Magazinrundschau - Archiv

The New York Review of Books

389 Presseschau-Absätze - Seite 5 von 39

Magazinrundschau vom 24.09.2019 - New York Review of Books

In der neuen Ausgabe des Magazins berichtet Madeleine Schwartz über Trumps Abschiebungsgerichte, die sich nicht selten unmittelbar an der Grenze zu Mexiko befinden und in denen direkt der Regierung unterstellte, nach ihren Anweisungen arbeitende Richter im Akkord Migranten ausweisen: "Trumps Bestreben, Einwanderung einzudämmen, bedeutet viel Arbeit für die Gerichte. Einige Richter arbeiten in Gerichten, andere aus Gefangenenlagern heraus oder direkt an der Grenze. Innerhalb einer Woche habe ich vier Gerichte im Rio Grande Valley besucht, zwei Einwanderungsgerichte, ein Bundesgericht sowie Zelte, in denen Anhörungen stattfinden. Viele Anhörungen, die zur Ausweisung führten, dauerten nur Minuten. In Port Isabel wurde ein Mann wegen Kreditkartenbetrugs angeklagt, der zuvor von Grenzkontrolleuren in einem Gefängnis vor Ort aufgegriffen wurde. Die Anklage wurde fallengelassen, aber der Mann war illegal eingereist. Der Beweis war ein I-213, ein 'Eintrag als abschiebungswürdiger/unzulässiger Ausländer', den die Grenzkontrolle vorgenommen hatte. In einem ordentlichen Gericht wäre der Beamte, der das Formular ausgefüllt hat, gehört worden. Im Einwanderungsgericht ist das Formular Beweis genug, wie mir vom American Immigration Council später erläutert wird. Der zuständige Richter nahm das Formular über den illegalen Grenzübertritt als unbestrittene Tatsache. Er erklärte dem Mann, dass die Anklage auf 'Entfernung' auf 'eindeutigen Beweisen' beruhe. Er wandte sich an die Frau des Mannes, eine US-Bürgerin, die in eleganter Aufmachung im Gericht erschien: 'Es gibt einen Weg, auf legale Weise zurückzukehren, verbauen sie sich den nicht.' Cesar de Leon, der Anwalt des Mannes, erklärte mir später, dass sein Klient mit einem Eintrag als illegal Eingereister wohl nicht mehr zurück zu seiner Familie in den USA gelangen würde."

Und in einem weiteren freigeschalteten Artikel untersucht Helen Epstein anhand zweier neuer Publikationen, wieso die Inuit in Kanada und Grönland die höchste Selbstmordrate der Welt verzeichnen.

Magazinrundschau vom 10.09.2019 - New York Review of Books

In der aktuellen Ausgabe der New York Review of Books stellt J. M. Coetzee das Buch des Iraners Behrouz Boochani vor, der darin von seinen Erfahrungen als Flüchtling in einem australischen Lager in Papua Neuguinea berichtet. Und auch wenn Coetzee versteht, dass Einwanderung in ein anderes Land begrenzt werden können muss, so denkt er doch - mit Blick auf Südafrikas im Prinzip unfreundliche, in der Realität menschlich-chaotische Einwanderungspolitik -, dass die australische Regierung effizientere, aber auch besonders inhumane Methoden einsetzt: "Gejagt vom iranischen Regime aufgrund seines Einsatzes für die Belange der Kurden floh der Autor 2013 über Indonesien, wurde in letzter Sekunde von einem nicht seetüchtigen Boot gerettet und in eins der Lager des Commonwealth von Australien im Pazifik verbracht, wo er bis heute ausharrt … Das Betreiben der Lager war von Anfang an geheim. Die Insassen wurden nicht beim Namen genannt, sondern erhielten Nummern, Fotografien waren verboten. Für Informationen über das Leben in den Lagern sind wir auf Berichte wie den Boochanis und die von australischen Ärzten und Sozialarbeitern angewiesen, die trotz Verbots mitteilen, was sie dort erlebt haben. Auf Basis dieser Informationen müssen wir folgern, dass es sich bei den Lagern in Manus und Nauru nicht nur um temporäre Unterbringungen handelt, sondern um Straflager, wo die Insassen oder bürokratisch gesprochen 'Klienten' eine unbegrenzte Strafe dafür absitzen, dass sie Australien ohne Papiere angesteuert haben. Die Haltung der australischen Wachen, viele von ihnen Veteranen aus Afghanistan und dem Irak, scheint geprägt von ständiger Gewalt, die durch die Vermutung, unter den Häftlingen befänden sich als Flüchtlinge getarnte islamische Terroristen, noch befeuert wird. Die Lokalbevölkerung betrachtet die Flüchtlinge nicht minder feindselig. 2014 wurde das Lager auf Manus von der Polizei und von Zivilisten gestürmt, die Insassen angegriffen und einer von ihnen getötet … Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise waren auf Manu 1353 und auf Nauru 1233 Menschen interniert. Für Nauru ist das Lagergeschäft lukrativ. Für jeden Internierten verdient es 1400 US-Dollar Visagebühren pro Jahr, Australien kostet ein Gefangener rund 38.000 US-Dollar jährlich. Für denselben Gefangenen würden die Kosten auf dem Festland nur 7000 Dollar jährlich betragen."

