Spätaffäre - Archiv

Für Sinn und Verstand

95 Presseschau-Absätze - Seite 2 von 10

Spätaffäre vom 22.05.2014 - Für Sinn und Verstand

In einem ellenlangen Artikel rekonstruiert Perry Anderson in der LRB das "italienische Desaster", die Korrumpierung und Personalisierung seiner Politik, die Berlusconi so erfolgreich betrieben hat, dass dessen Nachfolger Matteo Renzi vom Mitte-links-Bündnis PD sie nicht mehr bekämpft, sondern übernimmt. Aber, meint Anderson: "Makro-Personalisierung ist ideologisch nicht neutral. Sie ist die Antwort auf eine Welt, in der Personen grotesk aufgeblasen werden - Super Mario und so weiter - und im gleichen Maße parteipolitische Differenzen, und damit Wählerentscheidungen, minimiert. Berlusconis bleibender Erfolg besteht darin, wie er sich sehr wohl bewusst ist, mit Renzi nicht einfach nur einen Führungsstil reproduziert zu haben, sondern eine Politikmarke, die seiner sehr ähnlich ist, so wie Thatcher es mit Blair getan hat. Ihm sei zu verdanken, hat er oft behauptet, dass Renzi die PD umgekrempelt und für alle jede Spur ihrer sozialistisch-kommunistischen Vergangenheit getilgt hat. Er behauptet es zu Recht."

John Lanchester fällt zudem auf, dass die britische Regierung eigentlich nur einen Plan für das Referendum im September hat: Dass die Schotten gegen die Unabhängigkeit stimmen. Michael Wood huldigt Yasujiro Ozus Klassiker "Ein Herbstnachmittag", der im Londoner BFI gezeigt wird.

Am Wochenende wurde der neue Film des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó "Fehér Isten" in Cannes gezeigt. Géza Csákvári stellt ihn in Népszabadság vor: "Der 'Weiße Gott' stellt einen Epochenwechsel dar. Am meisten aus der Sicht von Regisseur Mundruczó: Im Stil und in der Atmosphäre schafft er es, sich von den bisherigen Arbeiten seines Lebenswerkes zu entfernen... Trotz der formalen und sprachlichen Universalisierung ist der Film aber in seiner Thematik und kulturellen Kodierung ungarischer als alles zuvor. Vor allem in Ungarn werden die frustrierten und an einem gestörten Polizeistaat erinnernden gesellschaftlichen Anomalien ernst genommen werden. In den glücklicheren Teilen der Welt wird sicherlich davon ausgegangen werden, dass der dramaturgische Grundlage des Drehbuchs eine gigantische Fiktion ist."

Spätaffäre vom 21.05.2014 - Für Sinn und Verstand

In der aktuellen Ausgabe des New York Magazins fragt sich Gabriel Sherman, wie viele andere auch, warum Arthur Sulzberger Jr., Verleger der New York Times, Chefredakteurin Jill Abramson gefeuert hat. Ganz eindeutig ist das offenbar nicht auszumachen, Sherman spricht von einer Akkumulation möglicher Gründe, einer davon Abramsons Skepsis gegenüber den Neuen Medien: "Sulzberger installierte Thompson (Mark Thompson, CEO der Times) als Impulsgeber, der die Rolle der Zeitung in einer sich mit Hochgeschwindigkeit verändernden Medienwelt überdenken sollte. Thompsons Rolle als Hausphilosoph kollidierte jedoch mit Abramson. Ein Brennpunkt war Thompsons Schwerpunktsetzung bei Videod. Abramson war nicht überzeugt. 'Jill mag Video nicht', sagte mir eine mit Abramsons Denken vertraute Person. 'Für sie gibt es nichts Langweiligeres, als zwei Pressetypen, die sich vor einer Kamera über eine Story unterhalten, die sich ebensogut in einer Minute lesen lässt.'" Erregung verursacht das Ganze nicht zuletzt aufgrund der Plötzlichkeit, mit der Abramson abserviert wurde. "Die merkwürdige Gnadenlosigkeit des Geschehens erinnert an den Rauswurf von Janet Robinson (Ex-CEO des Blattes) und ist inzwischen zum Kennzeichen dieser Ära der Times geworden. Das alles sei nicht der Stil der Times, heißt es aus der Redaktion. Viele empfänden das Verhalten als grob und unwürdig."

