Magazinrundschau
Metaphysische Fürze
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.01.2009. Im Merkur erwischt Mark Lilla die Linke bei der Suche nach neuen Aposteln. Im Guardian bedauert der norwegische Autor Per Petterson den Tod seiner schärfsten Kritikerin. In der Gazeta Wyborcza schüttelt sich der slowenische Schriftsteller Drago Jancar vor dem Gift provinzieller Intoleranz. In Rue89 langweilt sich Roland Barthes in China. Für das TLS hat Adam Hochschild ein Buch über Amerikaner im Gulag gelesen. NZZ Folio erzählt alles über Nina-Kredite. Und Christopher Hitchens verteidigt in Vanity Fair muslimische Intellektuelle gegen herablassende Multikulturalisten.
Guardian | Folio | Vanity Fair | Europa | New York Times | Gazeta Wyborcza | Rue89 | Times Literary Supplement | Merkur | La vie des idees | Economist | Espresso | Spectator
Guardian (UK), 03.01.2009

Der irische Autor Colm Toibin erzählt, wie er sich als Teenager in Ingrid Bergman verliebte. Er war zwölf Jahre alt, sein Vater kurz zuvor gestorben, und er durfte zum ersten Mal länger aufbleiben, um "Gaslight" zu sehen: "Weder mein Bruder noch ich hatten jemals einem solchen Film gesehen, in dem die Motive so unklar waren und die Handlung so langsam, dramatisch und so grausam. Es war furchterregend. Unvergesslich war die Nacht aber auch wegen Ingrid Bergman. Sie schien so allein in der Welt, ohne lebende Verwandte, die kommen und sie retten könnten. Ihr Haus war groß und schön. Sie schien zum Glück bereit, so wunderbar zart, dabei so nervös und beunruhigt. Jedes Mal wenn die Kamera auf sie fokussierte, fing sie etwas Fremdes in ihr ein, einen nervösen Blick, ein besorgtes Lächeln, einen Hauch von ihrem starken Innenleben."
Gazeta Wyborcza (Polen), 03.01.2009

