Bücher der Saison

Frühjahrsbücher 2014: Sach- und politische Bücher

18.04.2014.
Romane / Reportagen, Essays, Erinnerungen, Lyrik / Sach- und politische Bücher


Sach- und politische Bücher

Naturwissenschaften

Das nennt man wohl gutes Timing: Gerade erst hat Sibylle Lewitscharoff mit ihrer Dresdner Rede gegen die künstliche Befruchtung polemisiert, da erscheint mit Andreas Bernards "Kinder machen" eine Studie über neue Reproduktionstechnologien. Die Resonanz ist entsprechend groß, die Dankbarkeit für die Versachlichung der Debatte deutlich. "Bernard erzählt materialreich, souverän argumentierend und sprachlich brillant eine faszinierende Geschichte", schwärmt Peter Praschl in der Welt und meint damit nicht zuletzt die Geschichte des rapiden Gesinnungswandels gegenüber "Retortenbabys", die die SPD noch vor zwanzig Jahren unter Strafe stellen wollte. Auch Elisabeth von Thadden liest das Buch für die Zeit mit Interesse und Gewinn, bleibt jedoch mit der Frage zurück, was die Märkte wohl in weniger reichen Weltgegenden aus der ganzen Technik schöpfen werden. Ähnliche Gedanken macht sich auch Martina Lenzen-Schulte in der FAZ, die Bernards Darstellung insgesamt zu unkritisch findet und entschieden die "dunkle Seite" der Reproduktionsmedizin vermisst.

Entzückung ruft der Band "Die verlorenen Welten des Zdenek Burian" unter den Rezensenten hervor. Der Name des tschechischen Zeichners Zdeněk Burian (1905-1981) mag nur Kennern vertraut sein, doch seine detaillierten Darstellungen von Dinosauriern und anderen prähistorischen Kreaturen haben unser aller Bild der fernen Vorzeit maßgeblich geprägt. Für Burkhard Müller (SZ) kann Burian mit einem kanonisierten Klassiker wie Alfred Kubin locker mithalten, und auch wenn manches nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Forschung sein mag, kann sich Tim Caspar Boehme in der taz an den fantastischen Wesen und psychedelischen Farben "kaum satt sehen". Darin, dass Steven Pinker mit "Der Stoff, aus dem das Denken ist" über die sprachlichen Grundlagen des Denkens kein ganz großer Wurf gelungen ist, sind sich die Rezensenten einig, ebenso aber auch darin, dass sich in dieser so fakten- wie anekdotenreichen Studie mehr als genug anregende Denkanstöße finden, um die Lektüre zu rechtfertigen. "Beherzt querlesen!", rät denn auch Volkart Wildermuth im DRadio Kultur. Wolfgang Krischke lobt in der FAZ die hervorragende Übersetzung durch Martina Wiese.


Internet

"Dieses Buch zerstört Illusionen und lässt einem das Blut in den Adern gefrieren", schreibt Nils Minkmar in der FAZ über die Studie "Der NSA-Komplex" von Marcel Rosenbach und Holger Stark. Auf fast 400 Seiten zeigen die beiden Spiegel-Journalisten die Dimension des grenzenlosen Überwachungsapparates, den Edward Snowden mit seinen Enthüllungen im letzten Juni aufgedeckt hat. Für Vera Linß (DRadio Kultur) lebt das Buch in erster Linie von der "Sprengkraft des Materials". Anfangs liest es sich zwar wie ein Agentenkrimi, doch dann nehmen Zahlen und Statistiken überhand und Linß hätte sich die ein oder andere Anekdoten gewünscht, auch sie weiß: "All die vielen trockenen Fakten lassen sich eben nur schwer in eine publikumsfreundliche Dramaturgie übersetzen." Was beide Rezensenten aus der Lektüre mitnehmen, ist eine tiefe Desillusionierung und das Bewusstsein für akuten Handlungsbedarf.

Kaum weniger ernüchternd ist die Lektüre von Heriberto Araújos und Juan Pablo Cardenals Studie "Der große Beutezug" wenn wir den Rezensenten glauben können. Die beiden spanischen Reporter untersuchen darin Chinas globale Handelspolitik, die auf der Ausbeutung von Arbeitern und Rohstoffen und nicht zuletzt auf Industriespionage basiert. Christoph Giesen (SZ) und Manfred Osten (FAZ) zeigen sich beeindruckt von der Aktualität des Buches und der Rechercheleistung der Autoren, die auf ihrer Reise durch 25 Länder über 500 Interviews geführt haben. Am Ende steht für sie die Erkenntnis: nicht China wird verwestlicht, sondern die Welt wird sinisiert.

Bereits im letzten Bücherbrief haben wir auf das Buch "Wem gehört die Zukunft?" von Jaron Lanier hingewiesen, in dem der Internetpionier beklagt, dass von den Aktivitäten der Internetnutzer inzwischen nur noch Geheimdienste und Konzerne profitieren und der Mittelstand auf der Strecke bleibt.