Alice Bota beschreibt in einer Reportage für die Zeit, die jetzt online steht, wie sie einen Trupp prorussischer Demonstranten in der Ostukraine begleitet: "Ich stehe neben ihnen, mache keine Notizen, spreche nicht, aber irgendwie muss ich einer älteren Frau aufgefallen sein. Sie kreischt, was ich hier täte, ich zeige ihr die Akkreditierung der 'Volksrepublik Donezk', die ich zwei Stunden vorher abgeholt habe, aber es hilft nicht, Hände greifen nach meiner Tasche, wollen sie durchsuchen, ich öffne die Tasche, sie durchwühlen sie, aber da ist nur die Regenjacke, der Block, das iPad, sie versuchen, es mir zu entreißen..."
Stichwörter: Ostukraine, Thompson, Mark, Donezk

Spätaffäre vom 20.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Bereits im März haben wir in unserer Magazinrundschau auf den Modetrend Normcore hingewiesen, bei dem es darum geht, durch das Tragen von möglichst nichtssagender Kleidung aufzufallen. In einem interessanten Beitrag auf salon.com beruft sich R. Jay Magill Jr. auf Hegel und erklärt Normcore zur Synthese des dialektischen Prinzips von Ernsthaftigkeit und Ironie: "Was als eine Hippie-Kultur des Widerstands gegen die bürgerliche Kultur des Kapitalismus begann, ist zu einem nur noch mächtigeren bürgerlichen Kapitalismus gereift (Steve Jobs, Ben & Jerry, Richard Branson). Sie haben daran geglaubt, dass rebellischer Individualismus immer gegen den Strom schwimmt, auch wenn sie längst der Strom geworden sind, gegen den sie einmal anschwammen, mit dem unglückseligen Ergebnis, dass die Widerstand zu einem Stil degradierten. So wurde Rebellion zur neuen Mitte, und Normcore kommt die Aufgabe zu, den Nonkonformismus für erledigt zu erklären."

Wladimir Putin hat das russische Internet kaputtgemacht, schreibt Anton Nossik in der New Republic, und er weiß wovon er spricht: "Man kann es sich angesichts seiner heutigen Attacken kaum noch vorstellen, aber im Dezember 1999, drei Tage vor seiner ersten Präsidentschaftswahl, gab Wladimir Putin ein feierliches Versprechen, die Rede- und Handelsfreiheit im Internet zu schützen und zu ehren. Er erkannte die Bedeutung dieser neuen Industrie für die Modernisierung Russlands. Er bat alle Köpfe der entstehenden russischen Internetindustrie zu einem Treffen, auch mich. Damals war ich bekannt als Gründer und Chef führender russischer Websites wie Gazeta.Ru, Lenta.Ru, Vesti.Ru, NTV.Ru. Ich war auch der erste russische Blogger des Planeten." Was danach kommt, bis zur jetzigen Betonierung der Internets, liest sich weniger erbaulich.

Spätaffäre vom 19.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Dass Studenten aus wohlhabenden Elternhäusern in den USA im Schnitt viel häufiger ihren Collegeabschluss machen als "Arbeiterkinder", hat weniger mit Begabung zu tun hat als mit Selbstvertrauen, hat man an der Universität von Texas herausgefunden, wie Paul Tough im New York Times Magazine berichtet: "Die Studenten haben Zweifel, ob sie wirklich aufs College gehören. Und sie glauben, dass Intelligenz eine fixe Größe ist, die sich durch Lernen nicht verändern lässt. Wenn sie Erfahrungen machen, die sie glauben lassen, sie seien nicht schlau genug, eine schlechte Note etwa, interpretieren sie das als Zeichen dafür, dass sie es niemals schaffen werden... Studenten aus wohlhabenden oder akademischen Verhältnissen nehmen Rückschläge viel entspannter hin. Nur Studenten mit den speziellen Ängsten und Exklusionserfahrungen von Minoritäten haben offensichtlich ein Problem damit. Sie missinterpretieren momentane Rückschläge als dauerhaften Beleg dafür, dass sie es auf dem College nicht schaffen können."