Trotz des Kaukasus-Krieges gibt es zwischen Georgien und Russland mehr als nur Konflikte, freut sich Marcin Wojciechowski. Im Dezember präsentierte die Moskauer Gallerie "Prone" Werke des Künstlers Niko Pirosmani (dazu eine schöne Webseite mit Bildern). Er wurde zusammen mit Werken russischer Futuristen ausgestellt, die ihn Anfang des 20. Jahrhunderts erst entdeckt und berühmt gemacht hatten. "In seiner Malerei und Biografie sieht man, wie georgische und russische Kunst verwoben waren. Gut, dass es trotz des Krieges und des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu einer solchen Ausstellung in Russland kommen konnte." Außer den Ähnlichkeiten mit dem Primitivisten Nikifor Krynicki faszinierte Wojciechowski an den Bildern Pirosmanis die Atmosphäre von Tiflis jener Zeit - die gleiche, in die Josif Dschugaschwili nach seinem Rauswurf aus dem Priesterseminar abtauchte.
Rue89 (Frankreich), 04.01.2009
Sonderlich prickelnd hat Roland Barthes ihn offenbar nicht gefunden, diesen Betriebsausflug, den er gemeinsam mit den Betreibern der Zeitschrift Tel Quel 1974 ins maoistische China unternahm. Das ist jedenfalls seinem Reisetagebuch zu entnehmen, das jetzt versehen mit einem Vorwort des Tel Quel-Begründers und seinerzeit hochmodischen Maoisten Philippe Sollers erscheint ("Carnets du Voyage en Chine", Christian Bourgois). Demnach hat er sich auf dieser "extravagantesten Reise der französischen Intelligenzija" - neben ihrem Initiator Sollers waren unter anderem dessen Frau Julia Kristeva, der Lyriker Marcelin Pleynet und der Philosoph Francois Wahl mit von der Partie, Jacques Lacan dagegen trat kurz zuvor davon zurück - vor allem eines: gelangweilt. Vier Tage nach der Ankunft jedenfalls notierte Barthes während der stereotypen Ansprache eines maoistischen Offiziellen: "Todlangweilige Rede, Vergleich Vergangenheit/Gegenwart. Ich betrachte mein Teeglas: Die grünen Blätter haben sich entfaltet und bilden am Glasboden eine Schicht. Aber der Tee ist sehr dünn, fade, kaum Tee, sondern eher heißes Wasser." Nach seiner Rückkehr schrieb Barthes für Le Monde einen Artikel, der nichts von seinen eigentlichen Gefühlen verlauten ließ. Simon Leys, einer der frühesten Kritiker des Maoismus in Europa, nannte ihn in einer berühmten Polemik einen "winzigen Hahn für Lauwarm".
Die Januarausgabe des Magazine Litteraire druckt Auszüge aus dem Tagebuch, online ist ein kreuzbraves Interview mit Philippe Sollers über Barthes und diese Reise zu lesen.
Die Januarausgabe des Magazine Litteraire druckt Auszüge aus dem Tagebuch, online ist ein kreuzbraves Interview mit Philippe Sollers über Barthes und diese Reise zu lesen.
Times Literary Supplement (UK), 02.01.2009
Mit Erschütterung hat Adam Hochschild das Buch "The Forsaken" von Tim Tzouliadis gelesen, das die Geschichte der Amerikaner erzählt, die während der Großen Depression in die Sowjetunion ausgewandert waren - und dort, als sie nicht mehr für Propagandazwecke nützlich waren, zu Zehntausenden im Gulag endeten: "Tzouliadis' überraschendster Beitrag zu dieser traurigen Geschichte ist, wie die verzweifelten Hilferufe der gefangenen Amerikaner, von denen einige aus den Gefängnissen geschmuggelt wurden, andere von den Familienmitgliedern unter Lebensgefahr direkt an die scharf überwachte amerikanische Botschaft gerichtet wurden, von den Diplomaten in Moskau und den Beamten in Washington ignoriert wurden. Tzouliadis hat sich für diesen Nachweis durch Hunderte von State-Department-Akten gegraben und ist dabei sogar auf ein aus einem Lager geschmuggeltes Holzschild gestoßen, auf dem in Englisch die Wörter standen: 'Retten Sie mich und alle die anderen.' Während selbst der konservative Botschafter des kleinen Österreichs das Leben von mehr als zwanzig österreichischen Linken retten konnte, indem er sie in seinem Keller versteckte, taten die amerikanischen Behörden buchstäblich nichts für die von ihnen verachteten Amerikaner, die aus naivem Idealismus nach Russland gekommen waren."
Merkur (Deutschland), 01.01.2009

Weitere Artikel: Hans-Peter Müller erklärt, dass von einer neuen Bürgerlichkeit keine Rede sein kann, allenfalls von einer "Pathologie gesellschaftlicher Dekadenz". Ute Frevert analysiert die um Vertrauen werbende politische Semantik. Clifford Owen erklärt, warum Mitleid ein Gefühl und keine Tugend ist.
La vie des idees (Frankreich), 02.01.2009
"Höllische Paradise" heißt eine Studie, die der amerikanische Soziologe Mike Davis gemeinsam mit dem Politologen Daniel Bertrand Monk herausgegeben hat. Gemeint sind damit die urbanen und architektonischen Phantasmen, die der Neokapitalismus hervorgebracht hat ("Paradis infernaux. Les villes hallucinees du neo-capitalisme"; die Originalausgabe erschien unter dem Titel "Evil Paradises. Dreamworlds of Neoliberalism"). Am Beispiel von elf Städten untersuchen 15 Autoren städtische Ausgeburten in Form gewaltiger Einkaufszentren oder Privatsiedlungen mitten in der Wüste und im Meer. Ein spannendes Thema, findet Rezensentin Cynthia Ghorra-Gobin, allerdings lasse das wissenschaftliche Niveau des Sammelbands mehr als zu wünschen übrig und komme als eine "simple Parodie sozialwissenschaftlicher Arbeiten daher. Die Texte beruhen auf Informationen, die sich jeder Internetbenutzer leicht selbst beschaffen kann. Die Autoren bedienen sich einiger gelehrter Quellen und zitieren häufig Adam Smith, Karl Marx oder auch Pierre Bourdieu ('der einzige Forscher, der den Neokapitalismus eloquent kritisiert hat') und führen Filmklassiker wie Fritz Langs 'Metropolis' oder 'Blade Runner' an, doch das nur, um den Kapiteln einen Hauch marxistischen Glanzes zu verleihen. Den Leser befällt deshalb der seltsame Eindruck, sich einmal mehr im Universum des Scheins und des Konsums wiederzufinden, das man andererseits anprangern will. Welch ein Unterschied zu den auf marxistischer Analyse beruhenden sozialwissenschaftlichen Arbeiten, welche die sechziger und siebziger Jahre kennzeichneten!"
Economist (UK), 02.01.2009