Magazinrundschau vom 06.08.2019 - New York Review of Books

Im Blog der New York Review of Books beklagt Sonia Faleiro die Methoden des amtierenden indischen Premiers Narendra Modi, dessen Amtszeit seit Mai 2014 vor allem durch Nichteinlösung seiner Wahlversprechen und das Stummstellen oppositioneller Stimmen auffällt: "Kritische Journalisten müssen mit Mord- oder Vergewaltigungsdrohungen und Verhaftung rechnen. Modi nennt sie 'Prostituierte' … Vergangenen Juli wurde die Show 'Master Stroke' des respektablen Fernsehmoderators Punya Prasun Bajpai auf die schwarze Liste gesetzt, nachdem er nachgewiesen hatte, dass eine Video-Konferenz zwischen Modi und Bauernvertretern, die das Wachstum im ländlichen Raum belegen sollte, gefälscht war. Die Bauern hatten beteuert, ihre Einkommen hätten sich unter Modi vervielfacht, aber Bajpais Reporter fanden heraus, dass die Bauern einem vorgefertigten Skript folgten. Bajpai wurde daraufhin gewarnt, dass Sender, die nur zehn Prozent ihrer Zeit kritisch über Modi berichteten, von seiner Partei  Bharatiya Janata (BJP) gemieden würden. Sprecher der Partei standen dem Sender nicht mehr für Interviews zur Verfügung. Nachdem Bajpai vom Sender angewiesen wurde, Modis Namen und Bild in keinem kritischen Bericht mehr zu verwenden, schmiss Bajpai hin. Für die anderen Medien ein abschreckendes Beispiel. Die Mehrheit von ihnen berichtet seither nurmehr noch über den Indian National Congress (INC), auch wenn die Partei als Opposition ausgedient hat, und kritisiert längst verstorbene Kongressführer wie Nehru. Unterdessen bestimmen eindeutige Falschmeldungen, etwa über Modis Einsatz für Minderheiten die Nachrichten."

Magazinrundschau vom 30.07.2019 - New York Review of Books

Unter besonderer Berücksichtigung von Oliver Mortons optimistischem Buch "The Moon: A History for the Future" rekapituliert James Gleick das Rennen zum Mond, das, ahem, von deutschen Ingenieuren ausgetragen wurde: "Geboren wurde es aus den Ruinen des V-2-Projekts. Mit einigem Recht nennt Douglas Brinkley in seinem Buch 'American Moonshot' die amerikanische Beschlagnahmung von Wernher von Brauns Blaupausen und Zeichnungen zusammen mit Tonnen an V-2-Teilen 'einen der großen technologischen Raubzüge der Geschichte'. Von Braun selbst schob schon lange Pläne, zu den USA überzulaufen, und der militärische Geheimdienst rollte ihm den roten Teppich aus und kehrte seine Kriegsverbrechen darunter. Die Rote Armee auf der anderen Seite schnappte sich Peenemünde und übernahm so viele Ingenieure und Raketenbauer wie sie finden konnte - weit weniger als von Braun den Amerikanern auslieferte, aber genug, um Stalins neues Raketenprogram zu starten."