Politik und Geschichte

In der Ukraine überschlagen sich die Ereignisse, und der Band "Majdan!" versammelt als "Momentaufnahme eines Aufstands" Essays, Reflexionen und Gedichten von Schriftstellern und Intellektuellen aus der Ukraine und dem restlichen Europa, von Juri Andruchowytsch und Adam Michnik über Orlando Figes und Timothy Snyder bis zu Mykola Rjabtschuk und Serhij Zhadan. Einen Blick direkt ins Herz der Revolution erlaubte der Band Cathrin Kahlweit, die in der SZ versicherte, dass die Aktualität des Bandes nicht auf Kosten der Tiefgründigkeit geht. In der Zeit erlebte Alice Bota noch einmal, wie aufregend Geschichte sein kann und nimmt vor allem Timothy Garton Ashs Rat an die journalistischen Kollegen mit: "Lass alle Narrative hinter Euch, Ihr Reporter, die Ihr hier eintretet!"

Zwiespältig wurde das Buch "Der Geschmack von Asche" der in Yale lehrenden Historikerin Marci Shore aufgenommen, die über zwei Jahrzehnte die Veränderungen in den ost- und mitteleuropäischen Ländern verfolgte. Vor allem über die falsche Etikettierung haben sich die Rezensenten geärgert, von historischer Analyse könne hier keine Rede sein. Aber richtig gut fanden sie das Buch als persönlichen intellektuellen Reisebericht: In der taz lobte Katharina Bader Shores feines Gespür für "die Grautöne des realen Lebens". In der SZ nennt Jens Bisky sie eine mitreißende Erzählerin, und Karl Schlögel würdigt in der FAZ das Buch als Beitrag zur Neuvermessung des Kontinents. Rundweg positiv aufgenommen wurde Holm Sundhaussens Geschichte der Stadt "Sarajewo" in der über Jahrhunderte Muslimen, Orthodoxen, Katholiken und Juden miteinander, nebeneinander und gegeneinander lebten. Überzeugend findet Florian Hessel die Darstellung des emeritierten Historikers. In der FR ist Norbert Mappes-Niedegk sehr eingenommen von dem Buch.

"Maos großer Hunger" von Frank Dikötter ist im englischen Original bereits 2012 erschienen. In der London Review of Books bezeichnete James C. Scott das Buch als "die sicherlich beste und umfassendste Geschichte der großen Hungersnot". Im Observer würdigte James Fenby nicht nur die beeindruckende Darstellung, sondern auch die große Rechercheleistung des britisch-niederländischen Historikers, demzufolge die 45 Millionen Toten nicht nur dem Hunger zum Opfer gefallen sind, sondern auch dem Morden und Foltern eines brutalen militaristischen Systems. Die deutsche Übersetzung ist bisher wenig besprochen worden. In der Welt las Alan Posener, der in seiner Jugend selbst nach Peking gepilgert war, diese Bilanz von Maos mörderischem Experiment mit zunehmender Verzweiflung über die beharrlichen Bewunderer des großen Steuermanns. In der FAZ bezeichnet der Historiker Jürgen Osterhammel dagegen das Buch etwas verächtlich als "Litanei des Grauens".

Auf die Essays des britischen Historikers Perry Anderson aus der London Review of Books ist Detlev Claussen quasi abonniert, wie er in der taz bekennt. Und auch in dem Band "Die indische Ideologie" kann er nur bewundern, wie klar und packend Anderson über ein solch komplexes Gebilde wie den indischen Subkontinent, die Geschichte der Teilung und seine trügerischen Selbstbider schreiben kann. Hinterher ist man gerantiert klüger, beteuert Claussen. Im Deutschlandfunk empfahl Sabina Matthay das Buch sehr nachdrücklich: Ein solch ätzende, aber gerechtfertigte Kritik am Hindu-Chauvisnismus, an Kastenwesen und den Nationalheiligen der Kongresspartei, inklusive Gandhi und Nehru, hat sie noch nicht gelesen.

Gut besprochen wurden außerdem Marianne Birthlers Erinnerungsband "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben" Marta Kijowskas Biografie des polnischen Kuriers Jan Karski der britische und amerikanische Politiker 1942 vergeblich über die Shoah aufklärte, und Tom Reiss' Buch "Der schwarze General" über das Leben des wahren Grafen von Monte Christo Alex Dumas.


