Magazinrundschau

Im Grunde sind wir alle Versager

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.03.2008. Die New York Times ist fast schon reif für eine feindliche Übernahme durch Murdoch, fürchtet Howell Raines in Portfolio. Der New Yorker betrachtet den Niedergang des amerikanischen Zeitungsmarktes insgesamt. ResetDoc untersucht die Rolle von Immigranten im italienischen Wahlkampf. In Europa philosophiert Leszek Kolakowski über Erfolg. In Rue89 erklärt Aharon Applefeld, worüber er mit 268 schreiben will. Die Weltwoche fragt: Wer riskiert eigentlich noch etwas in der deutschen Literatur?

Artforum (USA), 01.03.2008

Artforum bringt in einem größeren Dossier über Karlheinz Stockhausen auch eine Hommage von Björk auf den jüngst verstorbenen Komponisten: "Auf mich und meine Generation hatten Stockhausens als Buch publizierte Vorlesungen einen unglaublichen Einfluss. Er war der hoffnungsvollste von allen! Das 21. Jahrhundert würde großartig sein. Während die klassischen Lehrer in meiner Schule die guten alten Tage der Musik betrauerten und und glaubten, sie lebendig zu halten, wenn sie uns 945.876 Stunden am Tag üben ließen. Sie verwandelten die Masse der Musiker in (Sklaven) Performer und erstickten jeden kreativen Gedanken oder den Willen, etwas Neues zu machen. (Damit wir mit unserem Sportsgeist, Willen und unserer Selbstverleugnung das alte tote Biest masturbieren, und es dann vielleicht noch ein paar Jahre länger stöhnen würde.)"

Den Hauptartikel des Dossiers hat der neuseeländische Komponist Robin Maconie geschrieben.
Archiv: Artforum

ResetDoc (Italien), 24.03.2008

Die neueste Ausgabe von Reset.doc sieht sich an, welche Rolle Immigranten im italienischen Wahlkampf spielen: Keine. Sie dürfen nicht einmal auf lokaler Ebene wählen. Und Walter Veltronis DP hat ihren einzigen Politiker arabischer Herkunft nicht noch einmal aufgestellt. Gad Lerner, Journalist und Moderator der Talkshow "L'Infidele", sieht darin den "zigsten Beweis für den italienischen Provinzialismus", jeder Fußballclub sei in dieser Hinsicht weiter als die Politik. "Als könnte die Allgemeinheit die Augen davor verschließen, dass sie sich heutzutage etwas anders zusammensetzt als früher. Was unsere provinzielle Naivität noch verschlimmert, ist der Irrglaube, dass jeder, der das Thema Einwanderung angeht, also offen bekennt, dass es ein Problem gibt, ein Masochist sein muss. Deswegen scheint es probater, einfach die Immigranten von den Wahlen auszuschließen."

Im Interview mit Daniele Castellani Perelli erklärt Souad Sbai, Herausgeberin der marokkanischen Boulevard-Zeitung in Italien Al Maghrebiya, warum sie für Silvio Berlusconis "Volk der Freiheit" kandidiert: "Warum nicht? Ist der Immigrant denn ein Monopol der Linken? Die Immigranten in Italien denken, essen und wählen genauso wie andere Italiener, rechts, links, mittig. In unseren Herkunftsländern wählen wir Parteien jeder politischer Ausrichtung, von der extremen Rechten bis zur extremen Linken. Woher rührt die Idee, dass wir links wählen müssen, sobald wir italienischen Boden betreten?"

Weiteres: Der algerische Autor Amara Lakhous versteht nicht, warum es Migranten unmöglich gemacht wird, Politik mitzugestalten. Khalid Chaouki ruft dagegen die Einwanderer auf, von sich aus aktiver zu werden.
Archiv: ResetDoc