In einem anderen Artikel erinnert Fintan O'Toole an den ersten und einzigen, noch dazu unverhohlen autobiografischen Roman von Boris Johnson - der Held "fährt mit dem Rad nach Westminster, ist seiner Frau untreu, ist auf schnoddrige Weise rassistisch und politisch opportunistisch und sieht aus wie ein soeben ertappter Ehebrcher auf der Flucht" - und benennt Parallelen und Unterschiede zwischen Trump und Johnson: "Während Trumps Anarchismus in Autoritarismus übergeht, geht Johnsons über in Nihilismus: Die Vagheit des Spaßmachers, die ihn an die Macht gebracht hat, wird ihm bei schweren Entscheidungen nichts nützen. Brexit ist längst kein Witz mehr. Aber was kommt da auf Johnson zu? Sein bester Witz, war gar keiner. Im November 2016 erklärte er, Brexit bedeute Brexit, und es würde ein titanischer Erfolg werden. In diesem historischen Moment des Handelns wider besseres Wissen ahnen die meisten von Johnsons Unterstützern , dass der Brexit tatsächlich die Titanic ist und sein ausweichendes Handeln nichts ausrichten wird. Aber wenn das Schiff schon untergeht, warum nicht mit Boris ein bisschen Spaß haben auf dem Oberdeck?"

Außerdem: Steven Simon and Jonathan Stevenson argumentieren gegen einen Krieg mit dem Iran. Und der Schriftsteller Joseph O'Neill liest zwei Bücher über Amerika als Nation: von Jill Lepore und Suketu Mehta,

Magazinrundschau vom 02.07.2019 - New York Review of Books

Michael Tomasky betrachtet die Riege der Kandidaten unter den Demokraten für das Präsidentschaftsamt. Bis April nächsten Jahres werden zwanzig Bewerber in zwölf Debatten um die Gunst des Wahlvolks ringen. Doch der Nominierungskampf könnte sich länger ziehen, denn die Wählerschaft ist zerstritten: Hier die zumeist älteren moderat Liberalen und dort die zumeist jungen Linken, die den Ton angeben, aber längst nicht so stark sind, wie sie in den Medien aussehen, wie Tomasky mit einer Reihe von Zahlen belegt. Vor allem Schwarze gehören eher zu den moderaten bis konservativen Liberalen: Einmal, weil sie oft religiöser sind als viele Weiße, und zum zweiten, weil sie mehr zu verlieren haben: "Die gegenwärtige Kluft scheint nicht nur ökonomisch, sondern auch ganzheitlich zu sein, mehr geprägt von Sensibilität, Erfahrung, Identität, emotionalen Reaktionen auf Macht und Ideen, wie man sie herausfordert und annimmt. Eine solche Kluft umfasst alle Themen: Wirtschaft, Geschlecht, Rasse, Klima - was auch immer. Es geht um eine grundlegende Weltanschauung, und solche Meinungsverschiedenheiten sind tiefer und weniger kompromissfähig. Wir werden sehen, was passiert, wenn die Abstimmung beginnt. Aber mit einem Establishment, das Bernie Sanders gern ausschließen würde, einer Sanders-Basis, die stets bereit ist, wahrgenommene Schwachstellen in Kriegsangelegenheiten zu verwandeln, mit Medien, die glücklich sind, diese Fehden im Namen von Klicks zu verstärken, und mit einem Präsidenten (und seinem Propagandanetzwerk, Fox News), der nur darauf wartet, Benzin auf jedes kleine demokratische Feuer zu werfen und es in ein Inferno zu verwandeln, sind die Vorwahlen eine potenziell gefährliche Situation."

Ansonsten ist die neue NYRB stark der Literatur gewidmet: Rachel Cusk schreibt über Yiyun Li, Deborah Eisenberg über Natalia Ginzburg und Robert Gottlieb (leider nicht online) über Ivo Andric.

