Im Kino

Wie ein Ladendieb

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Jochen Werner
06.06.2013. Alain Resnais' wunderbarer Meta-Theaterfilm "Ihr werdet euch noch wundern", widerlegt die Annahme, die Kunstform Kino habe ihre große Blüte bereits hinter sich. "After Earth" von M. Night Shyamalan hat dagegen außer erfolgreichem Vater-Sohn-Bonding im Hause Smith wenig zu bieten.


"It was a very good year", singt Frank Sinatra über den Abspann von Alain Resnais' "Ihr werdet euch noch wundern", und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein Abschied zelebriert, eine Bilanz gezogen wird. Ein letzter Film, gefühlt und anlässlich der Premiere im letzten Jahr in Cannes auch als ein solches filmisches Vermächtnis angekündigt - aber da es in den Kinowelten von Alain Resnais noch immer (mehr als) einen doppelten Boden gab, vermag es nicht wirklich zu überraschen, dass der inzwischen 91-jährige Altmeister mit "Aimer, boire et chanter", einer Adaption von Alan Ayckbourns Theaterstück "Life of Riley", bereits an einem neuen Filmprojekt arbeitet.

Überhaupt, Resnais und das Theater - das ist eine Allianz, die das Werk des großen Regisseurs nun bereits seit Jahrzehnten maßgeblich prägt und die einst einen durchaus wahrnehmbaren Bruch in selbigem markierte. Der Resnais der frühen Jahre und Filme war vielleicht mehr noch als seine Zeitgenossen in den diversen Wellen und Erneuerungsbewegungen des europäischen Kinos ein Suchender nach einer originären Poetik und Ausdruckskraft des Films - obgleich es ihn von Beginn an und immer wieder zur Zusammenarbeit mit Literaten drängte. "Nuit et brouillard" ist eben auch ein Film von Jean Cayrol, "Hiroshima mon amour" einer von Marguerite Duras, "L'année dernière à Marienbad" von Alain Robbe-Grillet.

Etwa ab Mitte der 1980er Jahre entfernte sich Resnais immer deutlicher von der Kunstprosa seiner Zeitgenossen - um sich eher populären Segmenten der Kultur des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. Nach der idiosynkratischen Variation auf ein für sich wenig bemerkenswertes Boulevardtheaterstück in "Mélo" wagte sich Resnais mit "I Want to Go Home" kurzzeitig auf Comicterrain vor - um schließlich doch immer wieder zum Theater zurückzufinden, anhand leicht angestaubter kulturarchäologischer Trouvaillen oder eben auch immer wieder anhand der Middlebrow-Stücke eines Alan Ayckbourn. "Vous n'avez encore rien vu" - you ain't seen nothing yet, so würde man im englischsprachigen Raum wohl den Titel übersetzen, eine echte deutsche Entsprechung für diese Redewendung gibt es nicht - geht aber doch noch einmal andere Wege und wendet sich mit Jean Anouilhs "Eurydice" einem durchaus bedeutenden, wenngleich nicht ganz taufrischen Drama zu.

Am Anfang steht eine ganze Reihe von Telefongesprächen - redundante, einander überlagernde Übermittlungen der immer gleichen Inhalts: Der Theaterregisseur Antoine d'Anthac ist gestorben. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die diese Nachricht erhalten, spielen sich allesamt selbst und werden als ehemalige Darsteller in d'Anthacs Inszenierung der "Eurydice" eingeführt - tatsächlich wirkten sie allesamt, von Mathieu Amalric über Sabine Azéma bis Michel Piccoli, in Filmen von Alain Resnais mit. Zur Verkündung des letzten Willens ihres Freundes und Mitarbeiters versammeln sich die Darsteller in d'Anthacs Villa - wo ihnen im Rahmen einer Filmprojektion der verstorbene Hausherr selbst noch einmal gegenübertritt und sie bittet, einen Film über die Proben einer Theatergruppe zu begutachten, die seine "Antigone" spielen wollen. Die Projektion beginnt.



Zunächst (und auch später, in immer kürzeren Splittern) sind die Schauspieler der Compagnie de la Colombe zu sehen, die in einer Art Industriehalle eine halbwegs moderne Inszenierung von Anouilhs Stück zur Aufführung bringen. Bald jedoch verlängert sich das Geschehen im Film-im-Film in die übergeordnete Ebene der Inszenierung (den "Film" also) - oder vielleicht ist es auch eher andersherum und die Darsteller, die die Namen ihrer außerfilmischen Identitäten auch im Film tragen, dissoziieren sich ein Stück tiefer in die Artifizialität der geschichteten Fiktionen hinein? Resnais nutzt die sich stetig überlagernden Ebenen der zusammen- und auseinanderstrebenden, sich überlagernden, repetierenden, ergänzenden und mitunter gegenseitig erhellenden Parallelinszenierungen des Anouilh-Stücks, um zahllose kleine Brüche in den Fluss des Geschehens einzuarbeiten - und diese sogleich, durch die Zaubermacht des Kinos, seiner Kamerafahrten und Bild- und Klangwelten, wieder zu etwas scheinbar naht- und mühelos Gefügtem zusammenzuschmieden.

