9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

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1900 Presseschau-Absätze - Seite 7 von 190

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.01.2024 - Ideen

Die Politik hat die moralischen Lektionen des Postkolonialismus nicht genug verinnerlicht, findet der Historiker Jürgen Zimmerer, einer der Wortführer dieser Denkrichtung in Deutschland, in der Zeit. Fördergelder würden gestrichen, Bismarckdenkmäler wieder aufgebaut. "Das muss niemanden wirklich wundern, denn die national-affirmative Wende ist in vollem Gange. Es wächst der Widerstand gegen postkoloniale Theorie und Geschichtsforschung, im Bund und ebenso in den Ländern. Diese waren lange Zeit die Speerspitze der Aufarbeitung, jetzt aber wird auch dort gebremst und abgewickelt. In Erfurt läuft die Koordinierungsstelle 'Koloniales Erbe' aus, in Bremen vergaß die derzeitige Regierung ihr Wahlversprechen, ein koloniales Dokumentationszentrum einzurichten. Ein paar Bronzen zurückzugeben oder human remains, mag niemanden stören; nach grundsätzlichen - kolonialen - Strukturen zu fragen, dagegen schon."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.01.2024 - Ideen

Der Rückgriff aufs "Gemeinwohl" war lange eine Taktik der Linken, mit der Grundrechte eingeschränkt werden konnten, um größere Ziele durchzusetzen: "Wollen Wissenschaftler das Rechtsverständnis ändern, gelingt dies oft durch die Einbringung von Theorie aus Nachbarfächern: so bei der ökonomischen Analyse in Zivil- und Wirtschaftsrecht oder der Gender-Theorie im Verfassungsrecht", erklärt der Verfassungsrechtler Jannis Lennartz in der FAZ. Jetzt übernehmen zunehmend Rechte in den USA und Europa diese Strategie, um "Gemeinwohl" in ihrem Sinne - "family, nation, God, what is common" - durchzusetzen. Aber damit werden sie wohl nicht weit kommen, beruhigt Lennartz: "Aus der historischen Verbindung zwischen römischem Privatrecht und christlichem Naturrecht folgt noch kein hohes Maß an inhaltlichen Gemeinsamkeiten - die Frage, wie man einen abredewidrig nicht freigelassenen Sklaven herausverlangen kann, weist keine große Nähe zu Thomas von Aquins Vorstellung von gerechter Herrschaft auf. Zwar gibt es keinen Mangel an Gemeinwohlbezügen bei verschiedenen Autoren. Aber ein einheitlicher Begriff und Maßstäbe, die sich juristisch sicher verwenden lassen, folgen daraus nicht."

Antonio Gramscis Idee einer kulturellen Hegemonie, also die Theorie, dass erst die Besetzung des vorpolitischen Raums wie Kunst, Medien oder Philosophie politische Macht sichert, ist virulenter denn je, konstatiert Marc Reichwein in der Welt: "Heute, in Zeiten von Social Media, sind die 'Mentalitäten und Moralvorstellungen des Volkes', von denen Gramsci sprach, eine Medienkultur der Vielen, in jeder Timeline von TikTok bis Instagram zu beobachten und zu bespielen. Das Gefühl, das heute alle mitsprechen und allem ihre Meinung artikulieren dürfen, ist auf eine Weise eine wahr gewordene Gramsci-Utopie. Denn von Gramsci stammt ja das Diktum 'Alle Menschen sind Intellektuelle'. Aber von Gramsci stammt auch der Satz 'Nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.' An dieser Stelle ist es interessant zu beobachten, wie oft Kommunikation in den sozialen Netzwerken kultureller Hegemonie bis heute dienlich ist. Denkfabriken, Verlage, Bücher, Theorien, Musik, ja sogar Design - man kann alles in den Dienst einer Gesinnung, Haltung oder kulturellen Hegemonie stellen. Reichwein warnt auch: "Das Endziel aller Hegemonie-Träume à la Gramsci bleibt antidemokratisch und illiberal: eine Diktatur der Inhalte, Begriffe und Ideen im Sinne der jeweils eigenen gesellschaftlichen Gruppe."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.01.2024 - Ideen