Magazinrundschau vom 11.06.2019 - New York Review of Books

Natürlich hatten die Afrikaner eine Geschichte und Kultur vor der Kolonisierung. Es gab Reiche, Könige, Kriege und Handel. Man weiß nur wenig darüber. Howard W. French hat fünf Bücher gelesen, die versuchen, wenigstens einen Teil dieser Geschichte zu rekonstruieren. Dabei stellt sich heraus, dass afrikanische Herrscher ihren europäischen Kollegen an Pomp und Brutalität in nichts nachstanden. Aber es gab auch Ausnahmen, lernt er zum Beispiel aus Toby Greens "A Fistful of Shells: West Africa from the Rise of the Slave Trade to the Age of Revolution". Und es gab immer wieder afrikanische Könige, die Einfluss auf die Geschichte Europas hatten. Das Königreich Kongo zum Beispiel, bei der portugiesischen Ankunft in den 1480er Jahren bereits ein fortschrittlicher Staat mit gewählten Königen war, bekannte sich schnell zum Christentum, weigerte sich aber, Sklaven zu verkaufen: "Angesichts des Widerstands gründete Portugal 1575 in Luanda (heute Angola) eine an das Königreich angrenzende Kolonie, auf deren Grundlage es eine aggressive Destabilisierungskampagne gegen seinen alten Partner führte. Kongo widersetzte sich den Portugiesen beharrlich und wandte sich schließlich an Holland als Verbündeten, weil dieses Land noch nicht an der Sklaverei beteiligt war und ein Feind der damals vereinigten Königreiche Spanien und Portugal war. Der Brief von 1623 des Königs von Kongo, Pedro II., der ein Bündnis mit Holland initiierte, forderte 'vier oder fünf Kriegsschiffe sowie fünf oder sechshundert Soldaten' und versprach, 'die Schiffe und die Gehälter der Soldaten in Gold, Silber und Elfenbein' zu bezahlen. Holland trat bald der vorgeschlagenen Allianz bei und hoffte, dass durch die Unterbindung des Sklavenhandels in dieser Region, die allein mehr als die Hälfte der nach Brasilien und Spanisch-Indien verschleppten Sklaven lieferte, Brasilien selbst, eine Plantagengesellschaft und damals Portugals hauptsächliche Wohlstandsquelle, unrentabel würde."

Magazinrundschau vom 24.06.2019 - New York Review of Books

Vergangene Woche verglich der Autor und Aktivist Jean Ziegler im FR-Interview die Flüchtlingscamps auf der griechischen Insel Moira mit Konzentrationslagern (unser Resümee). Auch die New Yorker Kongress-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez bezeichnete kürzlich die Flüchtlingszwischenlager an der Südgrenze der USA als "Konzentrationslager" - und löste eine heftige Debatte in den amerikanischen Medien aus. Mit Blick auf die Geschichte der Massenlager, die Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Massenproduktion von Stacheldraht und Maschinengewehren auftraten und erstmals im kubanischen Unabhängigkeitskampf gegen Spanien eingesetzt wurden, findet die Historikerin Andrea Pitzer den Begriff nicht nur legitim, sondern spricht auch von einem neuen "Konzentrationslagersystem" in den USA. Sie befürchtet eine Institutionalisierung der Lager wie in Guantanamo und verweist auf die Zustände: "Am 11. Juni entdeckte ein Universitätsprofessor mindestens 100 Männer hinter Maschendrahtzäunen in der Nähe der Paso del Norte-Brücke in El Paso, Texas. Diese Häftlinge berichteten, sie hätten wochenlang draußen gesessen, bei Temperaturen von über 38 Grad. Taylor Levy, ein Anwalt der Einwanderungsbehörde in El Paso, berichtete, er sei in eine Einrichtung gegangen und habe "'einen vierjährigen Selbstmörder entdeckt, dessen Gesicht mit blutigen, selbst zugefügten Kratzern übersät war… Ein weiteres Kleinkind musste von seiner Mutter festgehalten werden, weil es mit Vollgas gegen Metallschränke rannte. Er war voller Blutergüsse.' Wenn die Entscheidung, was mit dieser wachsenden Zahl von Erwachsenen und Kindern, die in den USA Zuflucht suchen, zu tun ist, auf einer komplexen humanitären Politik und internationalen Gesetzen beruht, an denen die meisten Amerikaner kein großes Interesse haben, stellt sich  eine einfache Frage: Was genau sind diese Lager, die die Trump-Regierung eröffnet hat, und wohin führt dieses Programm der Masseninhaftierung?"

Es geht in der Debatte nicht um die Begrifflichkeit, meint Masha Gessen auch im New Yorker: Es ging Ocasio-Cortez vielmehr darum, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen: "Der Holocaust und der Gulag sind solch ungeheuerliche Ereignisse, dass allein die Vorstellung, sie zu relativieren, ebenfalls ungeheuerlich erscheint. Das mcht sie allerdings auch unvorstellbar. Indem wir die Geschichte zu etwas erklären, das nie hätte passieren dürfen, schmieden wir sie zu etwas, das nicht passieren konnte. Der logische Fehlschluss wird unvermeidlich. Wenn etwas nicht passieren darf, dann ist das, was passiert, eben nicht dieses etwas. Was wir im wahren Leben sehen, oder zumindest im Fernsehen, kann unmöglich dasselbe ungeheuerliche Phänomen sein, vom dem wir kollektiv beschlossen haben, dass es unvorstellbar ist."