Portfolio (USA), 01.04.2008

Rupert Murdoch setzt alles daran, die New York Times in die Finger zu kriegen, glaubt der ehemalige Chefredakteur der New York Times, Howell Raines. Und die Chancen für eine feindliche Übernahme stehen laut Raines gar nicht so schlecht: "Es ist ein Glaubenssatz im Newsroom der Times, dass die Stiftung der Sulzberger-Familie kugelsicher ist. Gut möglich, soweit es die Bedrohungen betrifft, zu deren Abwehr es konstruiert wurde: Ein oder zwei abweichlerische Cousins, die die Familie zum Verkauf zwingen. Aber ist es gebaut, um wiederkehrende interne Kämpfe mit Hedge Fonds oder Investment Banken abzuwehren, die die Zwei-Klassen Aktien-Struktur der New York Times Co. angreifen? In den letzten Wochen haben der New Yorker Investor Scott Galloway und seine Firebrand Partner zusammen mit dem Hedge Fond Harbinger Capital Partner große Pakete von Times-Aktien gekauft. Das zeugt von der Verletzlichkeit der Stiftung gegenüber Trends, die in ihrer Häufung einmalig sind - dem finanziellen Niedergang der Times, räuberischen Investoren, der Wall Street und der Angst der Familie um die Aktienpreise, dem Auftauchen Murdochs als mächtigstem Individuum in der Massenkommunikation. All diese Faktoren können zu einem Punkt führen, an dem das Undenkbare möglich wird."

Außerdem in diesem Heft: Nach Jahren des Aufstiegs gehen die Karrierechancen amerikanischer Frauen plötzlich wieder zurück, berichtet Harriet Rubin. Jesse Eisinger wundert sich über die "Keine Konsequenzen"-Ökonomie, in der Vorstände sogar für Misserfolge belohnt werden.

Archiv: Portfolio

Rue89 (Frankreich), 24.03.2008

In einem Interview spricht der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld über sein jüngstes Buch "La chambre de Mariana", das er gerade auf der Pariser Buchmesse vorgestellt hatte, sein Schreiben und sein zentrales Thema: das Jüdischsein. Israel selbst ist kein Thema für ihn - zumindest nicht literarisch und jedenfalls nicht im Moment: "Wie gesagt, ich schreibe Sagas über die jüdische Einsamkeit. Israel ist ein winziger Teil der sehr langen jüdischen Geschichte. Meine Arbeit besteht darin, das Wesen des Jüdischen zu suchen, herauszufinden, was es heißt, Jude zu sein. Natürlich, es gibt die Intifada. Sie ist wichtig, die Intifada, sehr wichtig. Aber in aller Objektivität stellt sie zeitlich betrachtet ebenfalls nur einen kleinen Abschnitt der jüdischen Geschichte dar. Ich werde über die Intifada und Israel ... in zweihundert Jahren schreiben. Dann bin ich 268 und schreibe über die Intifada in der Geschichte."
Archiv: Rue89

The Atlantic (USA), 01.04.2008

Ross Douthat macht in einem längeren Essay die Feststellung, dass Hollywood durch den 11. September in die siebziger Jahre zurückgeworfen wurde - keine Konvulsionen des Patriotismus, statt dessen eher Verschwörungstheorien: "In den letzten sechs Jahren hat die Filmindustrie nicht einen einzigen Majorfilm produziert, der die amerikanischen Soldaten im Irak oder in Afghanistan verherrlichte.... Konservative hatten gehofft, dass der 11. September den guten Geist der vierziger und fünfziger Jahre zurückbringen würde, in denen Pearl Harbor nachgespielt wurde, um Patriotismus und Zusammenhalt zu erzielen. Viele Linke fürchteten, dass das Schlechteste aus dieser Zeit wieder zutage treten würde, Zensur, Konformismus, McCarthyismus. Aber stattdessen machte sich ein anderes Jahrzehnt wieder breit: die paranoiden, zynischen, endzeitlichen Siebziger. Wir erwarteten John Wayne, und wir bekamen Jason Bourne... Matt Damons Bourne vereinigt die Effizienz eines James Bond mit der Politik eines Noam Chomsky."