Philosophie

Elias Canetti hat den Tod nicht gescheut oder gefürchtet, er hat ihn abgrundtief gehasst. Wie Martin Meyer in der NZZ schreibt, war er für ihn der "totale Tiefpunkt einer letztlich verfehlten Schöpfung". "Das Buch gegen den Tod" haben Canettis Tochter Johanna und der Schweizer Germanist Peter von Matt aus dem Nachlass herausgegeben, und Meyer hat in diesen Notaten den ganzen Canetti erlebt: eminent vital, polemisch, bösartig und unberechenbar zwischen Naivität und Scharfsinn schwankend - aber immer mit Wucht. In einem ebenfalls sehr lesenswerten Text erzählt Richard Kämmerlings in der Welt bewegt nach, wie sich der düstere Pessimismus in Canettis Leben regelrecht einbrannte. Aber es muss gewarnt werden: Trost geht von diesem Buch nicht aus, nur Empörung über einen Gegner, der Verbündete in den allerhöchsten Kreisen hat.

Viel besprochen wurden außerdem die Schwarzen Hefte Martin Heideggers 1931-38 1938/39 und 1939-1941 sowie Lutz Hachmeisters Buch "Heideggers Testament" über die Vor- und Nachgeschichte des legendären Spiegel-Interviews 1966 mit Martin Heidegger. Hingewiesen sei außerdem noch auf Lisa Herzogs Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, "Freiheit gehört nicht nur den Reichen"


Kunst und Fotografie

Wieviel Inszenierung verträgt die Realität? In seinem "Der Schatten des Fotografen" macht sich der Kulturwissenschaftler Helmuth Lethen auf die essayistische Rettung der Wirklichkeit in der Fotografie. Mit allen Wassern der Zeichentheorie gewaschen, blickt Lethen auf seine eigene intellektuelle Biografie zurück, die ihn von Alain Resnais, Vittorio de Sica und Roberto Rossellini, über Walter Benjamin und Roland Barthes zu Siegfried Kracauer (und in den maoistischen Kulturkampf) führte. Dabei kommt er immer wieder zu den großen Ikonen der Bildgeschichte: Robert Capas Landung der Alliierten in der Normandie, Dorothee Langes "Migrant Mother" oder die arrangierte Erschießung eines Vietcong durch den Polizeipräsidenten von Saigon. In der SZ feiert Fritz Göttler die "erinnerungsstarke Offenheit" und "intellektuelle Klarheit" Lethens. In der FAZ lobt Jochen Schimmang das Buch. Ingo Arend nennt das Buch in der taz eine veritable "Schule des Sehens". In der Zeit lästert Wolfgang Ulrich allerdings über diese "Unterhaltungsprosa für Geisteswissenschaftler". Als Kostprobe dient vielleicht ein Interview in Cicero in dem Lethen zum Beispiel fragt, warum in der Kriegsfotografie nur Opfer abgebildet werden, aber keine Kämpfer.

Wie bei den Luxuseditionen aus dem Taschen Verlag gewohnt überschlagen sich die Rezensenten auch bei dieser prächtige Werkausgabe vor Begeisterung: Alles, was es über Hieronymus Bosch zu wissen gibt, steht in diesem Band, jubelt Andreas Platthaus in der FAZ. So anmutig und sinnlich hat er den Garten der Lüste noch nie vor sich gehabt wie auf diesen großzügigen Bildtafeln, frohlockt Burkhard Müller in der SZ. Und in der FR findet Christian Thomas den Band einfach phänomenal. Nur halb glücklich wurden die RezensentInnen mit Geordie Greigs Künstlerporträt "Frühstück mit Lucian Freud" Zwar haben Susanne Kippenberger in der Zeit, Catrin Lorch in der SZ und Gina Thomas in der FAZ sehr interessiert fasziniert und amüsiert gelesen, was Großbritanniens oberste Klatschreporter über Freuds turbulentes Privatleben zusammengetragen hat, das sich immerhin vom Adel bis zur Unterwelt erstreckte, doch vermissten sie wenisgtens ein paar substanzielle Aussagen über den Maler.


Musik

Auf Diedrich Diederichsens Großwerk "Pop-Musik" haben wir bereits in unserem Bücherbrief hingewiesen. Seitdem sind noch einige Elogen dazugekommen, etwa von Jens-Christian Rabe in der SZ, der bei Diederichsen die Grundlage des gelehrten Nachdenkens über Pop findet, oder von Dietmar Dath in der FAZ, der "Pop-Musik" so einschlägig findet wie Adornos "Altern der Neuen Musik", aber auch kritische Stimmen, etwa von Jens Balzer, dem das alles in der FR zu normativ ist. Hingewiesen sei auch auf Karl Bruckmaiers sehr eigene Geschichte "The Story of Pop" die den Beginn der Popmusik im Kulturtransfers zwischen Orient und Okzident im 9. Jahrhundert verortet, also in der Überwindung identitäter Trennlinien. In der taz findet Dirk Schneider das originell und überzeugend.

Die SZ empfiehlt außerdem wärmstens die neue Giacomo-Meyerbeer-Biografie von Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring: eine gründlich recherchierte Biografie, zahlreiche brillante Werkanalysen und -beschreibungen und etliche Überraschungen verspricht Rezensent Jens Malte Fischer.


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