter dem Ruf 'Take back control'. Doch die Nation, um die es hier geht, ist nicht Britannien. Es ist England."

Weitere Artikel: David Cole besteht auf der Meinungsfreiheit, auch angesichts der Hassreden von Trump-Anhängern. Geoffrey O'Brien liest Jonathan Goulds Otis-Redding-Biografie "An Unfinished Life".

Magazinrundschau vom 08.08.2017 - New York Review of Books

Im aktuellen Heft der New York Review of Books erfährt Annette Gordon-Reed, woher die Amerikaner ihr verkrampftes Verhältnis zum Sex haben, vom Christentum nämlich. Geoffrey R. Stones Buch 'Sex and the Constitution' klärt sie auf: "Das amerikanische Verständnis von Sex ist über Jahrhunderte von religiösen, namentlich christlichen Überzeugungen von Sex, Sünde und Scham geprägt worden. Diese Geschichte, so Stone, wirft eine irritierende Frage für die Praxis des Verfassungsrechts auf. Jahrelang haben sich Gerichte in Sachen Sex an christlichen Traditionen orientiert, obwohl die Trennung von Kirche und Staat gilt. Bei den Themen sexuelle Orientierung, Abtreibung, Verhütung, Pornografie haben Richter immer wieder religiöse Prinzipien in ein säkulares Gewand gekleidet, und zwar, indem sie zwischen ihren moralischen und den religiösen Ansichten unterschieden. Kenntnisreich über mehrere Jahrhunderte amerikanischer Rechtssprechung in Sachen Sex schreibend, zeigt Stone, dass die Linie zwischen moralischer und religiöser Argumentation eigentlich immer illusorisch war, da Gesetzgebung und Richter sich auf religiöse Überzeugungen beriefen, um zu entscheiden, was moralisch und richtig für alle Bürger und was legal, was illegal war. Das Christentum als dominante Religion war der Quell für moralische Doktrin. Diese Vorstellungen, glaubt Stone, sind so tief in der US-amerikanischen Kultur verankert, dass man zum Beginn des Christentums zurückgehen muss, um amerikanische Haltungen zum Thema Sex verstehen zu können … In einem Überblick über das Verständnis von Sex in der Antike macht Stone die frühen Christen dafür verantwortlich, dem Sex jeden Spaß genommen zu haben."

Magazinrundschau vom 15.08.2017 - New York Review of Books

Marcel Ophüls Dokumentation über die Nürnberger Prozesse "The Memory of Justice" wurde 1975 in Cannes gezeigt, kurz und heftig angefeindet und dann in die Archive abgeschoben. Nun zeigt HBO die restaurierte vierstündige Fassung, und Ian Buruma ist völlig fasziniert. Ophüls setze keineswegs die Verbrechen der Nazis mit denen der Amerikaner in Vietnam oder der Franzosen in Algerien gleich, betont Buruma, sondern zeige, dass Verbrechen nicht von hässlichen Ungeheuern begangen werden: "Das vielleicht verstörendste Interview in dem Film führt Ophüls nicht mit einem reuelosen Kriegsverbrecher, sondern mit dem geschätzten Anwalt Otto Kranzbühler. Während des Krieges war er Marinerichter, bei den Nürnberger Prozessen verteidigte er Admiral Dönitz und war in seiner Marineuniform eine schneidige Figur. Später machte eine erfolgreiche Karriere als Firmenanwalt und verteidigte unter anderem Alfred Krupp gegen den Vorwurf, er habe von Sklavenarbeit profitiert. Kranzbühler rechtfertigte niemals den Nationalsozialismus. Als er aber von Ophüls gefragt wird, wie er seinen Kindern die eigene Rolle im Dritten Reich erkläre, zitiert er die Formel, zu der er immer greife: 'Wer nicht Bescheid wusste , war ein Dummkopf; wer Bescheid wusste, aber wegsah, war ein Feigling; wer Bescheid wusste und mitmachte, war ein Verbrecher.' Ob das seine Kinder beruhigt hätte? Kranzbühler: 'Meine Kinder erkannten ihren Vater in keiner diesen Kategorien.' Eine brillante Ausflucht." Mithalten kann da höchstens Edgar Faure, der Frankreichs Ankläger in Nürnberg war und später als Premierminister über die Verbrechen in Algerien meinte: "Die Dinge gerieten ein wenig außer Kontrolle. Aber man kann Politiker nicht kritisieren, die mit der schwierigen Aufgabe betraut sind, eine Regierung zu führen." Ophüls Film findet man auf Deutsch auf Youtube: Teil 1, Teil 2.