Andere Artikel in einem überaus lesenswerten (und seit neuestem wieder online gestellten) Magazin: Da ist die Cover-Geschichte über die Britney-Spears-Jagdindustrie, auf die wir schon hingewiesen haben. Lawrence Scott Sheets porträtiert einen russischen Schmuggler, der Ihnen Stockfisch, aber auch waffenfähiges Uran besorgen kann. Und Robert D. Kaplan fragt, ob Kalkutta als Kolkata (so heißt die Stadt jetzt) eine Wiederauferstehung feiern wird.
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 31.03.2008

Outlook India bringt als Titelgeschichte einen Vorabdruck aus Patrick Frenchs neuer Biografie über V.S. Naipaul - der Nobelpreisträger selbst hat das Buch autorisiert und French großzügigen Zugang zu Privatarchiven gegeben, betont Outlook, und dennoch ist die Biografie nicht unkritisch. French beschreibt in einem der Auszüge Naipauls Verhältnis zu Indien: "Indien blieb für Naipaul in 'An Area of Darkness' (1964) 'das Land meiner Kindheit, eine Ära der Dunkelheit... Ich hatte meine Getrenntheit von Indien gelernt und war zufrieden ein Kolonial-Inder zu sein, ohne Vergangenheit, ohne Vorfahren'. Dies war ein voreiliger und ungenauer Schluss: Denn er war ganz und gar nicht zufrieden, ein Kolonial-Inder zu sein und würde niemals aufhören, die Vergangenheit seiner Vorfahren jenseits seiner karibischen Kindheit zu suchen." Auch der britische Daily Telegraph bringt übrigens ausführliche Auszüge aus dem Buch. Und für den Observer hat Robert McCrum Naipaul aus Anlass des Erscheinens der Biografie getroffen.
Archiv: Outlook India

Europa (Polen), 22.03.2008

Statt das übliche Ostergespräch über den Sinn des Lebens zu führen, diskutiert Bogumil Lozinski mit dem Philosophen Leszek Kolakowski über den Niedergang der Linken, das Fiasko des Marxismus und - ja, auch - über das Christentum als Fundament Europas. Etwas metaphysisch wird es dabei doch: "In dieser Welt gibt es keinen Erfolg. Natürlich gibt es bekannte Personen, die etwas erreicht haben. Aber der Glaube, dass man Erfolg haben kann, ist eitel und illusorisch. Im Grunde sind wir alle Versager."

Nur im Print zu lesen ist Viktor Jerofejews Dank an Andrzej Wajda nach der Moskauer Premiere von "Katyn". Auch wenn er nicht alles an dem Film gelungen findet, konstatiert der russische Schriftsteller: "Wajda säuberte schon früher den Augiasstall der Zeitgeschichte. Den dreckigsten Teil mit dem Namen Katyn hat er sich erst als letztes vorgenommen. Es ist eine Heldentat; ich verneige mich vor dem polnischen Herkules."
Archiv: Europa

New Yorker (USA), 31.03.2008

Was das Web für die Existenz der Druckzeitung bedeutet untersucht der linksliberale New Yorker Publizistikprofessor Eric Alterman in seinem Artikel über das Leben und Sterben des amerikanischen Zeitungsmarkts. DerAufstand der Blogs gegen die Mainstreammedien (MSM) kam in Amerika zunächst von rechts, erzählt Alterman, bevor mit Medien wie der Huffington Post auch eine liberale Blogosphäre entstand. Die alte Papierzeitung ist aber so oder so zum Aussterben verdammt, konstatiert Alterman nicht ohne Melancholie: "Wir werden in eine fragmentierte, chaotische Welt der Nachrichten eintreten, die durch ein Mehr an Community-Konversation aber auch durch einen entscheidend geringeren Anteil an erstklassigem Journalismus charakterisiert sein wird. Der Wandel der Zeitungen von Unternehmen, die objektive Berichte bringen, zu einem Haufen von Communities, die alle ihre eigenen 'News' und ihre eigenen 'Wahrheiten' zum Debattieren anbieten, bedeutet den Verlust einer verbindlichen nationalen 'Erzählung' und 'Faktenlage', die eine Grundlage unserer Politik bilden."