Wir leben gerade in Zeiten eines "paradigmatischen Bruchs", hofft der CDU-Vordenker Andreas Rödder in einem Essay auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ, und zwar sei es das lange Zeit vorherrschende "grüne Paradigma", dessen Ende nun gekommen sei. Als einen der Anstöße fürs Wanken des Woken, das Rödder umstandslos den Grünen zuordnet, nennt er den Ukraine-Krieg, der allerdings eher ein SPD- und geringerem Maß CDU-Narrativ ("Handel durch Wandel") umgestoßen hatte. Der andere Faktor ist für Rödder der völkermörderische Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober, der die Grundsätze der Migrationspolitik in Frage stellte: "Dass selbst Grüne wie Robert Habeck, Cem Özdemir und Ricarda Lang mit einem Mal ganz anders redeten als zuvor und dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Sprachregelungen änderte, verweist auf den Glaubwürdigkeitsverlust der seit 2015 dominanten Migrationskultur ebenso wie der kosmopolitischen Friedenskultur, des Paradigmas der Gender-Fluidität und der Energie- und Klimapolitik. Mit dem Kollaps ihrer Eckpfeiler brach die Hegemonie der grünen Deutungskultur zusammen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.01.2024 - Ideen

Mit Staunen muss die interessierte Öffentlichkeit angesichts jüngster Debatten nachvollziehen, welche Macht das "postkoloniale" Narrativ über Institutionen wie Universitäten und in der Politik längst entfaltet hat. Der Historiker Stephan Malinowski, bekannt geworden durch seine Forschungen über die Rolle der Hohenzollern, beschäftigt sich schon seit langem mit dem Thema und hat schon im Jahr 2007 eine wichtige Antwort auf postkoloniale Holocaustrelativierer wie A. Dirk Moses geschrieben (mehr hier). Heute kommt Malinowski in der FAZ auf eine Urszene des Postkolonialismus zurück: die Verteidigung des Gestapo-Chefs von Lyon, Klaus Barbie, in dem berühmten Lyoner Prozess von 1987. Anwalt war damals die linke Ikone Jacques Vergès, der in den fünfziger Jahren durch seine Vertretung von FLN-Bombenlegerinnen berühmt geworden war. Er verteidigte Barbie in einem internationalen Team, zu dem auch der kongolesische Anwalt Jean-Martin Mbemba gehörte. Die Manie der zuletzt von Masha Gessen lustvoll zelebrierten Vergleiche trat schon hier - übrigens zeitgleich mit dem ersten Historikerstreit - zutage: "Das 'in den Farben des menschlichen Regenbogens' leuchtende Anwaltsteam, wie es sich selbst bezeichnet, kommentiert im Saal die Ermordung von vierundvierzig jüdischen Waisenkindern, die 1944 aus der Nähe von Lyon nach Auschwitz deportiert worden waren, mit dem Hinweis, dass in den palästinensischen Flüchtlingslagern im libanesischen Sabra und Schatila unter Verantwortung der israelischen Armee 1982 ungleich mehr Menschen ermordet worden seien. Ein 'israelisches Babyn Jar' habe sich in diesen Lagern abgespielt."

Immer wieder empfehlenswert ist Barbet Schroeders Dokumentarfilm "L'avocat de la terreur" über die böse schillernde Figur des Jacques Vergès. Hier der Trailer:



Wie eine Illustration zu Malinowskis Beobachtung liest sich der groteske Geschichtscocktail, den die eigentlich als Globalisierungskritikerin bekannt gewordene Naomi Klein im FR-Gespräch mit Hanno Hauenstein anrichtet. "Die Leitfrage, die in der Luft liegt, lautet, ob wir den europäischen Faschismus als radikalen Bruch verstehen oder als Kontinuität. Also entweder als Bruch, der eine Art ursprüngliche Unschuld wiederherstellt. Oder eben als etwas, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des europäischen Kolonialismus zieht. Etwas, das sich bis zur Geburt der modernen Welt zurückverfolgen lässt, zur Inquisition, den Kreuzzügen, zum Ringen um Afrika, zum transatlantischen Handel mit versklavten Menschen. Eine Kontinuität, die in Form des Holocausts gewissermaßen nach Europa zurückkehrte." Die Gleichsetzung von Israelis mit Nazis gehört für Naomi Klein darum zum selbstverständlichen Handwerkszeug solcher Geschichtsschreibung: "Für Hannah Arendt war es in den 1950er Jahren normal zu sagen, dass israelische Politiker sich wie Faschisten verhalten. Wenn Masha Gessen 2023 etwas Ähnliches sagt, heben Leute den Zeigefinger und sagen: 'Wie können Sie es wagen?'"