Eleni Panagiotarakou erzählt in der Jerusalem Post, warum sie auf change.org eine Petition einreichte, um dem Prinzen Fahd bin Sultan bin Abdul Aziz Al Saud lebenslang Viagra zu spendieren. Er war mit seinem Jagdgefolge nach Pakistan geflogen, um mit seinen Falken die asiatische Kragentrappe zu jagen, einen Vogel, dessen Fleisch aphrodisierende Qualitäten zugeschrieben werden. Dieser Vogel ist geschützt, auch in Pakistan, auf der arabischen Halbbinsel wurde er durch die Falknerei längst ausgerottet. Auf die pakistanische Connection stieß Panagiotarakou durch einen Artikel in der pakistischen Zeitschrift Dawn: Hier wurde "Jaffar Baloch zitiert, ein Bezirksförster des Walds von Balutschistan, der die Strecke des Prinzen aus dem Hause Saud in einem Bericht detailliert auflistete. Inklusive der Zahl, der Daten und der Orte der erlegten Trappen. Die Jagstrecke lag bei erschütternden 2.100 Vögeln." Die Geschichte, so Panagiotarakou, ging wegen des aphrodierenden Aspekts auch international durch die Medien - aber das Thema ist nicht neu. Schon 1992 schrieb Mary Anne Weaver für den New Yorker die Geschichte "Hunting with the Sheikhs" (hier als pdf).
Stichwörter: Falknerei, Saudi-Arabien, Texas

Spätaffäre vom 16.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Immer vor den Wahlen lassen die Medien die Politiker als Schattenarmee vor sich auftreten und salutieren. Frank Schirrmacher ist hier der größte Virtuose. Heute machte Sigmar Gabirel in der FAZ seine Aufwartung und bedankte sich dafür, dass das FAZ-Feuilleton Martin Schulz im EU-Wahlkampf unterstützt. Im ausführlichen Interview mit Horizont.net klingt das bei Schirrmacher dann so: "Wir sehen, wie wichtig Politik für gesellschaftliche Klärungen sein kann - etwas, was wir ja fast schon vergessen haben, vielleicht auch weil wir den Politikern dazu zu wenig Chancen geben. Es war die grundlegende und kundige Intervention von Martin Schulz in der FAZ (und später auch im Stern), die vielen überhaupt erst die Zunge löste, weil sie zum ersten Mal so etwas wie Rückhalt in der Politik spürten für Fragen, die bislang fast ausschließlich im PR-Jargon des Silicon Valley verhandelt wurden." Mal sehen, welche Geschenke die EU den Medien nach den Wahlen macht.

Cordt Schnibbens lange Spiegel-Geschichte über "Meinen Vater, den Werwolf" steht jetzt online. Unter anderem stellt er sich die Frage, die auch eine zentrale Frage aller "Vergangenheitsbewältigung" ist: Warum hat er seinen Vater nicht zur Rede gestellt, als noch Zeit war? "Bei meinen Freunden lief es zu Hause ähnlich, wir rechneten mit der Generation unserer Väter ab, ohne mit unseren Vätern zu reden. Wir fragten nicht, wir urteilten, wir gaben ihnen nicht die Chance, uns ihre Welt zu erklären. Wir haben in uns einen eisernen Vorhang hochgezogen, um uns vor der Geschichte unserer Eltern zu schützen, wir haben uns eingebildet, unberührt und elternlos die Welt verändern zu können."

Spätaffäre vom 15.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Ausführlich und sehr kenntnisreich beschreibt die Historikerin Sylvia Chiffoleau für La Vie des Idées das Business und die Bürokratie der Pilgerfahrten nach Mekka. Erst 1957 erhalten die Saudis nach der Phase des Kolonialismus die volle Oberherrschaft über den Hajj. Seitdem steigt der demografische und darum der polizeiliche und der gesundheitspolitische Druck gewaltig - denn die Pilgerfahrt ist seit je ein gefürchteter Brutplatz für Seuchen. Im letzten Jahr wurden die Kontingente für die islamischen Länder, die bisher jährlich ein Tausendstel ihrer Bevölkerung schicken durften, um 20 Prozent reduziert, unter anderem wegen des Mers-Virus. Der politische Druck bleibt beständig. Von Beginn an musste die Dynastie der Saud, die überdies nicht vom Propheten abstammt, beweisen, "dass ihr Zugriff auf die Provinzen der Halbinsel keine Privatisierung der heiligen Orte nach sich zieht, die als Allgemeinerbe der Sunna angesehen werden. Überdies berufen sich die Saudis auf die marginale Doktrin des Wahabismus, die sie den heiligen Orten zwangsweise auferlegt haben, vor allem durch eine strikte Kontrolle der Sitten und eine Schleifung von Heiligengräbern, die vielen der Pilgerer teuer waren."