Weitere Artikel: Sasha Frere-Jones schreibt über den Avantgarde-Eklektizismus der Soulsängerin Erykah Badu. Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra nutzt Pico Iyers Buch "The Open Road: The Global Journey of the Fourteenth Dalai Lama", um darüber nachzudenken, wofür der Dalai Lama eigentlich genau steht. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Great Experiment" von Jeffrey Eugenides und Lyrik von Stanley Moss und Louise Glück.
Archiv: New Yorker

Espresso (Italien), 21.03.2008

Umberto Eco beschäftigt eine Umfrage, wonach ein Fünftel der jungen Briten Winston Churchill für eine fiktive Figur hält (kein Wunder bei diesen unsterblichen Reden). Was ist mit unserer Beziehung zur Vergangenheit passiert, fragt sich Eco. "Wir interessierten uns damals so sehr für die Vergangenheit, weil es nicht so viele Nachrichten aus der Gegenwart gab. Man muss sich vorstellen, dass eine Tageszeitung damals nur acht Seiten hatte. Mit den Massenmedien gibt es nun eine enorme Menge an Informationen über die Gegenwart, und im Internet ist es möglich, von Millionen von Ereignissen zu erfahren, die sich gerade in diesem Moment abspielen, selbst die unwichtigsten. Die Vergangenheit, über die in den Massenmedien gesprochen wird, wie zum Beispiel die siegreichen römischen Kaiser oder Richard Löwenherz oder auch der Erste Weltkrieg, all das mischt sich unter den mächtigen Strom aktueller Nachrichten. Für einen Zuschauer wird es dann sehr schwierig, den zeitlichen Sprung zwischen Spartakus und Richard Löwenherz zu erkennen. Und der Unterschied zwischen Imaginärem und Realen geht oft ebenso verloren. Woher soll einer beim Fernsehgucken wissen, dass Spartakus existiert hat, Vinicio aus 'Quo vadis' aber nicht?"
Archiv: Espresso

Spectator (UK), 24.03.2008

Bis zum Jahr 2005 war Amerika ein Land von Kunstkäufern. Seitdem fließt die Kunst aus dem Land heraus, stellt Susan Moore fest, und zwar nicht nach Europa, sondern in die neuen Zentren in Asien und dem Nahen Osten. "Niemals zuvor haben so viele Menschen aus so vielen Orten rund um den Globus um Kunstwerke konkurriert. Der Markt ist nicht mehr nur international, sondern global, und er wächst mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit. Fünf Jahre zuvor kamen die besten Kunden von Sotheby - die über eine halbe Million Dollar im Jahr dort lassen - aus 36 Ländern, mittlerweile sind es 58. Der Bericht der European Fine Art Foundation konstatiert ein Wachstum sowohl bei der Zahl der Transaktionen als auch von deren Wert, letzterer stieg von 2002 bis 2006 um erstaunliche 95 Prozent an, von 26,7 Milliarden Euro weltweit auf 43,3 Milliarden Euro. Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass China die Schweiz von ihrem langjährigen vierten Platz der nationalen Kunstmärkte verdrängt hat und nur noch ein Prozent hinter Frankreich liegt. Chinas Binnenmarkt für Auktionen wuchs um unglaubliche 983 Prozent von 2005 bis 2006."
Archiv: Spectator

Al Ahram Weekly (Ägypten), 20.03.2008

Mohamed Salmawy, Generalsekretär der arabischen Schriftstellervereinigung, erklärt Rania Khallaf, warum er alle arabischen Kollegen zu einem Boykott der Pariser Buchmesse aufrief, bei der Israel als Gastland auftrat. "'Wir sind nicht gegen die Meinungsfreiheit oder gegen irgendeinen israelischen Schriftsteller. Die Pariser Buchmesse hat sich in diesem Jahr jedoch entschieden, dieses Ereignis politisch zu machen. Es gibt überhaupt keine Möglichkeit für einen Dialog, wenn eine Seite, der Aggressor, geehrt wird, und die andere Seite, das Opfer dieser Aggression, daran gehindert, wird, die Messe zu besuchen', sagte er mit Blick auf die Palästinenser." Politisch sei die Messe auch, weil Shimon Peres sie eröffnete. Hier der Artikel zur Messe selbst.

Nehad Selaiha hat drei Stücke über den Nahen Osten der amerikanischen Autorin und Menschenrechtsaktivistin Naomi Wallace gesehen. Wallaces politisches Theater erinnert Selaiha an die sechziger Jahre - "unsere sozialistischen Jahre" - als alles Theater in Ägypten politisch zu sein schien...