Der 7. Oktober bedeutet eine Globalisierung des Nahostkonflikts, der sich in den migrantischen Diasporas in den westlichen Ländern fortpflanzen könnte, meint der Autor Leander Scholz unter dem Titel "Der kommende Bürgerkrieg " in der NZZ: "Im globalen Strom der Affekte besteht die Macht der Terroristen nicht allein in ihrer militärischen Stärke, in ihren Raketen des Hasses, die längst ganze Städte ausgelöscht hätten, wäre Israel technologisch nicht so deutlich überlegen. Viel weiter als diese Geschosse, die meistens noch vor ihrer Explosion abgefangen werden können, reicht die Infektion der Vorstellungswelt mit den Bildern psychotischer Assassinen, die unter Drogen und wie im Wahn vergewaltigen, foltern und töten. Die dadurch in Umlauf gebrachte Menge an Hass und Angst hat das Potenzial zu einem globalen Bürgerkrieg drastisch gesteigert."

Susannah Heschel
lehrt am Dartmouth College in New Hampshire und und nimmt für sich in Anspruch, die postkoloniale Theorie in die Judaistik eingeführt zu haben. Im Gespräch mit Ulrich Gutmair von der taz stellt sie allerdings Forderungen auf, die im krassen Gegensatz zu den meisten Lehren der Postkolonialisten stehen: "Denkt komplex, nicht in einem Narrativ. Sucht nicht nach dem Schurken. Nur Kinder brauchen das - hier die Märchenfee, dort die böse Hexe. Wir müssen stattdessen darüber nachdenken, wie wir denken." Sie erinnert an die vielen deutsch-jüdischen Orientalisten, die die Wissenschaft im 19. Jahrhundert mit begründeten: "In Deutschland schauten sie vor allem auf Kant. Sie verfochten die Idee, dass Menschsein etwas Universelles ist. Unser Problem ist, dass wir die Ideen der Aufklärung verworfen haben. Heute sagen Leute, Vergewaltigung als Kriegswaffe ist schrecklich, aber wenn die Hamas Jüdinnen vergewaltigt, ist das okay. Wenn so argumentiert wird, gibt es keine universellen Menschenrechte mehr."

So sieht es der aus Togo stammende, heute in Deutschland lehrende Germanist Messan Tossa gerade nicht. Er forscht über das Phänomen des "Hofmohren". Und er fordert im Gespräch mit Susanne Memarnia von der taz eine kritische Auseinandersetzung mit Kant. "Ich war schockiert, dass uns nicht beigebracht worden war, was zum Beispiel Kant über Schwarze geschrieben hat: dass die 'Race' der Weißen angeblich die 'größte Vollkommenheit' hat und die Schwarzen 'weit tiefer' stünden. Dieses Denken zu analysieren ist, glaube ich, eine wichtige Arbeit, die man angehen muss, wenn man die Grundlagen des heutigen Rassismus verstehen muss. Ich habe drei Söhne und finde es hochdringend, dass ich ihnen erklären kann, warum diese oder jene Leute dieses oder jenes über sie denken."

Auf Seite 1 der FAZ gibt Jürgen Kaube den Bankrott der "intellektuellen und ästhetischen Linken" bekannt, die sich in der Figur des von den Israelis verfolgten Palästinensers einen Ersatz für das Proletariat geschaffen habe. Nach einigen Millionen Toten hatte sie einsehen müssen, dass dieses Proletariat die in es gesetzten messianischen Hoffnungen nicht erfüllte. So werden nun die Palästinenser "zu Opfern des Kapitalismus, des Kolonialismus, der Amerikaner und Israels stilisiert. Das ganze Unheil der Welt konzentriert sich in ihrem Schicksal. Ihr Leid ist maßlos, und weil der Maßstab des Maßlosen der Holocaust ist, muss alles darangesetzt werden, einen Genozid an den Palästinensern für wahrscheinlich, für kurz bevorstehend und jedenfalls beabsichtigt zu erklären. Entsprechend erscheinen die Palästinenser selbst als völlig unschuldig an ihrer Lage."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.01.2024 - Ideen

Rainer Bieling greift bei literaturkritik.de nochmal die Debatte um Masha Gessen (unsere Resümees) auf. In der Argumentation der in der späten Sowjetunion aufgewachsenen Autorin erkennt er die Muster des klassischen Antizionismus betonsozialistischer Prägung wieder: "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands meinte nicht nur die erzwungene Gleichschaltung der ostdeutschen Sozialdemokraten, sondern auch die Selbstgleichschaltung der aus dem Exil in die SBZ/DDR zurückgekehrten jüdisch-kommunistischen Emigranten, die sich (mehrheitlich) gegen Israel positionierten und für den Befreiungskampf des palästinensischen Volkes engagierten. Es ist diese Ideologie, mit der Eltern und Lehrer des damals noch in Staatsgestalt real existierenden Sozialismus die Teenager in der DDR und in der UdSSR gleichermaßen indoktrinierten und instrumentalisierten."