Kann gut sein, dass die Wohnungsnot in New York schon die Kriterien für eine humanitäre Krise erfüllt, bemerkt Michael Greenberg. Über sechzigtausend Einwohner sind in New York bereits wohnungslos, oft Familien mit Kindern. Trotz weitgehender Mieterrechte, trotz Bestandsschutz und Preisbremse kommt die Stadt nicht gegen die Spekulationen der Investmentfonds an: "Ein Gebäude in Crown Heights mit hundert preisgebundenen Wohnungen und Mieteinnahmen von 1,2 Millionen Dollar im Jahr kann heute für 40 Millionen Dollar verkauft werden - aber damit sich die Investition lohnt, müssen alle Mieter raus. Die Käufer sind meist Private Equity Fonds, die einen begrenzten Pool von Investorengeldern managen: Ein Fonds, der in Central Brooklyn Geschäfte macht, beschreibt sich selbst als Vermögensbeteiligungsfirma, die sich in der Neupositionierung  von Mehrfamilienhäusern spezialisiert habe. Der aggressive Eintritt von hyperkapitalisierten Investoren auf dem Markt für die untere Mittelklasse hat nicht nur Central Brooklyn erreicht, sondern auch - wie ein Donnerschlag - die South Bronx, East Harlem, Washington Heights und jede andere Nachbarschaft mit Bestandsschutz. In den äußeren Bezirken gibt es damit einen neuen Eigentümertypus , der sich langwierige, rücksichtslose Räumungsverfahren und Mieterrauskauf leisten kann, wie es den früheren, meist individuellen Besitzern nicht möglich war."

Weiteres: Lang, aber ungeheuer gewinnbringend findet John Banville Rainer Stachs nun auch komplett auf Englisch vorliegende 3-teilige Kafka-Biografie. Lorrie Moore huldigt den Liedern Stephen Stills. Und Jessica Mathews fragt, warum sich Donald Trump jetzt doch auf Nordkorea statt auf den Iran einschießt.

Magazinrundschau vom 11.07.2017 - New York Review of Books

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books befasst sich Matthew Cobb mit Neuerscheinungen zum Thema Gen-Editing (CRISPR). Cobb empfiehlt vor allem das von der Biochemikerin und CRISPR-Pionierin Jennifer A. Doudna in Zusammenarbeit mit Samuel H. Sternberg verfasste Buch "A Crack in Creation", für Cobb ein starker Mix aus wissenschaftlichen und ethischen Perspektiven, der helfen könnte, uns vor CRISPRs dystopischem Potenzial zu bewahren: "Die Notwendigkeit der Regulierung von CRISPR wird offenbar, wenn die Autoren die für sie gefährlichste Seite ihrer Technik vorstellen, die Entwicklung von sogenannten 'gene drives', Genantrieben (zur beschleunigten Ausbreitung von Genen in Populationen, d. Red.), vor allem bei Spezies mit kurzen Generationenfolgen, wie Insekten-Epidemien … Unter Verwendung eines Genantriebs wird die Frequenz des veränderten Gens exponentiell gesteigert und die gesamte Population in kürzester Zeit damit überflutet. Wissenschaftler wollten die Technologie nutzen, um Moskitos zu sterilisieren oder sie als Malariaüberträger unschädlich zu machen, was enorme Auswirkungen auf die Epidemiologie einiger der tödlichsten Krankheiten hätte … Das Problem ist, dass der Genantrieb im Grunde eine biologische Bombe darstellt, die alle möglichen ungewollten Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Haben wir den Moskito erst für den Malaria-Parasiten unattraktiv gemacht, könnte der Parasit mutieren, etwa so wie bei Antibiotika, um die Auswirkungen des 'gene drive' zu unterlaufen. Das wieder könnte bedeuten, dass er gegen unsere Antimalariamittel immun wird."