Archiv: Al Ahram Weekly

Guardian (UK), 22.03.2008

Howard Hodgkin ist zwar schon in seinen Siebzigern, aber immer noch ein großer Verführer, schwärmt der Schriftsteller Alan Hollinghurst, der die Hodgkin-Ausstellung in Londons Gagosian Gallery besucht hat: "Hodgkin kann ganz freimütig sein, unverhüllt emotional und zugleich rätselhaft. Etwas essentiell Intuitives in seiner Kunst verlangt Intuition auch vom Betrachter. Seine Kunst verführt, der Betrachter fühlt ein schmeichelhaftes Vertrauen darauf, dass er schnell und aufgeweckt reagiert. Sie funktioniert durch ihre geradezu erotische Selbstgewissheit. Man fühlt, wie Hodgkin einen reizt, das Interesse weckt und die Neugier kitzelt."

Ziemlich überzeugend, oft sogar brillant findet Sarah Churchwell Susan Faludis Buch "The Terror Dream" über den neu erblühten "regressiven Sexismus" in den USA, mit dem das Land auf das Gefühl "nationaler Impotenz" nach dem 11. September reagiert habe ("Schätzchen, es ist Krieg!"): "Das Säbelrasseln konnte niemand übersehen, aber das Ausmaß, in dem es im Innern vor allem gegen Frauen gerichtet war, ist schlicht schockierend. Ebenso wie die Komplizenschaft und Laxheit der Medien." Dass wichtige Politikerinnen wie Hillary Clinton oder Condoleezza Rice in einem Buch übers Geschlechterverhältnis nur zwei- bis dreimal erwähnt werden, findet Churchwell allerdings seltsam.
Archiv: Guardian

Weltwoche (Schweiz), 20.03.2008

Nach Lektüre der neuen Bücher von Clemens Meyer, Jenny Erpenbeck, Bernhard Schlink und Dirk Kurbjuweit stellt sich Peer Teuwsen die Frage: "Wer riskiert eigentlich noch etwas in der deutschen Literatur?" Nur einer, meint er, nämlich Michael Kumpfmüller mit seinem Roman 'Nachricht an alle' über einen deutschen Innenminister namens Selden. "Kumpfmüller zeigt in einer tonlosen Sprache, ganz unaufgeregt, immer auf Halbdistanz, wie es uns geht: Gut, und doch enttäuscht sind wir. In diesem Buch gibt es keine Helden, keinen Brandt, keinen Schmidt, dieser Selden ist nur noch einer, der vollzieht, sich in Details verliert und nicht mehr weiß, was passiert. Und die andern, für die er stellvertretend das Beste machen sollte, empfinden nur noch eine stumpfe Leere, die sich an den eigentlich hervorragenden Verhältnissen abreagiert. Ein Text wie im gesellschaftlichen Nebel, auf Milchglas geschrieben, der ein Gefühl transportiert, das man kennt als Vierzigjähriger, dem vieles an Strukturen geschenkt wurde in diesen formlosen Zeiten, der aber für wenig mehr kämpfen musste als für sich selbst. Ein Text, der sich mit niemand identifiziert, niemand umarmt, keinen eindeutigen Standpunkt einnimmt. Das ist es wohl, was die deutschen Kritiker, die die Emphase lieben, dem Roman übelnehmen."

Außerdem: "Ist Deutschland ein Unrechtsstaat", fragen Markus Somm und Roger Köppel besorgt. Jawoll, sekundiert der Schweizer Privatbankier Konrad Hummler im Interview, und "deshalb ist die Kapitalflucht Notwehr". (In der FAZ am Sonntag fand Rainer Hank die Argumente Hummlers, die in einem Anlagekommentar des Bankhauses Wegelin & Co. im Detail nachzulesen sind, brillant.)
Archiv: Weltwoche

Economist (UK), 21.03.2008

Der Economist stellt ein ambitioniertes Projekt vor: Explaining Religion (Religion Erklären). Forscher unterschiedlicher Richtungen suchen in einer konzertierten Aktion nach wissenschaftlichen Gründen für die Allgegenwart von Religionen: "Die von dem Projekt geförderten Experimente sollen die mentalen Mechanismen untersuchen, die für die Repräsentation einer allmächtigen Gottheit notwendig sind. Sie sollen die Frage beantworten, ob (und wie) der Glaube an einen solchen 'Überwachungs-Kamera'-Gott den Fortpflanzungserfolg des Individuums im Darwinschen Sinne verbessert und ob Religion das persönliche Ansehen steigert - glauben die Menschen, nur zum Beispiel, dass diejenigen, die an Gott glauben, vertrauenswürdiger sind als die, die es nicht tun? Die Forscher werden auch Antworten auf die Frage suchen, ob unterschiedliche Religionen in unterschiedlichem Maße Kooperation fördern und ob und aus welchen Gründen derartige Kooperationen sowohl der Gemeinschaft der Gläubigen als auch den Außenstehenden Vorteile bringen."

