Magazinrundschau
Verzweifeltes Verlangen nach Licht
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.12.2009. In der New York Review of Books schreibt Tony Judt über seine ALS-Erkrankung. Im Merkur beschreibt Wolfgang Ullrich einen neuen Künstlertypus: den Auftraggeber. Der Economist erzählt, wie Fans Harry Potter weiterschreiben. In Prospect erklärt Cristian Mungiu, warum man über den Kommunismus lachen muss. In Nepszabadsag denkt Peter Nadas über die Krise in Ungarn und ihr mögliches Ende nach. Im NouvelObs erklärt Francis Ford Coppola, warum DVDs kostenlos sein sollten. Eurozine führt ein in die Literatur Litauens.
New York Review of Books (USA), 14.01.2010
Der Historiker Tony Judt leidet an ALS. Inzwischen kann er praktisch nur noch seinen Hals und seinen Kopf bewegen. Tagsüber gibt es wenigstens Menschen und Abwechslung. Aber dann kommt die Nacht. "Natürlich kann ich Hilfe rufen, wenn ich sie brauche. Da ich keinen Muskel bewegen kann, ausgenommen Hals und Kopf, steht ein Babyfon neben meinem Bett. Es ist immer angeschaltet, so dass ein Ruf von mir Hilfe bringt. In den früheren Stadien meiner Krankheit war die Versuchung Hilfe zu rufen, fast unwiderstehlich: Jeder Muskel hatte das Bedürfnis nach Bewegung, jeder Zentimeter Haut juckte, meine Blase füllte sich auf mysteriöse Weise nachts und verlangte nach Erleichterung. Ganz generell fühlte ich ein verzweifeltes Verlangen nach Licht, Gesellschaft und dem einfachen Komfort zwischenmenschlichen Verkehrs. Inzwischen habe ich gelernt, die meisten Nächte darauf zu verzichten und Trost und Rückhalt in meinen eigenen Gedanken zu finden. Das letztere ist keine kleine Aufgabe, auch wenn ich selbst das sage."
Merkur (Deutschland), 01.01.2010
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Außerdem übernimmt der Merkur einen Essay des Philosophen John R. Searle aus der New York Review of Book, in dem er - unter Verweis auf Paul Boghossians "Fear of Knowledge" - vehement gegen Relativismus und Sozialkonstruktivismus plädiert: "Es ist hinreichend bewiesen, dass die Ureinwohner Amerikas den Kontinent von der eurasischen Landmasse aus erreichten, indem sie die Beringstraße überquerten. Von indianischer Seite gibt es auch Berichte, wonach es die Nachfahren des Buffalo-Volkes waren, und sie kamen aus dem Inneren der Erde, nachdem übernatürliche Geister die Welt als Wohnstätte für die Menschen hergerichtet hatten. Es liegen also zwei sich gegenseitig ausschließende und einander widersprechende Darstellungen vor. Einige Ethnologen erklären, dass die eine Darstellung so gut wie die andere sei." Aber immerhin, meint Searle, sei es einfacher, beispielsweise Richard Rorty zu widerlegen als Derrida: "Es ist viel leichter, ein schlechtes Argument zu widerlegen als ein wirklich grauenhaftes." (Hier die englische Version)
Weiteres: Gunter Schäble schreibt übers Klima. Cord Riechelmann folgt Alexander von Humboldt nach Zentralasien. und Thomas Frahm blickt auf die schwierige Transformation in Bulgarien.
Economist (UK), 24.12.2009
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Res Publica Nowa (Polen), 28.12.2009
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Der viel diskutierte Beitrag Timothy Snyders bei der "Eurozine"-Konferenz im Mai (hier die im New York Review of Books publizierte Fassung) kann den westlichen Blick auf den Holocaust beeinflussen, meint Jaroslaw Kuisz. "Ohne Zweifel wendet sich der Text gegen eine Geschichtsschreibung allein aus dieser Perspektive. Das 'Zentrum' schreibt eine populäre Weltgeschichte, und ignoriert dabei stur die Stimmen aus der 'Provinz'." So weit, so gut, nur "werden wir wieder ausschließlich als Opfer präsentiert. Snyders Erzählung, so edel sie gemeint ist, ist nichts Anderes, als eine Fortsetzung der Geschichtsschreibung aus Sicht des Westens. Die Opfer früherer Verbrechen bleiben passive 'Provinz'", schreibt Kuisz. Die Freude über die Anerkennung der polnischen Opfer beider Totalitarismen, die Synders Text leistet, solle daher nicht ganz so enthusiastisch ausfallen.
