Intervention

Der Kampf des Narrativs gegen die Geschichte

Von Thierry Chervel
07.06.2021. Jedes Ereignis ist singulär, nur beim Holocaust wird die Singularität in Frage gestellt. Bei jedem Ereignis dienen Vergleiche dazu, die Singularität herauszuarbeiten, aber auch Verbindungen zu anderen Ereignissen offenzulegen. Am Ende bleiben einige Besonderheiten, sonst wäre das Ereignis keins. Warum ich nicht an A. Dirk Moses' alternativen Katechismus glaube.
Aktualisierung vom 11. Juni: Ich habe in diesem Text an einer Stelle den Begriff "Hohepriester" verwendet, ohne mich seiner Implikationen bewusst zu sein, heute würde ich den Begriff hier eher meiden, mehr hier.
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Jedes Ereignis ist singulär, nur beim Holocaust wird die Singularität in Frage gestellt. Bei jedem Ereignis dienen Vergleiche dazu, die Singularität herauszuarbeiten, aber auch Verbindungen zu anderen Ereignissen offenzulegen. Am Ende bleiben einige Besonderheiten, sonst wäre das Ereignis keins.

Die Infragestellung der Singularität ist die eigentliche Besonderheit in der Debatte um den Holocaust.

Es gibt unendlich viele Versuche, diese Frage zu beantworten, mehr oder weniger triftige und tiefsinnige. Die Singularität der Debatte aber liegt darin, dass diese Frage mit obsessiver Beharrlichkeit immer wieder gestellt wird. Die Singularität zu begründen ist schon ein Akt der Defensive, immer schon eine Antwort, die Infragestellung ist der ursprüngliche Impuls.

Das Gedenken an den Holocaust kann an Religion erinnern, so wie jedes Ritual an Religion erinnert. Rituale dienen nun mal der Selbstverständigung von Gemeinden oder Gesellschaften.

Jene, die heute die Singularität des Holocaust in Frage stellen, wie der Postkolonialist A. Dirk Moses, bezeichnen diese Rituale mit einiger Häme als "Katechismus der Deutschen". Sein Essay in gechichtedergegenwart.com, der an die Mbembe-Debatte und deutsche Reaktionen auf Michael Rothbergs Buch "Multidirektionale Erinnerung" anschließt, hat eine Menge Reaktionen ausgelöst (nur bisher nicht in deutschen Feuilletons). Hier möchte ich den quasi religiösen und darum sehr aggressiven Impuls von Moses' alternativem Katechismus offenlegen.

Der eigentliche religiöse Impuls liegt in der Infragestellung der Singularität des Holocaust, nicht im Gedenken daran. Alle Ereignisse sind singulär, nur der Holocaust soll diese Singularität nicht beanspruchen. Moses und seine Anhänger lassen die Singularität des Holocaust als eine Art Mythos erscheinen.

Die Fraktion der Bezweifler - heute meist sich als links Verstehende - tut so, als werde eine Religion um etwas betrieben, das tatsächlich geschehen ist.

Dass die Singularität "Katechismus der Deutschen" sei, ist übrigens zum Topos in der Debatte geworden. Die Intendanten von der "Initiative GG 5.3 Weltoffenheit" argumentieren so, und das hinterhergereichte Künstlerpapier (wir wollen weiter von euch eingeladen werden) vergröbert dieses Argument noch (mehr hier).

Mein Verdacht ist, dass die Deutschen hier nur ein bequemes Ausweichobjekt sind. Dahinter lauert, dass andere, die Juden, sich nicht so haben sollen.

Es mag überraschen, dass ein Zweifel einem religiösen Denken zugeordnet wird. Aber Moses und die JüngerInnen bezweifeln im Namen einer höheren Wahrheit, die sie unbedingt durchsetzen wollen.

Die prägenden Bücher und Filme über den Holocaust sind Erzählungen. Sie erzählen die Geschichte ihrer Autorinnen wie die Bücher von Primo Levi oder Ruth Klüger, die Geschichte von anderen wie Marcel Ophüls in "Hôtel Terminus", die Geschichte als ganze wie Raul Hilberg, Claude Lanzmann oder Saul Friedländer. Am Ende stellen diese Autoren die Leiden der Holocaust-Opfer nicht über die anderer, aber eine Lehre ziehen wollen sie schon.

Der Postkolonialismus ist der Kampf des Narrativs gegen die Erzählung.

Für Jürgen Zimmerer ist der Holocaust ein "kolonialer Genozid". Im Begriff des Genozids werden die Besonderheiten des Holocaust abgeschnitten, um ihn in eine neue Globalgeschichte einzuordnen. Die Theorie setzt auch die Subsumierung des Antisemitismus in den Begriff des Rassismus voraus, wie Steffen Klävers in seiner Studie  "Decolonizing Auschwitz?" zeigt.

Für A. Dirk Moses ist der Holocaust ein "subalterner Genozid". Die Nazis sehen sich in seiner Geschichtsversion selbst als Kolonisierte der Juden, denen sie in ihrer Wahrnehmung mit einer antikolonialen Tat entgegentreten müssen.

In seiner Polemik in geschichtedergegenwart.ch erklärt Moses ausgerechnet Dan Diner zum Repräsentanten des "deutschen Katechismus", um dann zu ein für alle Mal zu erklären wie's wirklich war: "Das Nazi-Reich war ein kompensatorisches Unternehmen, das permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte: nie wieder sollte das Volk zum Beispiel einer Hungersnot erleiden müssen, wie es sie in der Blockade der Alliierten während des Ersten Weltkriegs erlebt hatte. Es ging also um den utopischen Ehrgeiz der Kontrolle über ein autarkes Territorium und seine Ressourcen und der damit verbundenen Ausschaltung innerer Gefahren für die eigene Sicherheit."