Weitere Artikel: Ein schwarzer Mann gilt in den USA immer als schuldig - bis zum Beweis seiner Unschuld, weiß der Anwalt Bryan Stevenson aus eigener Erfahrung und erklärt dies aus der Geschichte. Sue Halpern sah Laura Poitras' Doku über Julian Assange. Colm Tóibín las Édouard Louis' autobiografischen Roman "Das Ende von Eddy". Julian Bell besuchte zwei Pariser Pissarro-Ausstellungen, im Musée Marmottan Monet und im Musée du Luxembourg.

Magazinrundschau vom 06.06.2017 - New York Review of Books

Marcia Angell liest zwei Bücher, die sich mit dem "Schlachtfeld Abtreibung" in den USA auseinandersetzen: Karissa Haugebergs "Women Against Abortion" und Carol Sangers "About Abortion". Beide beschreiben den langen Kampf um das Recht auf Abtreibung und den Backlash, der in den letzten Jahren eingesetzt hat. Einer der Gründe, warum Abtreibung in Teilen der Bevölkerung verurteilt wird, ist laut Sanger das Geheimnis, das um Abtreibungen gemacht wird. "Obwohl Abtreibung legal ist, verschweigen viele Frauen ihre Abtreibung, meint sie. Sie halten sie vor Freunden geheim, so als befürchteten sie Schuldzuweisungen. ... Nach Ansicht Sangers sollten Frauen offen über eine Abtreibung sprechen, so wie sie heute offen über lange geheimgehaltene Dinge wie Depression, Homosexualität, Scheidung, Fehlgeburten oder Brustkrebs sprechen. 'Das Fehlen der privaten Diskussion verzerrt die öffentliche Debatte, was wiederum den politischen Diskurs verzerrt, der die Grundlage des legislativen Prozesses ist', schreibt Sanger. 'Geheimhaltung verhindert potentielle Solidarität oder Lösungen.'"

Außerdem: Schade, dass Hemingway sich nie von seinem Männlichkeitswahn befreien konnte, meint Fintan O'Toole.

Magazinrundschau vom 13.06.2017 - New York Review of Books

Zu seiner Überraschung muss Adam Kirsch feststellen, dass es so etwas wie eine posthabsburgische Moderne gab. Die Information dazu entnimmt er dem Buch "Edge of Irony: Modernism in the Shadow of the Habsburg Empire" der großen amerikanischen Kritikerin Marjorie Perloff, die als 13-jährige mit ihren Eltern aus Wien emigrierte. Sechs Autoren macht sie als Gründerväter dieser Moderne aus: Paul Celan, Joseph Roth, Elias Canetti, Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein und Robert Musil (die größte Irritation für einen deutschen Leser ist, dass Sigmund Freud und Franz Kafka nicht dabei sind). Kirsch muss lernen, dass sie seinen Göttern Ezra Pound oder Virginia Woolf gleichkommen und einiges mit ihnen gemein haben: "Die Bevorzugung des Fragments gegenüber einem Ganzen, der Widerstand gegen 'Geschlossenheit', die zersetzende Kraft der Analyse. Diese Eigenschaften, die wir in Eliots 'The Waste Land' oder Pounds 'Cantos' finden, verortet Perloff auch in Werken wie denen Wittgensteins oder den 'Letzten Tagen der Menschheit' von Karl Kraus. Der Unterschied ist, dass die Austromodernisten anders als Eliot oder Pound, die sich reaktionären Doktrinen hingaben, um die Schäden des 20. Jahrhunderts zu reparieren, in Skepsis verharren. Um ein Wort zu benutzen, das Perloff vermeidet - es ist etwas Liberales - im Sinne des Anti-Utopischen, Anti-Ideologischen - um diese Autoren."

Außerdem: David Shulman wirft anlässlich einiger Neuerscheinungen zum Sechstagekrieg einen sehr kritischen blick auf die israelische Politik seit 1967. Und Charles Simic erinnert an den Lyriker Philip Levine.