Im Kino

Ein Weltreich am Ende

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer, Karsten Munt
05.11.2020. Olivier Marchals Netflixfilm "Banden von Marseille" zeichnet eine Gesellschaft, in der jeder Mann verstrickt und korrumpiert ist, ob er nun das Böse will oder das Gute. Die Frauen setzen ein schwarzes Kopftuch auf und leiden schweigend. Ciro Guerras Verfilmung des Coetzee-Romans "Warten auf die Barbaren" krankt am von Coetzee selbst verfassten Drehbuch. Zu sich findet der Film nur dort, wo die symbolischen Elemente des Romans über koloniale Gewalt direkt an Bilder gebunden werden.


Es wird nicht gut ausgehen, so viel ist klar: Gleich zu Beginn tötet ein verzweifelter Mann, den wir noch nicht kennen, seinen Hund und jagt sich dann selbst mit Blick auf das Meer eine Kugel durch den Kopf. Darauf der Vorspann. Diesen Endpunkt holt der Film, der eine lange Rückblende folgen lässt, erst spät wieder ein. Dem simplen Schuss geht eine ausgesprochen komplizierte Geschichte voraus, eine Geschichte von Mafiabanden und korrupten Polizisten, von Verstrickungen, die nicht unbedingt blutig beginnen, aber stets blutig enden. Regisseur und Drehbuchautor Olivier Marchal ist seit jeher der Tragöde unter jenen, die vom Verbrechen erzählen. Zur Tragödie gerät ihm seine Geschichte auch hier.

Der Schauplatz ist Marseille. Seine Schönheit ist groß. Gleißende Sonne, die Bucht und das Meer. Richard Vronski (Lannick Gautry) ist Polizist, mit dem Mafiaboss, der gerade von einem Knast in den anderen überführt wird, spricht er kenntnisreich über Tolstoi, Anna Karenina, Namen sind nicht nur Schall und Rauch. Im Hafen liegt sein teures Boot, seine Frau ist schwanger. Vronski wird vorgestellt als einer, dem der Schritt vom Weg nicht fremd ist: Weil die Frau des Bosses sterbend im Krankenhaus liegt, gewährt er wider die Vorschrift dem Verbrecher einen letzten Besuch. Ein menschlicher Zug, wie nicht alle der Schritte vom Weg, die ins Unheil führen, auf den ersten Blick Fehltritte, und wenn, dann auf den ersten Blick verzeihliche sind. Das aber ist die Tragödiengrundlage des Films: Jede Abweichung vom rechten Weg führt so oder so in die Hölle. Die Kräfte des Bösen, die draußen und auch die im Innern des Menschen, nützen jeden Hebel, der sich ihnen bietet.



Die Hölle: Marseille. Ihre Schönheit ist groß. Ein Clan, in einer Bar am Strand versammelt, Männer und Frauen, man feiert. Die Killer rücken an, Blut spritzt, die Tonspur kurz laut und klar, dann dumpf, als hätte der Lärm des Tötens dem Film die Ohren betäubt. Es bleibt aber, natürlich, nicht die letzte Szene, in der auf diese Weise aufgeräumt wird. Später, nachts, am Strand, als Vronski und seine Kollegen wiedergutzumachen versuchen, was nicht wiedergutzumachen ist, als sie, ganz im Gegenteil, die Dunkelheit mit diesem Versuch nur noch weiter vermehren. Wohin man auch blickt: Jeder Mann ist verstrickt, korrumpiert aus finsteren Gründen, aber der eine oder andere auch, weil er das Gute will oder einmal gewollt hat.