Gut, dass es mal einer gesagt hat.

Religiös ist der Impuls der Infragestellung im Sinne der traditionellen linken Ersatzreligionen. Auch diese Ersatzreligionen müssen einer Religionskritik unterzogen werden. Hier stehen die Postkolonialen in uralten Traditionslinien der Linken.

Schon der heute wieder modische Begriff des "Antifaschismus" setzt voraus, dass die spezifische Dimension des Antisemitismus im Nationalsozialismus geleugnet werden muss, um den Nationalsozialismus einer Tendenz unterzuordnen. Der Faschismus war demnach ein Stadium des Kapitalismus. Dieser Logik ließ sich der Holocaust in seiner monumentalen Irrationalität nicht unterordnen. Also leugnete man seine Besonderheit.

Moses liefert mit seinem Text eine komische Spätversion dieser Vergottung von Geschichte mit sich selbst als Endpunkt.

Man muss das Publikum nicht darüber aufklären, dass säkulare Religionen eine Wirkmacht haben, die sich im Extrem nach Millionen Toten bemisst.

Wie  jede Religion hat auch der Katechismus der Postkolonialen seine Widersprüche. Ihre extremeren Anhänger möchten sie in einem "Entweder oder" auflösen. Nein, der Holocaust war nicht singulär, sagen sie. Die gemäßigteren befürworten ein "Sowohl als auch", so wie Aleida Assmann in einem ihrer anschlussfähigen Texte. Der Holocaust ist demnach sowohl singulär als auch nicht, je nach Standpunkt, je nachdem wer fragt.

Das "Sowohl als auch" steckt übrigens selbst in extremsten Äußerungen der Leugnung. Die Singularität hat Sexappeal, man will etwas ab, kann sie also nicht völlig negieren. Das Habenwollen und das Leugnen der Singularität sind manchmal ein einziger explosiver Sprechakt: Michael Rothberg beginnt sein inzwischen berühmtes Buch über "Multidirektionale Erinnerung" mit dem Zitat eines Holocaustleugners, der Schindlers Liste eine "Schwindlerliste" nennt und zugleich behauptet, sein eigenes Volk hätte hundert Holocausts durchlebt. Er will den Holocaust weghaben und und nimmt ihn zugleich zum Referenzpunkt. Das alles um die eigentlich legitime Frage zu stellen, warum in Washington ein Holocaustmuseum, aber kein Museum der Sklaverei gebaut wurde.

Ohne mit der Wimper zu zucken, betrachtet Rothberg den Holocaustleugner als Gesprächspartner und bietet ihm die Ersatzdroge Multidirektionalität. Die Juden aber mahnt er, keinen "unbilligen Nachdruck" auf die Singularität zu legen.

In der Religion des Postkolonialismus ist die Besonderheit des Holocaust nicht die Lehre aus einer historischen Erzählung, sondern ein Manna, das von Hohepriestern zu verteilen ist. Rothberg erklärt dabei verschiedene Communitys sozusagen zu Blasen, die ohne seine komplizierten Segensformeln nicht zu einer "multidirektionalen" Erinnerung kommen können.

Aber es geht auch einfacher: Man könnte ein Museum der Sklaverei neben das des Holocaust stellen. Braucht man dafür einen Theoretiker und seine Narrative? Die Erinnerungen der einen und der anderen sind keine rivalisierenden Güter.

Rothberg argumentiert mit seiner multidirektionalen Erinnerung wie ein typischer Professor, der überlegt, wie er bei höheren Stellen Mittel einwirbt und dabei auch zu Kompromissen bereit ist. Gerade die akademische Linke denkt stets in Schlüsseln - Stellen, Mittel, Abzirkelung von Begriffen, um eben diese Mittel einzuwerben und Gleichgesinnte zu kooptieren. Es geht um die Eroberung von Institutionen, stets um Macht. Und dafür erzählt man den Politikern und Communities, was sie denken sollen.

Macht läuft gerade für die neumodische Linke, für die alles Diskurs und Konstruktion ist, inklusive der Singularität des Holocaust, über die Setzung oder Entthronung von Begriffen.

Die Eilfertigkeit, mit der die meisten Professoren auf dem Blog newfascismsyllabus.com Moses' Katechismus nachbeten und ihre Texte gar als "Bekenntnisse eines ehemals Gläubigen" verkaufen (unsere Resümees), zeigt, dass er wohl Macht hat. Sein Katechismus lässt sich so formulieren:

1. Der Holocaust ist nicht einzigartig, andern ist dasselbe passiert. Sie haben den gleichen Anspruch auf "Singularität".
2. Es ist nicht richtig, des Holocaust als eines besonderen Zivilisationsbruchs zu gedenken, da er nur einer von vielen ist, die sich der Westen hat zuschulden kommen lassen.
3. Die Deutschen tragen keine besondere Verantwortung für Israel und dürfen sie getrost zur Disposition stellen.
4. Antisemitismus ist ein Rassismus.
5. Israel weghaben zu wollen, ist nicht antisemitisch.

Religion hat auch Zwecke.

Die Mbembe-Debatte, die sich längst - auch nach Rothbergs Analyse - zu einem neuen Historikerstreit ausgeweitet hat, und die folgenden Papiere der Kulturfunktionäre und Künstler, stehen in engstem Zusammenhang mit der BDS-Kampagne und einer Delegitimierung Israels auf immer breiterer Front. Gerne versichern sich die Postkolonialen hier ihrer Weggenossen aus Israel. Zum Glück gilt auch hier ein "Sowohl als auch". Israel hat sowohl Israelis, die Israel kritisieren, als auch eine Armee, die es verteidigt.

Thierry Chervel