Überhaupt gelingt Resnais ein bewundernswerter Brückenschlag: "Vous n'avez encore rien vu" ist ein großer Theaterfilm, der mit scharfem Auge die Spezifika des Kinos herausarbeitet. Das Theater stellt Präsenz her durch unbedingte Gegenwart, während im Kino das Ungleichzeitige sich begegnet, nebeneinander stellt, übereinander legt, sich umgarnt und umspielt. Jeder der Schauspieler war in unterschiedlichen Phasen seines Lebens einmal Orphée, einmal Eurydice, einmal in einem Resnais-Film, manch einer war es auch mehrfach, zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Zu manch einem Nebendarsteller, der eine Rolle im Spiel(-im-Spiel) über viele Jahre hinweg verkörperte, gibt es zwei Orphées, zwei Eurydicen, und mitunter stehen sich diese von Dekaden getrennten Körperwerdungen der gleichen (aber nie der selben) Idee im Bildkader direkt gegenüber und interagieren mit einem einzigen (oder aber verdoppelten) Gegenüber.

Im Kino, so demonstriert Resnais mit Verve und Witz und Poesie und Eleganz uns - die wir mitunter damit ringen, den Glauben aufrecht zu erhalten, diese Kunstform habe nicht ihre große Blüte bereits hinter sich - ist diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht nur möglich, sondern von grundlegender Notwendigkeit. So wie sich die Figuren der "Eurydice" in der Filmerzählung anreichern durch die verschiedenen Schauspieler, die ihnen einmal Körper, Gesicht und Stimme geliehen haben, so bleibt auch im Schauspieler selbst, der im Rahmen einer Fiktion als Persona seiner selbst agiert, ein Sediment jeder Rolle zurück, die er je spielte und/oder lebte. Jeder der berühmten Darsteller, die in Resnais' Film ihre eigenen Namen tragen, ist ein Konzentrat aus allen Rollen, die er je spielte und ist, auf der Leinwand oder jenseits von ihr, nicht mehr von diesen zu trennen.

Resnais weiß das und verdichtet es in wunderbaren Sequenzen am Beginn der Film-im-Film-Inszenierung, wenn er seine Darsteller wie hypnotisiert und nahezu willenlos in die Fiktion gleiten lässt. Kurz nur sehen sie den Schauspielern auf der Leinwand zu, dann beginnen sie, den Text mitzusprechen. Bald reißt es den ersten Zuschauer/Akteur aus dem Sessel, und der Körper beginnt der Stimme zu folgen. Dann öffnet sich der abgedunkelt-abstrakte Bühnen-/Kino-/Zuschauerraum, immer weitläufigere Kulissen tun sich auf, sehr spät im Film gar eine Außenwelt, lichtfunkelnde nächtliche Straßen, ein artifizielles, monochromes Naturpanorama. Am Ende des illusionistischen Spiegelpanoramas, so scheint Resnais anzudeuten, kann durchaus ein Weg in ein Außen stehen. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass diese Außenwelt die unwirklichste von allen ist.

Jochen Werner

---



In einer fernen Zukunft lebt die Menschheit auf einem Exilplaneten namens Nova Prime, wo sie sich gegen auf menschliche Angstpheromone spezialisierte Monstren namens Ursa zur Wehr setzen muss. "Ghosten" nennt sich eine Technik zur Körperbeherrschung, die die Gefahr zwar erkennt, die Angst aber unterdrückt. Auf diese Weise "unsichtbar" geworden, ist es dem als Held der Menschheit kultisch verehrten Cypher Raige (Will Smith) möglich, die Ursa anzugreifen und zurückzuschlagen. Deutlich im Schatten dieses Ruhms steht sein Sohn Kitai (Jaden Smith), der trotz großen Ambitionen beim Training für eine vergleichbare Militärlaufbahn kaum Erfolge vorweisen kann. Bei einem als Vater-Sohn-Annäherung gedachten gemeinsamen Einsatz in outer space kommt es zur Katastrophe: Das Raumschiff stürzt auf der mittlerweile verwilderten Erde ab, der Vater liegt schwerverletzt im Wrack des Raumschiffs, der rettende Peilsender ging in 100 Kilometer Distanz zu Boden. Unter Moderation des Vaters muss sich der Sohn in der Wildnis bewähren.