Lange bevor Jim Nelson Chefredakteur von GQ wurde, versuchte er in Hollywood durchzustarten. Als Assistent zweier Comedy-Autoren, die er M und L nennt, war er Muse, Sklave und dankbares Publikum in Einem, erinnert sich Nelson in einem sehr amüsanten Artikel: "Am schlimmsten war es nach dem Mittagessen, wenn sie sich ihre Nachrichten im Eingangsraum abholten und alle ihre Assistenten versammelt waren. Direkt vor meinem Schreibtisch brachen sie in ungebändigte Improvisation aus. L: 'Lunch war toll! Steak in, was war das, Speichelsauce?' M: 'Nein, ich glaube das war, äh, Fußpilz.' L: 'Ja, Fußpilzsauce! Köstlich!' M: 'Und, Jim, wir haben ganz vergessen dir zu sagen: Du bist gefeuert! Haha...' Irgendwann konnte ich es nicht mehr vortäuschen. Als ich es nicht mehr über mich brachte, sie anzusehen oder mich wegzudrehen und zumindest ein einfaches 'Ha' herauszubringen, entwickelte ich die Methode, schnell mit den Schultern zu zucken und hörbar einzuatmen, als hätten sie mir das letzte Lachen aus den Lungen geraubt."

Spätaffäre vom 14.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Geistvoll und neidlos beschreibt der große Frankophile der britischen Literatur, Julian Barnes, im TLS, was Georges Simenon so besonders macht und warum andere Schriftsteller ihn bewunderten, während er mit kaum einem der Kollegen etwas anfangen konnte. (Auch in Großbritannien erscheint nach der Ausgabe bei Diogenes eine komplette Neuübersetzung seiner Maigrets und vieler Non-Maigrets.) Was Simenon ausmacht, so Barnes, ist "eine Mischung von Dingen, die er besser kann, und Dingen, die er weglassen kann, ohne dass es ihm schadet. Zu seinen bewunderungswürdigen Positiva zählen: die Flüssigkeit seines Schaffens und seiner Effekte, sein ganz klar abgegrenztes persönliches Terrain, die intensive Atmosphäre und die sprechenden Details, seine Kenntnis der kleinen Leute und seine Sympathie zu ihnen, seine moralische Zwiespältigkeit, seine rätselvollen Plots mit meist zufriedenstellenden Auflösungen. Und seine beneidenswerten Negativa: Simenon kam mit einem sehr begrenzten und darum sehr repetitiven Vokabular durch (nach seiner Einschätzung 2000 Wörter) - er wollte nicht, dass ein Leser bei einem Wort stutzt oder gar zum Wörterbuch greifen muss. Er hielt seine Bücher kurz, so dass sie in einer Sitzung, auf einer Reise gelesen werden konnten: er hält sich nicht auf."

Karsten Lohmeyer, Journalist und Dozent, rauft sich in einem längeren Verzweiflungsausbruch auf lousypennies.de die Haare über die Damen und Herren Jungjournalisten, die trotz Besuch der Journalistenhochschulen nicht den geringsten Schimmer vom Internet haben und nicht mal begreifen, dass das Netz ihr wichtigstes Arbeitsinstrument - und nebenbei - Schaufenster ist: "Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. In Zukunft wird es sowohl für feste als auch freie Mitarbeiter immer wichtiger werden, eigene Leser mitzubringen. Wer im Vorstellungsgespräch damit prahlen kann, mehrere Tausend Twitter- oder Facebook-Follower zu haben, der ist so etwas wie eine wandelnde Abo-Kartei - nämlich Gold wert für jedes Medienunternehmen." Ihm antwortet der Jungjournalist Simon Hurtz. Zugegeben, das Netz ist toll: "Andererseits schaue ich mir meine Klasse an der DJS an: Die Hälfte meiner ehemaligen Mitschüler hat keinen Twitter-Account, höchstens ein Drittel ist dort regelmäßig aktiv. Journalistisch genutzte Facebook-Accounts? Null. Blogs? Zwei. Trotzdem sind viele bei großen Medien gelandet und machen da genau das, was sie wollen." Im Zweifel zählt doch vor allem, dass man bei den Hierarchen kompatibel ist!