Den schönsten Beitrag in der Zeitschrift - aber auch nicht online - stellt die Analyse des Deutschlandbildes in der polnischen Literatur der letzten dreißig Jahre dar. Przemyslaw Czaplinski (hier ein älterer Beitrag und eine thematische Rezension) konstatiert dabei vor allem eine "bezeichnende Verschiebung", weg von nationalen Opferdiskursen. "Die Darstellung der Deutschen dient der Erfindung eines neuen Polen. Ohne die Veränderung des Denkens über fremde Identitäten ist eine Veränderung der polnischen Identität nicht möglich. Die Darstellung des Anderen ist eine Projektion der eigenen Identität. Je weniger Nationalismus im germanischen Porträt, desto schwieriger ist es, nationale Kategorien für Polen und die Polen aufrecht zu erhalten". Gerade in der Figur des Vertriebenen/ Neuankömmlings habe eine neue Beschreibung von menschlichen Schicksalen jenseits nationaler Stereotypen einen Ausdruck gefunden. Diese Loslösung von ethnischen Zuschreibungen mache erst den Weg frei für eine neue Definition der polnischen Identität. "Wir brauchen Deutschland als Herausforderung für eine neue Art, Geschichte zu schreiben", konstatiert Czaplinski.
London Review of Books (UK), 07.01.2010
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Weitere Artikel: Steven Shapin resümiert das Darwin-Jahr und rückt dabei ein paar Dinge zurecht. Anne Enright porträtiert Irland in der Rezession. John Lanchester erweist sich in seinem Kommentar zum Verkauf der britischen Schoko-Legende Cadbury als intimer Kenner der Schokoriegel-Szene.
Nepszabadsag (Ungarn), 24.12.2009
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Prospect (UK), 01.01.2010
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Tom Chatfield erklärt den Reiz, den vergleichsweise unaufwendig zu realisierende Social-Network-Spiele haben - nicht nur für den Nutzer, sondern auch und gerade für die Produzenten: "Dieses Modell, das seine Einnahmen über Kleinstbeträge generiert, hat ein ganz klares Erfolgsgeheimnis: Daten - und zwar Daten von einer Art, die so kein anderes Online-Geschäft zugänglich macht. Die größten Online-Spiele-Firmen zeichnen heute mehr als eine Milliarde data points pro Tag auf und messen alles. Etwa ob blaue oder rote Gegenstände bessere Verkäufe erzielen oder ob eine bestimmte Formulierung zu größeren Klickraten bei Verkaufsangeboten führt. Sie können auch sehen, wann die Mehrzahl der Spieler aufgibt und dann verschiedene subtile Variationen dieses genauen Zeitpunkts im Spiel für verschiedene Segemente des Publikums produzieren."
Nouvel Observateur (Frankreich), 24.12.2009
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New Yorker (USA), 04.01.2010
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Alex Ross bespricht das Theaterstück "One Evening", das Schuberts "Winterreise" mit Samuel Becketts besonderer Bewunderung für diesen Liederzyklus kurzschließt. "Nichts für Schubert-Puristen ... Letzten Endes lag der Fokus von 'One Evening' weniger auf Schubert als auf Beckett, und die Inszenierung funktionierte am besten als eine schräge Dramatisierung jener Anlässe, bei denen der Schriftsteller die 'Winterreise' isoliert [in sein Werk] übernahm."
Außerdem: Anthony Lane bespricht die Biografie "High Society: The Life of Grace Kelly" von Donald Spoto. David Denby sah im Kino James Camerons Science-Fiction-Spektakel "Avatar" und Guy Ritchies Krimi "Sherlock Holmes". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Baptizing the Gun" von Uwem Akpan und Lyrik von Donald Hall und Rachel Hadas.