Magazinrundschau vom 14.05.2019 - New York Review of Books

Die Historikerin Maya Jasanoff gleicht eigene Erlebnisse in Kalkutta mit Debjani Bhattacharyyas aktuellem Buch "Empire and Ecology in the Bengal Delta: The Making of Calcutta" ab: "Die Vorstellung, der Imperialismus habe den Reichtum aus Indien abgezogen, wurde zu einem Grundprinzip des indischen Antikolonialismus. Aber wie der Wirtschaftshistoriker Tirthankar Roy gezeigt hat, waren die Auswirkungen der britischen Kolonialherrschaft auf die Entwicklung Indiens in Wirklichkeit sehr unterschiedlich und ungleichmäßig. Während die Armut im ländlichen Bengalen zunahm, florierte die Stadt Kalkutta als Produktionszentrum und Zentrum des Seehandels. Bhattacharyya macht jedoch deutlich, dass die Wirtschaft für die Elite boomte, die Arbeiterklasse jedoch zu kämpfen hatte. In den Jahren zwischen den Weltkriegen wuchs die arbeitende Bevölkerung der Stadt, und da Land in Kalkutta immer knapp war, stiegen die Mieten. Aus der Empörung der Bevölkerung gegen Bodenspekulanten und Profiteure entstand eine starke kommunistische Bewegung. Unterdessen trugen im ländlichen Bengalen eine Reihe von ökologischen und marktwirtschaftlichen Erschütterungen zur Verarmung der Jutebauern bei, sodass die ländlichen Gebiete durch den Anstieg der Reispreise während des Zweiten Weltkriegs in Hungersnot gerieten. Zehntausende hungernder Bauern machten sich verzweifelt auf nach Kalkutta, wo sie auf den Straßen an Hunger starben."

In einem anderen Beitrag liest Ben Fountain die Erfolgsgeschichte von Howard Schultz, lange Zeit Mr. Starbucks, mehrfacher Milliardär und die Personifikation des American Dream ("From the Ground Up: A Journey to Reimagine the Promise of America"), und entdeckt eine merkwürdige Melancholie, ja existenzielle Angst in dem Buch: "Ein Zustand, den er auf seine chaotische Kindheit zurückführt. Sein Vater, ein launischer Veteran des Zweiten Weltkriegs, lief von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Schultz' Eltern stritten oft und heftig, meist über Geld. Ständig waren Geldeintreiber hinter ihnen her … Schultz ist sich der Komplexität der Dinge zu bewusst, um seinen Erfolg als Einlösung der Träume seines Vaters zu deuten, dessen Geist, Wut und Versagen das Buch durchziehen. Als Kind musste Schultz oft Geld von Nachbarn leihen. Und die Jüdische Familien-Vorsorge rettete die Familie vor dem Verhungern. Schultz schreibt: Kein Geld zu haben, betrifft Leib und Seele. Es kann sich äußern als Mangel an Sicherheit, Möglichkeiten, Mobilität, Gesundheit, Information, Zeit und Würde."

Magazinrundschau vom 30.04.2019 - New York Review of Books

Jacopo Tintoretto: Das letzte Abendmahl, circa 1563-1564, Chiesa di San Trovaso, Venedig


Anlässlich einer Schau in der National Gallery of Art in Washington untersucht der irische Schriftsteller Colm Tóibín die Wildheit Tintorettos:  "Während die Ausstellung in der Nationalgalerie versucht, Tintoretto als Maler mit vielen Gesichtern neu zu interpretieren, geht es ihr nicht nur darum, ihn als Porträtmaler und religiösen Maler mit klar vorgestellten dramatischen Szenen im neuen Licht zu präsentieren. Dies sind nur Aspekte eines Talents, das sich nicht begrenzen lässt. Die Ausstellung erinnert auch daran, dass Ruskin Recht hatte, wenn er von der Wildheit Tintorettos sprach. Sie wird sichtbar in einer Reihe von Gemälden, die ruhelos wirken, deren Muster nicht leicht zu erkennen ist, deren Wirkung aber dennoch kraftvoll und schockierend ist, weil das Auge nicht weiß, wo es sich niederlassen soll. Jeder Farbton, jede Farbe, jedes Gesicht, jedes Objekt fordert Aufmerksamkeit, ohne dass wir daran zweifeln, dass das Bild einen einzigen Moment an einem einzigen Ort darstellt. Es handelt sich um Action Paintings, belebt von theatralischem Eifer. Sie veranlassten Théophile Gautier, Tintoretto 'le roi des fougueux' zu nennen (den König der Feurigen, der Ungestümen)." Als Beispiel nennt Tóibín Tintorettos "Letztes Abendmahl" aus den Jahren 1563-1564: "Die Szene ist völlig chaotisch, als ob eine Explosion stattgefunden hätte. Christus befindet sich im Zentrum im oberen Teil des Bildes, hinter ihm ein Torbogen und der Blick auf eine Landschaft. Er allein wirkt fest, gelassen und unter Kontrolle. Er gestikuliert mit der rechten Hand. Er spricht. Die Apostel wirken wie unter Schock, in heller Aufregung, wie sie sich auf den Tisch stützen, die Arme ringen oder sich abwenden. Es hat die Aura einer weltlichen Szene, nichts Heiliges oder Anmutiges. Während Tintoretto um das Haupt Christi einen vagen Heiligenschein legt und er eindeutig als Führer identifizierbar ist, dem man zuhört, scheint es eher unwahrscheinlich, dass er mit dem bunten Haufen um ihn herum die Welt erlösen wird."