Die postkolonialen Studien sind weitaus differenzierter als angenommen, beteuert in der FR Aram Ziai, der in Kassel Postkoloniale Studien lehrt und die Kritik an seinem Fachgebiet vor allem auf den "Vulgärpostkolonialisms" in den sozialen Medien schiebt. Stattdessen gelte es, von den Ambivalenzen, auf die der Postkolonialismus aufmerksam mache, zu lernen: "Dann können wir anerkennen, dass Israel sowohl die Zuflucht von Holocaust-Überlebenden und verfolgten Menschen jüdischen Glaubens als auch ein siedlungskoloniales Projekt des Zionismus ist, das zunehmend offen die Vertreibung palästinensischer Menschen und somit eine ethnische Säuberung verfolgt. Dass die Hamas gegen eine völkerrechtswidrige Besatzungssituation kämpft, aber das Massaker vom 7. Oktober ein genozidaler Akt war. Dass verschiedene Rechtsnormen für palästinensische und jüdische Menschen vor allem im Westjordanland den Tatbestand der Apartheid erfüllen, auch wenn palästinensische Menschen mit israelischem Pass innerhalb des Staatsgebiets annähernd (nicht vollständig) gleiche Rechte genießen und ihre Situation somit ganz anders ist als die der Schwarzen im Südafrika unter dem Apartheid-Regime."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.01.2024 - Ideen

2024 ist ein Kant-Jahr. Peter Neumann weist in der Zeit auf die Aktualität von Kants später Schrift "Zum ewigen Frieden" hin, auf die sich heute Jügen Habermas oder Omri Boehm beziehen: "Für Kant war Frieden kein natürlicher Zustand zwischen den Menschen, auf den man sich einfach verlassen kann. Frieden muss gestiftet, gehütet und abgesichert werden. Und auch wenn es nach einer Binsenweisheit klingt, weist Kant doch auf eine entscheidende Fehleinschätzung hin: Vielleicht war es eine Illusion, den Frieden für normal zu halten." Ebenfalls für die Zeit unternimt Michael Thumann einen Spaziergang durch "Königsberg, heute Kaliningrad, wo man versucht, aus dem Philosophen der Aufklärung einen Russen und Kronzeugen Putins zu machen".

Was "woke" Ideen an Unis angeht, so müssen wir in Europa mit Staunen feststellen, dass die trumpistische Rechte in den USA so brachial vorgeht, dass man das nur noch als umgekehrte Cancel Culture bezeichnen kann. In diesem Kontext sieht Bernd Pickert in der taz auch den Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay, die Antisemitismus an ihrer Uni nur in Kontexten verfolgen wollte und leider auch für ihre akademischen Arbeiten plagiiert hatte (was, so Pickert, aber ein Trumpist herausgefunden hatte): "Vermutlich war Claudine Gay tatsächlich nicht mehr zu halten - die Rechte kann hier einen Triumph feiern. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich Elise Stefanik, Christopher Rufo oder auch der im Hintergrund agierende Financier Bill Ackman damit zufriedengeben. Sie werden nicht ruhen, bis African-american studies, Gender Studies oder alles, was sie als Wokeness diskreditieren, aus den Unis verbannt ist."

Der Schriftsteller Jonas Lüscher wirbt im SZ-Interview mit Andreas Tobler für mehr Verständnis für verschiedene Positionen innerhalb der Linken, die dieses Lager nach dem 7. Oktober spalten. Linken Antisemitismus gebe es zwar, aber die einen Linken dächten eben so und die andern so. Lüscher will das nicht so eng sehen: "Ja, etwas mehr Großzügigkeit wäre manchmal wünschenswert. Und vor allem weniger Unbarmherzigkeit - auf allen Seiten. Das gilt auch für unseren Umgang mit Intellektuellen wie Judith Butler, Masha Gessen oder Susan Neiman, die dafür kritisiert wird, dass sie die deutsche Erinnerungspolitik in Teilen für kontraproduktiv hält. Ich bin vielleicht nicht mit allem einverstanden, was sie im Einzelfall schreiben, finde gewisse Dinge sogar falsch, aber zugleich halte ich sie für kluge Menschen, deren Beiträge ich nicht einfach in Bausch und Bogen verwerfen möchte. Damit machen wir es uns zu einfach und berauben uns wichtiger Impulse."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.01.2024 - Ideen