Spätaffäre vom 13.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Seit fünfzig Jahren arbeitet David Brion Davis an einer monumentalen Geschichte der Sklaverei in den USA. Nun ist der abschließende dritte Band erschienen, den Steven Hahn in der New Republic sehr ausführlich bespricht: "The Problem of Slavery in the Age of Emancipation" (Auszug) ist sein Titel. "Statt das Zeitalter der Emanzipation als unvermeidlichen Prozess darzustellen, vermutet Davis sogar eher, dass die haitianische Revolution und die Emanzipationsbewegung in Großbritannien den Widerstand der amerikanischen Sklavenhalter eher noch verhärtete, die das Verbot der Sklaverei als endgültigen Schlag gegen ihre Welt ansahen. Dieser Widerstand hat seinerseits die innenpolitischen Spannungen zur Frage der Zukunft der Sklaverei noch verschärft und veranlasste die Sklavenhalter dazu, größeren Schutz für ihr Eigentum und mehr Rechte zu verlangen. Abolitionisten, die flüchtigen Sklaven halfen und Sklavenfänger austricksten, hatten die Sklavenhalter besonders alarmiert. In der Folge peitschten sie ein Gesetz über flüchtige Sklaven durch den Kongress, das ihre Position stärkte und allen Leuten afrikanischer Herkunft schadete."

Eine Biografie wie ein epischer Thriller: Als junger Mann traf José Mujica, genannt Pepe, Che Guevara und Fidel Castro, dann schloss er sich der Guerillagruppe Tupamaros an, raubte Banken aus, wurde sechsmal angeschossen, verbrachte vierzehn Jahre im Gefängnis, davon über drei Jahre in Einzelhaft, wo einige seiner Kameraden verrückt wurden oder umkamen. Nach seiner Entlassung begann er seine politische Karriere, die ihn 2009 bis zur Präsidentschaft Uruguays führte. Weltweites Aufsehen erregte letztes Jahr seine Entscheidung, landesweit den Verkauf von Marihuana zu legalisieren, um den mächtigen Drogenkartellen das Wasser abzugraben. Krishna Andavolu hat ihn für Vice getroffen: "'Wir beginnen ein Experiment', sagte er in heiserem Spanisch. 'Es ist klar, dass wir im internationalen Scheinwerferlicht stehen. Wir sind eine Petrischale, ein Soziallabor. Aber merke dir: Uruguay hat 9000 Häftlinge. 3000 davon wurden für Drogenhandel verurteilt. Das bedeutet, dass ein Drittel aller Inhaftierungen mit Drogen zusammenhängt. Das müssen wir ändern.' Auch wenn viele dieser Häftlinge für Marihuana-Delikte einsitzen, hat Uruguay hat den dritthöchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Kokain in Südamerika. Als ich ihn frage, ob auch andere Drogen legal werden könnten, antwortet er: 'Paso a paso'. Schritt für Schritt."

Spätaffäre vom 12.05.2014 - Für Sinn und Verstand

Die Arbeit von Notfallchirurgen ist oftmals ein Wettlauf gegen die Zeit, bei dem sie die Verletzung der Patienten erkennen und versorgen müssen, bevor diese zu viel Blut verlieren und einen Herzstillstand erleiden. Bei der Forschung nach einer Methode, diesen Prozess zu verlangsamen, orientieren sich Wissenschaftler an einem faszinierenden Vorbild in der Natur, berichtet Frank Swain in Mosaic: dem Winterschlaf. Doch auch wenn Tiere verschiedenster Ordnungen - darunter, wie man inzwischen weiß, auch Primaten - überwintern, ist der Weg noch weit: "Vor einem langen Winterschlaf fressen sich die Tiere eine Adipositas an, bis sie effektiv Typ-2-Diabetes mellitus haben. Im Gegensatz zu uns löst das bei ihnen keine Verdickung der Arterienwände aus, die zu Herzkrankheiten führt. Während beim Menschen nach einer Woche im Bett die Muskeln zu atrophieren beginnen und sich Gerinnsel bilden, können Winterschläfer monatelang ohne Bewegung auskommen. Auf ihren Lungen lagern sich Schleim und Bindegewebsleim ab, wie es bei Asthmakranken der Fall ist, und in ihren Gehirnen ereignen sich Veränderungen, die denen im Frühstadium von Alzheimer ähneln. Am verblüffendsten ist jedoch, dass manche Tiere, wenn sie erwachen, Anzeichen von Schlafentzug aufweisen."

