Magazinrundschau
Die Hände der Schergen des Bischofs
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.05.2010. Die NYRB löst das Kuba-Dilemma. In Eurozine unterhalten sich Martin Simecka und Laszlo Rajk, über ihre Väter, Kommunisten, die von Kommunisten verfolgt wurden. Für das TLS liest Julian Barnes das Tagebuch von Eugene Delacroix. Odra fragt: "Warum ist Bogdan Wojdowski vergessen?" In Le Point erklärt BHL, warum er die Initiative JCall unterstützt. Der New Yorker porträtiert Andrei Ternowski, den 17-jährigen Erfinder von Chatroulette. Wired ruft nach einer Alternative für Facebook.
Eurozine (Österreich), 07.05.2010

Dazu Martin M. Simecka: "Ich war praktisch mein ganzes Leben umgeben von ehemaligen Kommunisten, die ja immer charmante Menschen sind. Meine Frau Marta kommt aus einer kommunistischen Familie: ihr Vater war während des Zweiten Weltkriegs in Moskau und in den Fünfzigern Chefredakteur der kommunistischen Zeitung. Wir kommen alle aus kommunistischen Familien. Unsere Familien waren Opfer anderer Kommunisten, böser Kommunisten. Sogar heute finde ich es problematisch zu sagen, ich sei ein Antikommunist. Ich mag dieses Wort nicht. Ich hatte einen Mordskrach mit Adam Michnik über die Kundera-Affäre [die Simecka in seiner Zeitschrift Respekt publik machte], und er sagte zu mir: 'Weißt du, was mit dir los ist? Du gehörst jetzt zu den Antikommunisten. Das ist die schlimmste Sache von der Welt.' Es gibt sie also immer noch, diese linke intellektuelle Mafia in Europa, wenn ich mal so sagen darf. Es gibt eine tiefe Verbundenheit, nicht nur gemeinsame Erfahrungen, aber eine Weltsicht, ein Bekenntnis zu sozialer Gleichheit und Freiheit, die natürlich viele Kommunisten am Anfang teilten. Es ist an der Zeit, diese Fragen aus einer neuen Perspektive zu diskutieren, vor allem jetzt, wo die Linke in Europa an Ideenmangel leidet und nicht mehr die Freiheit verteidigt."
Laszlo Rajk: "Es gibt zwei fundamentale Elemente in der politischen Wende, die in der Vergangenheit wurzeln, und kein postkommunistisches Land konnte damit wirklich umgehen. Das sind die Privatisierung und die Nomenklatura. Jedes Land hat verschiedene Methoden der Privatisierung oder Teilprivatisierung probiert und keine war erfolgreich. Keine. (...) Man kann dieses Element nicht auslassen, wenn man über die Nomenklatura spricht und wie sie sich in die neue Ära katapultiert hat. Das sind zwei Schlüsselfragen, die das gegenwärtige politische Leben beeinflussen und es auch in Zukunft tun werden."
London Review of Books (UK), 13.05.2010

Jeremy Harding schildert in einem umfassenden, fast schon buchartigen Essay die Anfälligkeit der britischen sowie der weltweiten Nahrungsmittelversorgung, aber auch die massiven Probleme, die die aktuellen Produktions- und Konsumgewohnheiten hervorbringen. Darunter die Ausbeutung, auf der sie beruhen: "Dann ist da die Situation der 1,1 Milliarden Agrararbeiter: Mehr als die Hälfte von ihnen besitzen weder Land noch Maschinen und leben in einem Zustand der Semi-Sklaverei. Inzwischen werden die Arbeitsbedingungen dieser neuen globalen Unterschicht auch als ökonomisches Problem erkannt: Die weltweite Nahrungsmittelproduktion nimmt ab, weil die unhaltbaren Zustände die Arbeitskraft schwächen und immer mehr Menschen in die Städte treiben."
Weitere Artikel: In einer recht scharfen Abrechnung beschreibt David Bromwich, wie sich Barack Obama, der als Gegner des Establishments antrat, längst zu dessen bestem Mann entwickelt hat. In einer gründlichen und sehr US-kritischen Analyse erklärt Gareth Pierce, warum die USA noch immer bei weitem nicht Rechtsstaat genug sind, um eine Auslieferung von Terroristen dorthin zu rechtfertigen. Peter Campbell bespricht die Ron-Arad-Ausstellung im Barbican und Jenny Diskis liest ein Buch, in dem die rechte Kolumnistin Melanie Phillips alles, was ihr liberal und links vorkommt, als Macht des Irrationalen und Bösen verdamm.
Polityka (Polen), 07.05.2010