Eurozine (Österreich), 28.12.2009
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The Nation (USA), 11.01.2010
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Außerdem: David Yaffes Besprechung der "erschöpfenden, notwendigen und zumindest heute definitiven" Thelonious-Monk-Biografie (Auszug) von Robin D.G. Kelley.
Elet es Irodalom (Ungarn), 18.12.2009
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Times Literary Supplement (UK), 22.12.2009
In höchsten Tönen lobt George Brock Timothy Garton Ashs Essays "Facts are Subversive", die zum Glück alle angeblich professionelle Distanz zu ihrem Gegenstand vermissen ließen: Die Essays über den Islam findet er ganz großartig, aber auch die, in denen Garton Ash "weiter der Frage nachgeht, die er seit dem Zusammenbruch der zentraleuropäischen kommunistischen Regimes 1989 immer wieder gestellt hat: Wie lassen sich politischer Wandel und Gewalt trennen? Die Anhaltspunkte in den Essays sind nicht sehr ermutigend: Garton Ashs frühere Arbeiten über die Revolutionen von 1989 stehen längst auf der Leseliste der Machthaber und Geheimpolizisten in China, Iran und Birma. Die Lektionen wurden verdaut und angewandt."
Babelia (Spanien), 26.12.2009
Die fünfzig wichtigsten Literaturkritiker Spaniens haben für Babelia beziehungsweise für das Jahr 2009 entschieden: Kein Roman, sondern - zum ersten Mal - ein Sachbuch ist der wichtigste Titel des Jahres: "Anatomia de un instante" von Javier Cercas (s. a. hier), über den gescheiterten Putschversuch gegen die junge spanische Demokratie vom 23. Februar 1981. Alberto Manguel nimmt stellvertretend für seine Kollegen kein Blatt vor den Mund: "Ein grandioses Thema garantiert noch lange keine ebenso grandiose Darstellung. Im Fall von 'Anatomia de un instante' ist jedoch eines der wichtigsten Werke der spanischsprachigen Literatur unserer Zeit dabei herausgekommen. Das Buch ist in jeder Hinsicht beispielhaft. Cercas ist es gelungen, in einem ruhigen, flüssigen, genauen Stil einen entscheidenden Augenblick der spanischen Geschichte zu erhellen. Man glaubt, eine politische Chronik zu lesen, deren Handlung durch ihre dramatische Kraft bewegt; in Wirklichkeit jedoch werden wir wie bei den großen griechischen Tragödien zu Zeugen einer grandiosen Tat des Widerstands gegen die sich ständig wiederholende Infamie der Geschichte."
New York Times (USA), 27.12.2009
Christopher Caldwell schafft es in seiner Besprechung von Michael Scammells Koestler-Biografie (Auszug), den Mann in einem Absatz ziemlich interessant zu machen: "Als er 1940 durch Südfrankreich jagte, begegnete er dem Philosophen Walter Benjamin, der ihm die Hälfte seiner Morphiumtabletten abgab. Mit der anderen Hälfte brachte sich Benjamin später um. Der Harvard-Drogen-Guru Timothy Leary gab Koestler in den Sechzigern Psilocybin, Margaret Thatcher suchte in ihrem Wahlkampf 1979 um seinen Rat nach. Und Simone de Beauvoir schlief mit ihm, hasste ihn aber später, und beschrieb ihn in einem fiktiven Porträt als Mann von blendender Intelligenz, der es schaffte andere Leute aus dem Gleichgewicht zu bringen."
Außerdem liest Jonathan Dee "Summertime", den dritten Band von Coetzees Autobiografie und stellt sich mit einer seiner Romanfiguren die Frage: "Wie kannst Du so ein großer Autor und zugleich so ein gewöhnlicher kleiner Mann sein"?
Außerdem liest Jonathan Dee "Summertime", den dritten Band von Coetzees Autobiografie und stellt sich mit einer seiner Romanfiguren die Frage: "Wie kannst Du so ein großer Autor und zugleich so ein gewöhnlicher kleiner Mann sein"?
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