In einem anderen Text geht Coco Fusco der Thematisierung sexueller Gewalt gegen Frauen in der amerikanischen Kunst seit 1970 nach, wie sie ein Buch von Vivien Green Fryd ("Against Our Will: Sexual Trauma in American Art Since 1970") vornimmt: "Fryd konzentriert sich auf feministische Kunst, die die Allgegenwart von Vergewaltigungen in den Vordergrund stellt, und preist diese Kunst wegen ihrer Fähigkeit, die Überlebenden und das öffentliche Bewusstsein zu stärken. Sie konzentriert sich darauf, wie die Erfahrung der Überlebenden und nicht das Handeln des Täters dargestellt wird und wie das den Betrachter beeinflusst. Ihre Studie ist teils soziologisch, indem sie die Beziehung zwischen feministischen Kunstprojekten und feministischem politischem Aktivismus aufzeigt und ihre Auswirkungen auf öffentliche Debatten und Gesetze gegen sexuelle Belästigung und Missbrauch. Ungewöhnlich für eine kunsthistorische Studie ist, dass sich Fryd der 'Traumatheorie' bedient, und zwar sowohl für die Diskussionen der Rolle des Publikums als auch für ihre Analyse feministischer Kunst."

Magazinrundschau vom 24.04.2019 - New York Review of Books

Antonello da Messina, Annunciate Madonna, 1475-76, Galleria Regionale della Sicilia di Palazzo Abatellis, Palermo
Der Maler Antonello da Messina ist nicht so berühmt wie Michelangelo, Leonardo oder Caravaggio, aber gemalt hat er genauso gut. Fast überirdisch kommen Ingrid D. Rowland seine Bilder vor, die sie gerade in zwei Ausstellungen in Palermo (schon vorbei) und Mailand (noch bis 2. Juni) gesehen hat: "Antonellos wahre Themen sind universell: Liebe, Verzweiflung, Trauer, Vergnügen und vor allem Licht. Niemand, nicht einmal Leonardo oder Piero della Francesca, hat jemals so eindringlich darauf geachtet, wie Licht funktioniert. Er wusste nichts von Photonen oder elektromagnetischen Wellen, aber er verstand die Unterschiede zwischen Strahlen, Schimmer, Reflexionen, Leuchten, Brillanz und Glanz und nahm sie mit unheimlicher Durchdringung auf. Gleichzeitig war er ein Meister des psychologischen Details und der Natur und achtete darauf, die Reflexionen der unendlich kleinen Enten auf einem fernen Teich zu malen oder den Heiligen Hieronymus in seinem Arbeitszimmer zu beruhigen, indem er ihn mit der idealen Gesellschaft für einen Gelehrten umgab: einem gelassen herumstreifenden Löwen und einer schlafenden Tigerkatze. ... Von allen Gemälden Antonellos ist die bemerkenswerteste vielleicht seine Annunciate Madonna, eine junge Frau, die einen herrlichen, wahrhaft blauen Mantel um sich zieht, während sie die Botschaft aufnimmt, die ihr der Engel Gabriel gerade überbracht hat: Sie soll den Sohn Gottes gebären. Ihre rechte Hand ist ausgestreckt, als ob sie die überstürzte Ankündigung des Engels - oder die Zeit selbst - anhalten wollte - eine brillante Übung der Verkürzung und eine noch brillantere Übung in Licht, Schatten, Leuchtkraft und winzigen Glanzlichtern, die den Kurator Giovanni Carlo Federico Villa veranlassten, dies "die großartigste Hand der Renaissance-Kunst" zu nennen."