Männer sind es, fast ausnahmslos, die das Unheil bringen. Toxisch im Bösen, aber toxisch auch da, wo sie glauben, das Gute zu wollen, als Beschützer von Frauen und Kindern, als Freunde, die nach Mafialogik ihren Freund nicht verraten, was immer er angestellt hat. "Bronx", wie der Film im Original heißt, ist eine Abrechnung mit diesen Männern, mit ihrer Gewalt, mit ihrer sich nach außen abschottenden Kamaraderie, mit ihrem Schweigen und ihrem Glauben, dass nur Taten sprechen. Es sind die Frauen, die diese Festungen (Marseille, die clanartige Polizei, die Festung, als die sich jeder einzelne Mann sieht) aufbrechen, sie sind für diese Rolle schon deshalb prädestiniert, weil ihnen in die Festungen selbst kein Einlass gewährt wird.



Catherine Marchal spielt wie in vielen Filmen ihres Manns diese zur Refiguration des Männerbündischen entschlossene Figur, eine interne Ermittlerin, entsprechend verhasst. Auch ist da die Tochter des alten Polizei-Chefs (von Jean Reno gespielt), der allerdings wenig mehr als die Einsicht bleibt, dass ihr zwar die Rolle der Geliebten, aber nicht der gleichwertigen Kollegin zugedacht ist. Und die Einsicht dazu, dass auch der Vater nicht ist und nicht sein kann, was er scheint. Zu den Schönheiten des Films gehört es, dass als das Haupt der Häupter auf der Mafiaseite dann aber kein König, sondern eine Königin inthronisiert ist, mit Claudia Cardinale noch dazu perfekt besetzt. Nicht so schön dagegen, dass Marchal bei aller Kritik der Männlichkeit nicht anders kann und nicht anders will, als die machistischen Traditionen, die das Genre von Alters her prägen, zwar mit anderem Vorzeichen, aber ohne Abstriche wiederaufzuführen: So gibt es Shootouts mit Gewalt und Blutfontänen en masse. Viel männliches Herzblut und Blut. Die Frauen stehen letzten Endes am Rand, und sei es ganz oben, mit sehr dürftiger Screentime. Noch als gebrochene sind die Männer die eigentlichen Helden. Der Tragödie würdig: nur sie. Ihr Tod ist nach der Logik des Genres Verklärung. Die Frauen bleiben als Rest und als Schweigen zurück.

Ekkehard Knörer

Banden von Marseille - Frankreich 2020 - OT: Bronx - Regie: Olivier Marchal - Darsteller: Lannick Gautry, Stanislas Merhar, Kaaris, David Belle, Jean Reno, Catherine Marchal, Claudia Cardinale - Laufzeit: 116 Minuten. Wird gestreamt bei Netflix

---



Eine Wunde, die nicht heilt, klafft am Hals des Jungen. Der alte Mann, der neben ihm kauert, wird vom Magistrat (Mark Rylance) des kolonialen Außenpostens verhört. Beide sind hierhin gereist, um eine Medizin zu finden und werden, nun im Fort des Imperiums angekommen, des Viehraubs bezichtigt. Der Magistrat sieht keinen Grund dafür, beide länger festzuhalten: der alte Mann und sein kranker Junge sind körperlich nicht in der Lage, Vieh zu stehlen. Der kürzlich angereiste Colonel Joll (Johnny Depp) übernimmt das Verhör. Seine Methoden bedeuten das Ende der kleinen Familie: Der Junge wird als Späher auf ein Pferd gebunden, sein Onkel, der alte Mann, wird im Verlauf der Folter sterben.