New York Review of Books (USA), 27.05.2010
Daniel Wilkinson und Nik Steinberg von Human Rights Watch skizzieren das Kuba-Dilemma: Das Handelsembargo der Vereinigten Staaten hält viele - zum Beispiel Gabriel Garcia Marquez, den brasilianischen Präsidenten Lula da Silva oder Chiles Präsidentin Michelle Bachelet - davon ab, Castro wegen seiner Menschenrechtsverletzungen zu verurteilen. Und Menschenrechtsverletzungen gibt es auf Kuba viele, wie die beiden sehr eindrücklich beschreiben. Ihr Vorschlag: "Präsident Obama sollte Verbündete in Europa und Lateinamerika suchen und vorschlagen, das Embargo aufzuheben, wenn gleichzeitig eine Koalition Druck auf Kuba ausübt, eine einzige konkrete Forderung zu erfüllen: die Freilassung aller politischen Gefangenen. Einige Regierungen, vor allem in Lateinamerika, werden diesen Vorschlag sicherlich ablehnen. Aber für viele andere wird die Aussicht auf ein Ende des Embargos das Haupthindernis abbauen, das sie so lange davon abgehalten hat, die Misshandlungen der kubanischen Regierung öffentlich zu verurteilen. Und die Konzentrierung des multilateralen Effekts ausschließlich auf die politischen Gefangenen wird es für die Staatsmänner, die behaupten, sie respektierten die Menschenrechte, sehr schwer machen, weiterhin zu schweigen."
Außerdem: Ian Buruma bespricht William T. Vollmanns "Kissing the Mask: Beauty, Understatement and Femininity in Japanese Noh Theater, with Some Thoughts on Muses (Especially Helga Testorf), Transgender Women, Kabuki Goddesses, Porn Queens, Poets, Housewives, Makeup Artists, Geishas, Valkyries and Venus Figurines" - hart zu schlucken, wenn Vollmann nicht so einen "warmblütigen Romantizismus" pflegen würde. Richard C. Lewontin nimmt "What Darwin Got Wrong" von Jerry Fodor und Massimo Piattelli-Palmarini auseinander. Orville Schell liest mehrere Bücher über den Klimawandel und das Schmelzen der Gletscher. Und Marc Lilla sieht hinter der Tea-Party-Bewegung einen neuen politischen Typus aufschimmern: "den antipolitischen Jakobiner", der den Institutionen misstraut und ein enormes Selbstbewusstsein hat, alles aus eigener Kraft zu schaffen.
Außerdem: Ian Buruma bespricht William T. Vollmanns "Kissing the Mask: Beauty, Understatement and Femininity in Japanese Noh Theater, with Some Thoughts on Muses (Especially Helga Testorf), Transgender Women, Kabuki Goddesses, Porn Queens, Poets, Housewives, Makeup Artists, Geishas, Valkyries and Venus Figurines" - hart zu schlucken, wenn Vollmann nicht so einen "warmblütigen Romantizismus" pflegen würde. Richard C. Lewontin nimmt "What Darwin Got Wrong" von Jerry Fodor und Massimo Piattelli-Palmarini auseinander. Orville Schell liest mehrere Bücher über den Klimawandel und das Schmelzen der Gletscher. Und Marc Lilla sieht hinter der Tea-Party-Bewegung einen neuen politischen Typus aufschimmern: "den antipolitischen Jakobiner", der den Institutionen misstraut und ein enormes Selbstbewusstsein hat, alles aus eigener Kraft zu schaffen.
Times Literary Supplement (UK), 07.05.2010