Seit dem 7. Oktober hat sich zumindest der Kulturbetrieb in Deutschland in einen Nebenkriegsschauplatz verwandelt, schreibt Thomas E. Schmidt, der in einem sehr langen, etwas vagen Zeit-Essay über das Ende der universalistischen Gesellschaftsmoral der Bundesrepublik darlegt, wie wenig homogen die deutsche Erinnerungskultur - und damit auch die Vorstellung vom "nie wieder" - von Beginn an war: "Ältere Ostdeutsche, so sie ihr antifaschistisches Erbe hochhalten, trennen sehr genau zwischen Juden und Israel; es sind in ihren Augen Phänomene, die in ganz unterschiedliche politische Raster fallen. Und auch die staatspolitisch gestützte Erinnerung an die Shoah in der Bundesrepublik identifizierte ja das Judentum mit Israel keineswegs. In Wirklichkeit ist dieses Verhältnis niemals klar bestimmt worden. Hätte sich Deutschland das israelische Selbstbild vollständig zu eigen gemacht, würde es auch den israelischen Alija-Zionismus unterstützt haben, die Rückkehr der Jüdinnen und Juden auf das Territorium Israels. Stattdessen verfolgte die Bundesrepublik ein eigenes Interesse. Wichtiger erschien, Jüdinnen und Juden zu einem Leben in Deutschland zu ermutigen. An dieser Stelle musste sich beweisen, dass die Deutschen sich gewandelt hatten. Als Juden dann in nennenswerter Weise kamen, spät und im Wesentlichen in Großstädte wie Berlin oder Frankfurt, gab es keine Notwendigkeit, sich auf der weltpolitischen Bühne zu Israel zu bekennen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.12.2023 - Ideen

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Der kanadische Historiker Quinn Slobodian spricht in seinem aktuellen Buch "Kapitalismus ohne Demokratie" von einem "Zersplitterungskapitalismus", der die Welt in immer kleinere Zonen wie Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen teilt. Der spätestens seit 2016 stattfindende Backlash gegen die Globalisierung werde oft als eine "Rückkehr zum Nationalstaat" beschrieben, das sei irreführend, meint er im ZeitOnline-Gespräch: "Kaum ein Staat hat sich zuletzt vom Ziel des beschleunigten Wirtschaftswachstums verabschiedet oder gar Autarkie angestrebt. Im Gegenteil: Oft wird ein noch wettbewerbsorientierter Kapitalismus angestrebt. Rechtspopulistische Globalisierungskritiker sind meist nicht gegen die Globalisierung, sondern bloß für eine andere Form von ihr. Dabei hilft ihnen die Zone. (…) Nehmen Sie die britischen Torys, deren wirtschaftspolitische Grundidee der letzten Jahre in der Schaffung von Freihäfen und Wirtschaftssonderzonen bestand. Es geht also um Steuerschlupflöcher und rechtliche Ausnahmen, die ausländische Investoren anlocken und globalen Handel verstärken sollen. Oder Ungarn: Viktor Orbán gibt sich gern als rechter Globalisierungskritiker, ist aber großer Fan von Sonderwirtschaftszonen, erst jüngst hat er eigens für Samsung eine geschaffen. Oder Polen, wo die rechtskonservative PiS-Regierung praktisch das ganze Land in eine Sonderwirtschaftszone verwandelt hat. Beim Rechtspopulismus geht es also keineswegs 'nur' um ethnonationalen Chauvinismus, sondern auch um ein radikales Konzept kapitalistischer Wettbewerbsfähigkeit."