Der Auftritt des Colonels bildet das einfache Ausgangsszenario des Films: Das Imperium, dem Magistrat und Colonel dienen, braucht einen neuen Feind. Wenn es keine Länder mehr zu kolonialisieren und keine Barbaren mehr zu unterwerfen gibt, kommt das Weltreich an sein Ende. Im Film ist das Imperium entsprechend nicht ein konkretes, sondern das Weltreich - ohne Namen und jenseits der klaren historischen Verortung. Hier gibt es nur blaue und weiße Uniformen. Joll trägt als Militäroffizier blau. Johnny Depp spielt den Apparatschik als distanzierte Version seiner klassischen Paradiesvogel-Rolle, dessen Camp-Faktor von seiner Steam-Punk-Sonnenbrille noch zusätzlich betont wird. Ihm gegenüber steht der Magistrat in weißer Uniform. Ein aufrichtiger Mann, der die unterworfene Kultur erforscht. Er macht Ausgrabungen, sammelt kleine Holztafeln mit unbekannter Inschrift und spricht, wenn er die indigene Bevölkerung als "Barbaren" bezeichnen muss, stets die Anführungszeichen mit. Mark Rylance gibt dem Magistrat eine fast Messias-artige Aura von Güte und Naivität. Die Farbe der Uniform täuscht nicht darüber hinweg, dass beide Männer für das gleiche Regime stehen, das sich einer unerschlossenen Welt bemächtigt. Die Frage, wer die Barbarei in die Wüste bringt, ist damit bereits beantwortet: Das Imperium erfindet neue Feinde, foltert und vernichtet sie.



Es kann kaum als Überraschung gelten, dass Ciro Guerra, als Filmemacher, dessen gesamte Filmografie sich dem Kolonialismus und dem Überlebenskampf indigener Völker widmet, J. M. Coetzees Roman "Warten auf die Barbaren" adaptiert. Erstaunlich erscheint eher, dass der 80-jährige Literaturnobelpreisträger selbst das Drehbuch für den Film verfasst hat. Für den sehr genau am Roman ausgerichteten Film ist das über weite Strecken eher Fluch als Segen. "Waiting for the Barbarians" möchte die literarischen Motive des Romans erhalten. Der filmische Übersetzungsversuch erzeugt dabei oft ein seltsames Vakuum. Die Idee, dass die Sprache ein zentrales Element der imperialistischen Unterdrückung ist, klammert der Film etwa in zwei exakt aus dem Roman zitierten Monologen ein. Colonel Joll erklärt, dass nur der Schmerz die Wahrheit spricht, bevor er seine Opfer diese Sprache lehrt, während der Magistrat die ihm fremde Sprache auf seinen Ausgrabungsstücken zur Anklage gegen das Imperium ausruft. In der doch sehr schablonenhaften Setzung wirken diese Monologen dabei weniger wie Teile eines eigenständigen Werks als wie bloße Verweise auf den Roman.

Wirklich zu sich findet die Adaption nur dort, wo die symbolischen Elemente des Romans direkt an Bilder gebunden werden. Die nicht heilenden Wunden der indigenen Bevölkerung etwa, die nicht nur emblematisch für die Geschichte von Imperialismus und Kolonialismus stehen, sondern von Guerra auch zum unmittelbaren ästhetischen Ausdruck benutzt werden: als Spuren auf den Körpern der Opfer, als Knochenbrüche, als Schnitt- und Brandwunden. Den grausamen Höhepunkt markiert ein langer Draht, der sich durch dutzende Körper zieht und dabei jede Hand und jede Mundhöhle durchbohrt, um die Nomaden im Schmerz bewegungsunfähig zu machen. Jeder Kontakt zwischen Imperium und indigener Bevölkerung kreist primär um die körperliche Versehrtheit. Als der Magistrat eines von Jolls Opfern, eine junge Frau (Gana Bayarsaikhan), zu sich nimmt, wird sein Versuch, ihren geschundenen Körper zu pflegen, zum Symbol der Unvereinbarkeit beider Welten. Ihre zertrümmerten Füße können nie wieder alleine stehen, ihre zerstörten Augen können nie wieder sehen. Der Magistrat kann als Teil der Kolonialverwaltung die Wunden nicht heilen, die das Imperium geschlagen hat.

Karsten Munt

Waiting for the Barbarians - Italien, USA 2019 - Regie: Ciro Guerra - Darsteller: Mark Rylance, Johnny Depp, Robert Pattison, Gana Bayarsaikhan, Greta Scacchi, David Dencik - Laufzeit: 112 Minuten. Findet man über Just watch