Die Journalistin Xifan Yang kam als Fünfjährige aus China nach Deutschland, ging in Freiburg zur Schule, studierte in München und lebt seit 2011 in Shanghai. Für das SZ-Magazin fuhr sie mit einer chinesischen Reisegruppe durch Deutschland und lernte das Land dabei aus einer neuen Perspektive kennen: "'Moderne Häuser, wie wir sie von zu Hause kennen, werdet ihr hier natürlich kaum sehen. Ihr müsst berücksichtigen: Berlin hat gerade mal 3,5 Millionen Einwohner', referiert der Reiseleiter... Aus materiellen Gütern mache sich das Volk nicht viel, dafür liebe es lange Urlaube, Autofahrer hupten nur selten ('Das ist hier wie schimpfen'). Außerdem seien Deutsche außergewöhnlich erfindungsreich, wie die Zahl der Patente und Nobelpreisträger beweise: 'Aber sie sind sehr langsam im Kopfrechnen. Nehmt es bitte mit Geduld, wenn es an der Supermarktkasse länger dauert.' Besonders auf zwei Dinge möchte Herr Yang uns vorbereiten: 'Freies WLAN gibt es so gut wie nirgendwo' - kollektives 'Ooooh' - und das Essen, 'ich sag's mal so: Da sind Deutsche eher schlicht. Ihr solltet für die nächsten Tage eure Ansprüche herunterschrauben.' Bis auf wenige Ausnahmen stehen ausschließlich China-Restaurants auf dem Reiseplan."
Stichwörter: Alzheimer, WLAN, Urlaub, Autofahren

Spätaffäre vom 09.05.2014 - Für Sinn und Verstand

In The New Republic beschreibt Graeme Wood in einer Reportage die Hölle, die heute die Zentralfrikanische Republik darstellt. Hier schlachteten erst Muslime Christen ab und jetzt verfährt die christliche Mehrheit mit den Muslimen auf die gleiche Art. Die Leichen - oder Leichenteile - der einen oder anderen Partei werden auf der Avenue de France abgelegt, damit sie nicht im eigenen Hinterhof anfangen zu stinken und das Rote Kreuz sie einsammeln kann. Zu den Blauhelmen, die inzwischen dort stationiert sind, gehören auch ruandische Soldaten. Ihnen ist der Konflikt vertraut, vielleicht sogar zu vertraut. Ihr Vorgesetzter Oberstleutnant Jean-Paul Karangwa "ist nicht von Natur aus gewalttätig, aber er erzählte mir, ohne eine Spur von Reue, wie seine Leute jemanden niederschossen, von dem sie wussten, dass er ein Killer war. Ein Muslim, der Gefahr lief, gelyncht zu werden, hatte bei einem ruandischen Posten Schutz gesucht. Als die Ruander sich weigerten, ihn der Anti-Balaka auszuliefern, einer christlichen Milizentruppe, kam ein Mitglied der Gruppe mit der Leiche eines anderen Muslims zurück, um den Ruandern zu zeigen, dass ihr Schutz nutzlos war - es gab immer einen anderen Muslim, den sie nicht beschützen konnten. 'Er fing an, den toten Mann vor unseren Augen aufzuschlitzen', erinnert sich Karangwa mit einem leichten Schulterzucken. 'Also haben wir ihn erschossen.'"

Im Guardian versucht die Schriftstellerin AS Byatt, hinter das Geheimnis von Edmund de Waals Keramiken zu kommen, die sie zwischen Malewitschs Konstruktivismus und der Poesie von Wallace Stevens ansiedelt: "De Waal sagt, der Anfang eines Gefäßes sei kreisförmig, ein O, ein Klumpen Ton, der sich auf einem kreisförmigen Rad dreht und in seinen Händen zu einer fortgesetzten Serie zylindrischer Formen wird, alle gleich und doch verschieden, jede verändert unmerklich das nächste Gefäß in der Gruppe und damit die ganze Serie. So fein Ton auch gearbeitet wird, er ist auf eine Art konkret wie es eine abstrakt gemalte Form nicht ist. Die unterschiedlichen Kulturen haben sich Menschen immer als aus Ton geschaffen vorgestellt, von der Erde, irdisch, seine Gestalt gewinnt er aus formlosen Staub und zu Staub kehrt er zurück, durch Wasser, Form und Feuer." (Bild: Detail aus Edmund de Waals "Signs and Wonders", 2009. Foto: Hélène Binet)

Außerdem druckt der Guardian eine Rede des Schriftstellers Will Self, der diesmal den wirklichen und endgültigen Tod des Romans konstatiert.