Der Schriftsteller Julian Barnes macht einem sofort Lust, das Tagebuch von Eugene Delacroix zu lesen: "Delacroix war 24 Jahre alt, als er am 3. September 1822 begann, sein Tagebuch zu schreiben. Es beginnt mit einer einfachen Erklärung und einem verführerischen Versprechen: 'Ich führe meinen so oft angekündigten Plan aus, ein Tagebuch zu führen. Was ich mir am meisten wünsche ist, nicht zu vergessen, dass ich es für mich allein schreibe. Darum werde ich immer die Wahrheit sagen, hoffe ich, und mich so verbessern. Diese Seiten sollen mich zurechtweisen, wenn ich meine Ansichten ändere. Ich mache mich frohgemut ans Werk.' Man versteht sofort, warum manche Menschen glauben, alle Tagebücher seien geschrieben worden, damit andere sie lesen. Trotz der Behauptung im zweiten Satz lädt uns dieser Absatz ein mitzulesen. Wenn dies ein Roman wäre, hingen wir bereits am erzählerischen Haken: Wir wollen und müssen wissen, ob der Tagebuchschreiber wirklich die Wahrheit erzählt, ob er sich verbessert, ob er seine Ansichten ändert und ob sein anfänglicher Frohsinn schwindet oder nicht."
Außerdem: Kate Webb bespricht Helen Simpsons Erzählband "In-Flight Entertainment" und Daniel Karlin bespricht zwei Bücher über Lewis Carroll - eins davon sammelt französische Stimmen zu Carroll.
Außerdem: Kate Webb bespricht Helen Simpsons Erzählband "In-Flight Entertainment" und Daniel Karlin bespricht zwei Bücher über Lewis Carroll - eins davon sammelt französische Stimmen zu Carroll.
Caffe Europa (Italien), 07.05.2010
Italien, das Land der Verschwörungen. Als finstere Strippenzieher eignen sich wahlweise Silvio Berlusconi, die Mafia oder der Vatikan. Beim verspäteten Start von Alejandro Amenabars Film "Agora" verdächtigten einige letzteren. Der Fim über die von fundamentalistischen Christen im 5. Jahrhundert ermordete Naturwissenschaftlerin und Philosophin Hypatia lief hierzulande am 1. März an. Nach Italien konnte er nicht verkauft werden, woraufhin im Internet 10.000 Menschen mit einer Petition den unverzüglichen Start forderten. Emanuele Rauco berichtet: "Am 7. Oktober gab es in La Stampa einen Artikel von einer gewissen Flavia Amabile mit dem Titel 'Der Film, den Italien nicht sehen wird', in dem sie die Schlacht um die Veröffentlichung des Films nachzeichnet. Eine zentrale Rolle spielt Jan Klaus Di Blasio, der Autor der Online-Petition. 'Ich will nicht von Zensur sprechen, aber man sollte sich den Mangel an Texten über den Neoplatonismus und Hypatia einmal vor Augen halten. Zum Beispiel die Folge 8 der Reihe über die römische und griechische Philosophie von Giovanni Reale bei Bompiani. Der Band mit dem Titel 'Plotin und der heidnische Neoplatonismus' ist der einzige Band, der nicht mehr erhältlich ist, wie die Di Blasio erklärt. Hinter ihm stehen einige wichtige Persönlichkeiten wie Piergiorgio Odifreddi, ein Wissenschaftler, der für seine antiklerikalen Tendenzen bekannt ist. Er meint: 'Die Figur der Hypatia ist exemplarisch, sie war Mathematikerin, eine Frau von großer Kultiviertheit, die die erste Schlacht zwischen Wissenschaft und Glauben austrug. Sie starb durch die Hände der Schergen des Bischofs von Alexandria, Kyrill, und wurde die erste Märtyrerin der Wissenschaft. Seitdem sind 1600 Jahre vergangen, und wir sind immer noch am gleichen Punkt.'" Mittlerweile ist "Agora" übrigens auch in Italien angelaufen, und Band 8 wird nach Informationen von Umberto Eco demnächst nachgedruckt.
Standpoint (UK), 01.05.2010