Wenn der Vater mit dem Sohne einmal ausgeht, wird das nicht prima: Regisseur M. Night Shyamalan - einst gepriesenes Wunderkind Hollywoods, mittlerweile aber ein von Kritik und Publikum in selten gesehenem Ausmaß getretener Hund - hatte sich mit originellen Genremeditationen wie "The Sixth Sense", "Unbreakable", "Signs", die die Mythen des Genres in eine Alltagswelt spiegeln, eine Position als Auteur innerhalb der Mainstreamindustrie gesichert, die mittlerweile gründlich erodiert ist. Hier legt er nur als Erfüllungsgehilfe ein reichlich seelenloses Vehikel für die Narzissmen von Will Smith vor, auf dessen Mist der ganze Film gewachsen ist.

Die (in kleineren Details variierte) Heldenreise nach Campbell stellt das Gerüst für diesen sich in der Welt des Science-Fiction-Kinos so unbekümmert wie ein Ladendieb bedienenden Film, der darin aber - anders als der sich ähnlich verhaltende "Oblivion" mit Tom Cruise - zu einer eigenen Meta-Eleganz nicht findet: Die Welt auf Nova Prima oszilliert zwischen "Wüstenplanet" und "Raumschiff Enterprise", die Raumschiffpassage in eine andere Welt orientiert sich in Erzähltempo und Ausstattungsästhetik an Ridley Scotts und H.R. Gigers "Alien", die zur Waldwelt mutierte, alte Erde scheint - wo nicht digital generiert - im selben Wald gedreht, der George Lucas als Kulisse für Endor in "Die Rückkehr der Jedi-Ritter" diente, die Auseinandersetzung mit den Ursa wirkt wie eine Übernahme der Bugs aus Verhoevens "Starship Troopers", der ferne Vulkan am Horizont schließlich, wohin den mythisch verbrämten Held Erlösung, letzte Begegnung mit dem Monster samt Tod und Wiedergeburt locken, wirkt wie eine zusammengeschmurgelte Variante des Schreckenslandes Mordor aus dem dritten "Herr der Ringe"-Film. Zwischendrin: Viel soldatisches Pathos, das sich ernst nimmt, statt einfach nur als Triebabfuhr für Befindlichkeitskitsch zu dienen, und ein Jayden Smith, der über weite Strecken des Films als Internet-Meme in spe dümmlich in die Kamera grimassiert, während Vater Will - dessen Starpersona ansonsten vor allem auf der Rolle des flappsigen Autoritätsskeptikers fußt - den kernigen Soldatenpapa mit geradezu lächerlich versteinerten Mundwinkeln gibt.



Nun wäre gegen eine Neuauflage der Heldenreise im Kino nichts zu sagen. "After Earth" legt auf dieses Strukturskelett nur reichlich lustlos Fleisch. Ahnungen des Wunderbaren - das rochenartige Raumschiff zieht ins All, Millionen von Büffeln beim Panoramablick über die alte Erde, die Gnade des guten Tiers, das sich dem Helden auf seiner Bewährungsreise zur Seite stellt, der Abstieg in die Höhle samt Überwindung des letzten Monsters - wirken wie sinnlos in einem weiten Raum zurückgebliebenes Mobiliar und verpuffen bei der langen Reise durch Wald und Flur. Auch, weil der Vater seinen Sohn ständig mit allerlei Gerät aus der Ferne misst und dirigiert, entsteht eher der Eindruck, es mit einem Computerspiel zu tun zu haben als mit einem tatsächlichen Abenteuer.

Ähnlich wie "Oblivion" steht "After Earth" für eine Anbindung an eher naive Formen der Science Fiction. War die völlig durchgestaltete Welt des ersteren als retronostalgische Angelegenheit zumindest noch von ästhetischem Wert, wirkt "After Earth" nur noch wie die Verfilmung eines mit Fug und Recht nicht in Klassikerstatus aufgestiegenen Paperbacks aus den 50ern oder 60ern. Mag sein, dass Will und Jayden Smith nun ein besseres Verhältnis zueinander haben, dass der Vater dem Sohn erfolgreich etwas mit auf den Weg geben konnte. Fragt sich nur, ob es für solche innerfamiliären Maßnahmen einen derartigen finanziellen Aufwand, das Rest-Renommee eines Auteur-Aspiranten und eines gelangweilten Massenpublikums bedurfte.

Thomas Groh

Ihr werdet euch noch wundern - Frankreich 2012 - OT: Vous n'avez encore rien vu - Regie: Alain Resnais - Darsteller: Sabine Azéma, Pierre Arditi, Anne Cosigny, Hippolyt Girardot, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Michel Piccoli - Laufzeit: 115 Minuten.

After Earth - USA 2013 - Regie: M. Night Shyamalan - Darsteller: Will Smith, Jaden Smith, Sophie Okonedo - Laufzeit: 100 Minuten.