Besprochen werden unter anderem die Erinnerungen von Azar Nafisi (Autorin von "Lolita lesen in Teheran", Verlag), George Magnus' nüchtern-analytischer Blick (Verlag) auf die demografische Entwicklung der Weltgesellschaft, ein Buch (Verlag) ,das dem Kopf von Oliver Cromwell nachforscht und Hugh Warwicks Liebeserklärung ans charmanteste Tier der Welt: den Igel (Verlagsseite). Außerdem ein Nachruf auf Harold Pinter.
Espresso (Italien), 02.01.2009

Spectator (UK), 02.01.2009

Der bisweilen grimmig erscheinende Harold Pinter, der am Weihnachtsabend gestorben ist, war eigentlich ein ganz zugänglicher Kerl, verrät Michael Henderson, wenn man ihm mit Kricket kam. "Für Pinter war es weit mehr als ein Spiel mit Schläger und Ball. Er war nicht der erste bekannte Theaterautor, der das Spiel liebte: J.M. Barrie, Samuel Beckett und Terence Rattigan gehörten dazu, und auch das Aufgebot an modernen Dramatikern mit einem Faible für das Spiel ist beeindruckend: Alan Ayckbourn, Tom Stoppard, David Hare, Simon Gray, Ronald Harwood. Aber Pinters Liebe, als Spieler und als Zuschauer, kam einer Besessenheit nahe. Seine Stücke sind voller Anspielungen und Metaphern, manchmal mit ungewollten Folgen: Der Satz: 'Who watered the wicket at Melbourne?' wurde in einer deutschen Fassung der 'Birthday Party' als 'Wer pinkelte ans Stadttor?' übersetzt."
Folio (Schweiz), 05.01.2009

In der Duftnote beschreibt Luca Turin die magische Wirkung von Duftsprays bei der Vertreibung von Geistern, "die man als eine Art metaphysische Fürze betrachten kann".
Vanity Fair (USA), 01.02.2009

Europa (Polen), 03.01.2009
Der Schriftsteller Eustachy Rylski (mehr hier) skizziert im Interview den Unterschied zwischen einem Autor und einem Schriftsteller: "Ein gutes Buch ist nur ein gutes Buch. Literatur dagegen braucht ein Buch und einen Schriftsteller. Ein Schriftsteller muss ein Paradiesvogel sein - immer einen Schritt vor seinen Büchern, und mit den Jahren soll er an Würde gewinnen, sich in eine Institution verwandeln und nach dem Tod zum Denkmal werden. Darum steht es schlecht bei mir: ich bekomme keine Leserbriefe, die Leseabende sind schlecht besucht, ich bekomme keine Preise, werde nicht zitiert und inspiriere niemanden. Deshalb halte ich mich für einen ausgezeichneten Autor, aber nicht für einen Schriftsteller. Das ist ein Unterschied."
New York Times (USA), 04.01.2009
In einem großen Artikel beleuchten Michael Lewis (auf dessen wunderbaren Portfolio-Artikel zur Krise wir bereits mehrfach hingewiesen haben) und David Einhorn auf den Op-Ed-Seiten noch einmal das "Ende der Finanzwelt, wie wir sie kennen". Auch der Madoff-Skandal gibt ihnen zu denken: "Der Skandal offenbart eine klaffende Lücke in unserem Finanzsystem, das nicht einfach durch schlechtes Benehmen unterminiert wurde, sondern durch das Fehlen von Kontrollmechanismen, die es im Zaum halten. 'Gier' ist keine keine befriedigende Erklärung für unsere gegenwäritige Finanzkrise. Gier war eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, Gier können wir aus unserem Nationalcharakter genauso wenig tilgen wie Lust oder Neid. Das eigentliche Problem ist nicht die Gier der wenigen sondern die schlecht gebündelten Interessen der vielen."
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