Odra (Polen), 01.04.2010

Online lesen darf man die Rezension einer Anthologie zum deutschen Sonderweg, bzw. den deutschen Debatten darüber, die der polnische Germanist Hubert Orlowski kürzlich herausgab. Nach seiner Lesart handelt es sich dabei um keine Diskussion für oder gegen etwas, sondern um ein verinnerlichtes Identitätsdilemma, so die Rezensentin.
American Interest (USA), 01.07.2010

Magyar Narancs (Ungarn), 29.04.2010

Point (Frankreich), 06.05.2010

Wired (USA), 07.05.2010
"Facebook ist zum Schurken geworden", schreibt Ryan Singel in einem Aufsehen erregenden Artikel über das heftig expandierende soziale Netzwerk, das in seinen Standardeinstellungen nach und nach immer mehr private Daten seiner Nutzer freigibt und ausbeutet. Es wäre technisch sehr leicht möglich, so Singel, den Nutzern transparente Auswahlmöglichkeiten über das persönlich gewünschte Ausmaß an Öffentlichkeit zu geben: "Facebook könnte mit einer sehr einfachen Optionenseite starten. Ich bin eine Privatperson. Ich möchte gewisse Dinge teilen. Ich möchte mein Leben öffentlich leben. Je nach Präferenz könnte dann eine Menge an Auswahlmöglichkeiten geboten werden, und jeder hätte die Möglichkeit, später in seine Optionentafel zurückzugehen, um seine Entscheidungen zu revidieren. Dies wäre ein Design, das die Nutzer respektiert. Aber Facebook geht es nicht um Respekt. Es will die Begriffe der Welt von Privatheit und Öffentlichkeit neu definieren." Singels Schluss: ein Aufruf an Programmier - "It's Time for an Open Alternative".
Salon.eu.sk (Slowakei), 05.05.2010

New Yorker (USA), 17.05.2010

Weiteres: Claudia Roth Pierpont ist begeistert von Harvey G. Cohens Duke-Ellington-Biografie (hier spielt Ellington "Take the A Train"). Peter Schjeldahl besichtigt die neue, höchst repräsentative Zentrale der Investmentbank Goldman Sachs. Sasha Frere-Jones hörte das "Midlife"-Album "Love and Its Opposite" der britischen Sängerin und Songwriterin Tracey Thorn. Und David Denby sah im Kino "The Oath", Laura Poitras' Filmporträt des ehemaligen Leibwächters von Osama Bin Laden, und Thomas Balmes Dokumentation "Babies" über das erste Lebensjahr von vier Babies in Namibia, San Francisco, Tokio und in der Mongolei. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Free Fruit for Young Widows" von Nathan Englander und Lyrik von Susan Wheeler, Kathleen Graber und Sophie Cabot Black.
Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.05.2010

Micha Brumlik findet sehr kritische Worte für diese Passage macht dann auf drei reformpädagische Strömungen jenseits des Männerbündischen aufmerksam, die sozialistische Reformpädagogik, die von SPD-nahen Kreisen Anfang des Jahrhunderts entwickelt wurde, zionistische Modelle und amerikanisch-pragmatische. "Ihre größte Gemeinsamkeit fand diese internationale Bewegung darin, über den klassischen, paukenden Schulunterricht hinauszugehen. Gleichwohl gilt, dass all diese Strömungen, Ideologien, aber auch Werkstätten miteinander kommunizierten, in den Jahren vor 1939 vor allem im 'Weltbund für Erneuerung der Erziehung'. Der Zweite Weltkrieg ließ dann allerdings die bestehenden Gemeinsamkeiten kaum bestehen und stattdessen die weltanschaulichen Unterschiede der verschiedenen Programme umso mehr hervortreten."
New York Times (USA), 09.05.2010

In der Sunday Book Review bespricht Harold Bloom ein Buch von Anthony Julius über die Geschichte des Antisemitismus in England - Bloom ist besonders unglücklich über Shakespeares Zeichnung des Shylock: "Keine Darstellung eines Juden in der Literatur wird Shylock jemals an Macht, negativer Eloquenz und Überzeugungskraft übertreffen." Auch wenn ein Martin Heidegger ein Nazi war, sollte man seine Bücher wirklich aus den Philosophieregalen entfernen und ins Propagandaregal neben Alfred Rosenberg stellen, wie Emmanuel Faye in seinem Buch über Heidegger vorschlägt? Das scheint dem Rezensenten Adam Kirsch etwas zu weit zu gehen, mit Daniel Maier-Katkins Buch über die Freundschaft zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger kann er sich aber auch nicht anfreunden - zu apologetisch. Und auch Francis Fukuyama hat die Biografie eines Mannes gelesen, der politisch unmöglich ist und doch endlos faszinierend: Julian Youngs Nietzsche-Biografie.
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