Außerdem: Ein weiterer größerer Artikel erklärt, warum soziale Netzwerke im Internet mit Sicherheit eine große, wenn auch vielleicht keine kommerziell erfolgreiche Zukunft haben. Besprochen werden unter anderem zwei neue Bücher über Tibet und den Dalai Lama, eine Biografie des Dikators Robert Mugabe, das Buch "Welten im Krieg" des Historikers Anthony Pagden, in dem er die grundsätzliche Überlegenheit des Westens über den Osten postuliert, Richard Princes Kriminalroman "Lush Life" und die Londoner Ausstellung "Brillante Frauen: Blaustrümpfe des 18. Jahrhunderts".
Archiv: Economist

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.03.2008

Ein seltsames, bauliches Ungeheuer soll über einer Ruinenstätte in der westungarischen Stadt Szekesfehervar errichtet werden, wo sich auch das Grab des ersten ungarischen Königs Stephan (969-1038) befindet. Diese "nationale Gedenkstätte?, ihren Erträumern zufolge ein riesiges, turmartiges Gebilde, das der einst an diesem Ort gestandenen Basilika aus dem 12. Jahrhundert entsprechen soll, ist unter Fachleuten umstritten - unter anderem, weil es die Ruinen selbst zu zerstören droht. Dabei sind gerade diese von großer Bedeutung, wie der Kunsthistoriker Ernö Marosi findet, weil sie historische Quellen sind, die sich nicht durch andere schriftliche Quellen ersetzen lassen. Welche Verpflichtungen sich daraus ergeben, antwortet Marosi im Interview mit Eszter Radai: "Diese Ruinen müssen wir in dem Zustand weitergeben, in dem wir sie erhalten haben. Das ist eine Verpflichtung. Neuerdings wird dies gerne als 'nationales Erbe' bezeichnet, aber ein Erbe ist es nur aus der Perspektive des Empfängers - aus der Perspektive des Absenders ist es ein Nachlass. Was wir als Erbe bekommen, müssen wir demnach als Nachlass weitergeben. Wir haben kein Recht, uns in diesen Überlieferungsprozess einzuschalten, und nur das weitergeben, was wir über dieses Erbe anhand unseres heutigen, fehlbaren Wissens denken. Die Ansätze des modernen Denkmalschutzes sind nämlich die des Konservierens, und nicht die des Restaurierens. Dieser Ansatz aber, der bis zur letzten Jahrtausendwende vorherrschend gewesen ist, will im historischen Denkmal sich selbst ein Denkmal setzen.?
Stichwörter: Denkmalschutz, Marosi, Ernö

London Review of Books (UK), 20.03.2008

Adam Shatz bespricht Brynjar Lias Buch "Der Architekt des globalen Dschihad", eine Biografie des 2005 verhafteteten Al-Qaida-Strategen Abu Musab al-Suri. Shatz' eigentliches Interesse gilt allerdings dessen "magnum opus", dem Kriegshandbuch "Der globale Aufruf zum islamischen Widerstand", das ganz auf der Höhe der Zeit scheint: "Obgleich er gelegentlich ein Koranzitat zur Ausschmückung seiner Argumente einfügt, diskutiert er ganz eindeutig sehr viel lieber die moderne Literatur zum Guerilla-Kampf. Er verspottet Dschihadis, die nicht aus den westlichen Quellen lernen wollen, wegen ihrer Unfähigkeit, 'außerhalb der eingefahrenen Bahnen zu denken'. Auf die gleiche Weise seltsam vertraut ist Al-Suris Feier des nomadischen Kämpfers, der mobilen Armeen, autonomen Zellen, individuellen Taten und der Dezentralisierung, die nicht nur an 'Mille Plateux' von Deleuze und Guattari erinnert, sondern auch an das Idiom des 'flexiblen' Kapitalismus in Zeiten von Google und Call Centern. Seine Vision von Dschihadis, die in mobilen Lagern und Häusern an ihren Laptops trainieren, ist von unserer dezentralisierten Arbeitswelt nicht so weit entfernt."