"Schloschim" werden die 30 Tage nach der Beerdigung genannt, in denen man nach jüdischer Tradition um die Verstorbenen trauert. Der amerikanische Schriftsteller Joshua Cohen hat in dieser Zeit 30 Einträge zum 7. Oktober notiert, die die FAS heute bringt. Der 12. Eintrag etwa lautet: "Die Dekolonisatoren haben nie viel Sinnvolles von sich gegeben. Jede Generation widerspricht der jeweiligen vorangegangenen Generation. In den 50er-, 60er- und 70er-Jahren lautete die Leitideologie der Radikalen: 'Gewalt ist Sprache' - was bedeutet, dass Gewalt der rechtmäßige Ausdruck einer Person oder eines Volkes ist, dessen Worte bislang unbeachtet blieben. In den 80er- und 90er-Jahren und bis zum 6. Oktober war die radikale Ideologie das Gegenteil: 'Sprache ist Gewalt' - was bedeutet, dass die Worte, die man verwendet, Schaden anrichten können, weshalb man vorsichtig sein sollte, wie man sie verwendet, insbesondere jene Worte, die einem nicht selbst gehören, die nicht zur eigenen Identität gehören. Am 7. Oktober und danach wurde aus  'Sprache ist Gewalt' sofort 'Gewalt ist Sprache', und sei es nur, um das Abschlachten von jüdischen Menschen als palästinensische Befreiung zu kontextualisieren und zu rechtfertigen."

Auf zwei Seiten sammelt das FAZ-Feuilleton heute Ideen aus anderen Ländern, die Deutschland gern künftig umsetzen dürfte. Das schwedische "Plogging" etwa: "Der Name, gebildet aus den Worten 'Jogging' und 'plocka', was so viel wie 'aufsammeln' bedeutet, verrät, worum es geht: beim Laufen durch die freie Natur nebenbei herumliegenden Müll aufzulesen." Oder das neu eingeführte ukrainische "Register für Vermögenserklärungen. Dort müssen Politiker, Richter und Beamte über ihre Eigentumsverhältnisse Auskunft geben. Ein plötzlich vergrößerter Besitzstand kann da ein Hinweis auf Korruption sein. Es braucht nur Sekunden, um sich etwa zu Präsident Selenskyj und seiner Frau Olena durchzuklicken, zu den sechs Wohnungen des Ehepaars in Kiew, erworben lange vor dem Einstieg des Schauspielers in die Politik. Über Oppositionsführer Poroschenko, den 'Schokoladenkönig', lesen wir, dass er im letzten Quartal 2023 gut 900 Millionen Euro mit Zinsen und Anleihegeschäften in Ungarn verdiente."

Weitere Artikel: In der NZZ erinnert der Philosoph Thomas Brose an den Königsberger Philosophen Johann Georg Hamann.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2023 - Ideen

In der SZ gibt der russisch-jüdische Journalist Alexander Estis Masha Gessen nochmal ein paar Nachhilfestunden zum Thema "Vergleich" (Unsere Resümees): Gessens "donquijoteskem Feldzug" gegen die Windmühlen einer imaginierten Vergleichsverbotsmaschinerie liege eine Verwechslung von Vergleichsprozedur und Vergleichsergebnis zugrunde. Kein vernünftig denkender Mensch käme auf die Idee, die 'Unvergleichbarkeit des Holocaust' im prozeduralen Sinne zu verstehen... Schon der Begriff der Unvergleichbarkeit widerspricht per se dieser absurden Vorstellung, weil unvergleichbare, mithin singuläre oder spezifische Qualitäten überhaupt erst durch Vergleich als solche erkennbar werden: Eine Unvergleichbarkeit kann allein das Ergebnis einer Vergleichsoperation sein... Inkriminiert werden lediglich Vergleichsergebnisse, die den Holocaust durch pauschale Analogien relativieren, also 'unangemessene Gleichsetzungen', wie Volker Weiß sie nennt. Als Reaktion auf derartige Erosionsbestrebungen hat Jürgen Habermas einst im Zuge des Historikerstreits die Unvergleichbarkeit und die Singularität des Holocaust überhaupt erst postuliert. Nicht die Singularität - die jedem historischen Ereignis zukommt, wenn nur die Perspektive hinreichend fein ist -, sondern 'die Infragestellung der Singularität ist die eigentliche Besonderheit in der Debatte um den Holocaust', so bilanziert Thierry Chervel richtig."