Rezensiert wird auch Craig Venters Autobiografie "Ein dekodiertes Leben: Mein Genom: Mein Leben". Andrew O'Hagan hat ein ganze Reihe neuer Kochbücher und Essensratgeber gelesen. Über Bernardo Bertoluccis in England gerade in Wiederaufführungen im Kino zu sehenden Film "Der Konformist" schreibt Michael Wood. Jonathan Raban begeistert sich - recht überzeugend - für Barack Obama, den er für ein politisches Jahrhunderttalent hält.

Nouvel Observateur (Frankreich), 20.03.2008

Der chinesische Historiker und Hochschuldozent in Kalifornien Song Yongyi - früher selbst Rotgardist, später unter Spionageverdacht in China inhaftiert und erst auf internationalen Druck ins amerikanische Exil entlassen - hat ein Schwarzbuch der Kulturrevolution herausgegeben, in dem er erstmals auch das ganze Ausmaß der in ihrem Rahmen verübten Massaker belegt: "Les Massacres de la Revolution culturelle". Gefragt nach seiner Rolle als Rotgardist und ob er selbst an Hausdurchsuchungen oder öffentlichen Kritiksitzungen teilgenommen habe, antwortet er: "Nein, da ich aus keiner sehr 'guten' Familie stamme. Aber auch keiner 'schlechten'. Mein Vater führte ein großes Geschäft. An der ersten Welle - bei den alten Rotgardisten - konnte ich nicht teilnehmen, die war praktisch für Kinder hochgestellter Kader reserviert, und die hatten auch das Recht zu töten. Ich gehörte zur zweiten Welle namens Rebellische Rote Garden. Ich denke, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich mich genauso verhalten wie die Mitglieder der ersten Welle."
Stichwörter: Kulturrevolution, Kalifornien

New York Times (USA), 23.03.2008

Ah, das Internet, immer gut für neue Revolutionen! Thomas Goetz schreibt im Sonntagsmagazin über die Selbsthilfe-Website PatientsLikeMe, in der Betroffene chronischer Krankheiten wie MS, Parkinson oder Aids ihre Erfahrungen austauschen, auf den ersten Blick ein "Myspace" für Patienten, von denen es schon mehrere gibt. Aber Goetz weist auf einen entscheidenden Unterschied hin: bei PatientsLikeMe produzieren die Patienten "harte Daten". "Die Mitglieder von PatientsLikeMe tauschen ihre Erfahrungen nicht nur in anekdotischer Weise aus, sie quantifizieren sie, verwandeln ihre Symptome und Therapien in statistisches Material: Sie notieren, was weh tut, wo es wehtut und wie lange. Sie stellen Listen ihrer Medikamente und Dosierungen zusammen und verzeichnen, wie gut sie ihre Symptome lindern. All dies wird im Lauf der Zeit kompiliert, aggregiert und von der Software der Site in Grafiken und Kurven umgewandelt. Alles ist offen für Vergleiche und Analyse. Durch ihre Informationen schaffen die Mitglieder von PatientsLikeMe eine reichhaltige Datenbank über Therapien und die Erfahrungen von Patienten."

Außerdem: Michael Kimmelman porträtiert im Aufmacher des Sonntagsmagazins die Designerin Miuccia Prada als Kunstsammlerin. In der Book Review bespricht Colm Toibin das umstrittene neue Buch von Nicholson Baker, "Human Smoke" (erstes Kapitel), in dem Baker Kriegsverbrechen der Westalliierten im Zweiten Weltkrieg beklagt und fragt, welche Chancen eine pazifistische Politik hätte haben können. (Toibin sieht das Buch wegen seines dramaturgisch geschickten Aufbaus als "ernst- und gewissenhaften Beitrag zur Debatte über Pazifismus"). Besprochen werden außerdem Martha Nussbaums neues Buch über religiöse Toleranz (mehr hier) und Sarah Boxers Anthologie "The Ultimate Blog".
Archiv: New York Times