Bei allem Verständnis für die "Frustration" der Palästinenser muss Henryk Broder in der Welt zunächst ein paar Dinge festhalten: Der 'Genozid', den Israel in Gaza angeblich begeht, wäre "der erste in der Geschichte der Völkermorde, bei dem die betroffene Population sich vervielfachen konnte: Von etwa einer halben Million im Jahre 1985 auf über zwei Millionen heute." Der Geduldsfaden reißt Broder aber, wenn Teile der Linken rufen: "Free Palestine from German guilt!" "An dem Satz 'Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen' scheint doch mehr dran zu sein, als bisher angenommen wurde. (…) Offenbar gibt es kein Entkommen aus dem Fluch der bewussten und unbewussten Erinnerung. Nehmen wir einmal an, es käme im Nahen Osten zu einem Supergau und Israel verschwände von der Erdoberfläche. Was würde dann geschehen? Die Bundesregierung würde den Überlebenden sofort humanitäre Hilfe anbieten und die letzten einsatzfähigen Hercules-Transporter losschicken, um die Mitarbeiter der Botschaft, der deutschen Stiftungen und andere Ortskräfte zu evakuieren. (…) Es wäre nicht nur das Ende des 'Judenstaates', sondern auch das Ende jeder deutschen Schuld gegenüber den Juden. Der Holocaust würde im Dunst der Geschichte verschwinden, so wie jedes Unglück in den Hintergrund tritt, wenn es von einem noch größeren Unglück übertroffen wird. Für die chronisch auf Israel fixierten politischen Linken wäre dies auch die Erlösung von ihren Leiden."

"Antisemitismus wird wieder hoffähig, ja, er scheint sogar erwünscht, wenn er sich nur gegen Israels Überlebenskampf richtet", kommentiert Peter Huth ebenfalls in der Welt: "'Ich bin 1945 geboren. Ich schulde der Welt einen Dreck' - so oder ähnlich trompeten seit einiger Zeit viele von denen in die Sozialen Netzwerke hinaus, die ihr Selbstwertgefühl ansonsten ausschließlich aus dem Ort ihrer Geburt ziehen. Diese Lust nach einem Schlussstrich hat nur am Rande mit der aktuellen Lage in Israel zu tun, sondern ist ein urdeutsches 'Jetzt muss ja auch mal gut sein'. Das Wort vom 'Schuldkult' wird in rechtsextremistischen Kreisen - 'Vogelschiss'-Gauland war nicht von ungefähr Vorsitzender deren parlamentarischen Flügels - immer schamloser benutzt. Die extreme deutsche Rechte, die sich nach Außen scheinheilig an die Seite Israels stellt (und gleichzeitig Russland, einen der Hamas-Drahtzieher, anhimmelt; aber das nur nebenbei), bereitet seit Jahren einen Weg vor, der in der maximalen Relativierung der Taten der Deutschen im Nationalsozialismus enden soll. Sie will ein neues Bild eines Deutschlands ohne Fehl und Tadel malen, indem sie die bestialischen Verbrechen einfach überpinseln."

Zum hundertsten Geburtstag des Instituts für Sozialforschung, wo einst Selbstkritik statt Identitätspolitik gefordert wurde, dürfte Adorno im Grab rotieren, vermutet Jakob Hayner in der Welt mit Blick auf dessen aktuellen Leiter Stephan Lessenich: "Wie dürftig inzwischen der Anspruch kritischer Theorie ist, demonstriert Lessenich mit seinem Buch 'Nicht mehr normal', in dem Feuilletonbanalitäten über die 'neue Normalität' kräftig gerührt und geschüttelt, jedenfalls mächtig aufgeschäumt dargeboten werden. Den 'alten weißen Mann' will Lessenich 'normalitätspolitisch' sogar mit 'kritisch-analytischen Sinn' aufladen. (…) Zu seinem großen Vorhaben hat Lessenich gemacht, die 'Frankfurter Schule' um 'queerfeministische und posthumanistische Ansätze, antirassistische und dekoloniale Perspektiven' zu erweitern. Beispielhaft dafür ist die große Konferenz zum 100. Jubiläum des IfS, die in Frankfurt unter dem Titel 'Futuring Critical Theory' stattfindet und frei heraus erklärt, dass das queerfeministische, post- und dekoloniale Denken zeitgemäßer als die kritische Theorie ist. Doch Kritik des Antisemitismus spielt da bekanntlich kaum eine Rolle."

Außerdem: In der NZZ macht der Philosoph Martin Rhonheimer nochmal mit Friedrich August von Hayek den Unterschied zwischen Liberalen und Konservativen deutlich: "Für Hayek lag dieser Unterschied darin, dass die Konservativen zwar moralische Überzeugungen hätten, aber keine dieser übergeordneten politischen Prinzipien. Konservative seien durchaus bereit, den Zwangsapparat des Staates einzuspannen, um ihre eigenen Wertvorstellungen allgemeinverbindlich durchzusetzen. Liberale wollten das nicht, selbst wenn sie persönlich manche dieser Wertvorstellungen teilen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2023 - Ideen

Gegen Hitler stand die britische Linke damals geschlossen, heute gehören manche "Teile dieser 'Linken' zur Vorhut des Putinismus und zum Hort des Antisemitismus", konstatiert der britische Journalist Paul Mason in der FR. Trotzdem hofft er auf einen Umschwung unter den Linken. "Es kann eine Linke geben, die sowohl humanistisch als auch radikal ist. Es kann eine Linke geben, die es versteht, die Palästinenser gegen Kriegsverbrechen zu verteidigen und gleichzeitig das Existenzrecht Israels zu verteidigen. Es kann eine Linke in der akademischen Welt geben, die bereit ist, die formale Logik wieder durchzusetzen und jungen Menschen beizubringen, Sätze wie 'wir machen das israelische Regime für alle Gewalt verantwortlich' ins Lächerliche zu ziehen."

Im Gespräch mit Benedict Neff in der NZZ spricht der Philosoph Alain Finkielkraut über den "Wokeismus", den er gerade besonders an Universitäten und in der französischen Linken verortet. Außerdem erklärt er den wesentlichen Unterschied zwischen der woken und kommunistischen Ideologie: "Das ist nicht das Gleiche. Der Wokeismus ist die totale Infragestellung der westlichen Kultur. Es ist ein misstrauischer und sogar anklagender Blick auf unser gesamtes Erbe. Die Lieblingsbeschäftigung des Wokeismus ist es, in Form eines Tribunals über die Vergangenheit zu richten, die rassistisch, sexistisch, homophob und so weiter war. Eine absolute Sensibilität bekämpft alle Formen der Stigmatisierung. Die kommunistische Ideologie wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der Realität konfrontiert: in Form der Sowjetunion und des maoistischen Regimes in China. Für die Woken gibt es diesen Realitätscheck nicht. Hinzu kommt, dass der Wokeismus mit einem demografischen Wandel in unserer Gesellschaft einhergeht. Er verbindet sich mit dem Islamismus. Aus diesem Grund wird es vielleicht schwieriger, diese Ideologie abzuschütteln."

In der Jungle World überlegt Magnus Klaue, ob wir in einem neuen Zeitalter der Zensur leben. Eher nicht, meint er, "die gegenwärtigen Formen der Sprach- und Ausdrucksreglementierung, die von ihren Gegnern als Zensur missverstanden werden, haben die historische Erosion jener Zensur zur Voraussetzung, die die bürgerliche Gesellschaft hervorgebracht hat. Als ästhetische und publizistische Institution war jene der objektive Ausdruck des Selbstwiderspruchs der bürgerlichen Gesellschaft, die die Konsequenzen der von ihr beförderten Freiheit und Gleichheit im selben Moment, da sie sie garantierte, einhegen und zurücknehmen musste. Gender-Sprache, freiwillig betriebene politisch korrekte Sprachkosmetik, Trigger-Warnungen und dergleichen sind demgegenüber Ausdruck einer Gesellschaft, deren Mitglieder jenen Widerspruch kaum noch erfahren, geschweige denn reflektieren können, und die sich als systemtheoretisch vernetzten Kommunikationsverbund betrachtet, dessen freies Fließen kein Zensor und kein Reaktionär mehr stören darf. Getilgt werden muss aus diesem Kreislauf alles, was an Vergangenes, Historisches, Gewordenes, wie auch alles, was an die Offenheit der Zukunft erinnert."

Der Tagesspiegel veröffentlicht einen zwei Seiten langen Essay des Historikers Konstantin Sakkas über den Frieden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Frieden in der Welt äußerst brüchig gewesen. So kamen zwischen 1945 und 2022 10 Millionen Menschen in bewaffneten Konflikten um. "Doch ist die internationale Ordnung so schlecht wie ihr Ruf? Jahrhundertelang haben Frankreich und Deutschland sich bekriegt, heute sind sie durch EU und Nato mehrfach Verbündete. Griechenland und die Türkei wurden beide 1952 in die Nato aufgenommen, um zu verhindern, dass zwischen den beiden über lange Zeit verfeindeten Staaten ein Krieg ausbricht, der sich zum Krieg zwischen dem Westen und der UdSSR auswachsen würde. Auch heute wäre das Ausscheiden der Türkei aus der Nato ein bündnispolitischer Super-Gau."