Magazinrundschau

Phase der Verleugnung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.05.2019. Marilynne Robinson blickt für Harper's in die Zukunft und erahnt ewig lebende Reiche und unfreie Arme. Die NYRB lernt aus der Autobiografie von Howard "Mr. Starbucks" Schultz, dass Armut Geist und Körper verkrüppelt. Im Guardian fürchtet Timothy Garton Ash die Übernahme Europas durch Russland und China. In Novinky fragt Herta Müller die Osteuropäer, ob sie ihr Gedächtnis verloren haben? Bloomberg lernt, dass es in China wieder Gedankenverbrechen gibt. Und angesichts unserer Vorliebe für Superhelden schwant auch FilmComment nichts Gutes für die Zukunft.

Harper's Magazine (USA), 01.06.2019

In einem Essay des Magazins stellt die Autorin Marilynne Robinson die alte, weiterhin aktuelle Frage, ob wir mit Armut leben müssen: "Die Automatisierung bedroht heute schon die Beschäftigung und dieser Trend wird sich beschleunigen. Wenn die Arbeitszeit und die Arbeitskraft immer billiger werden oder es keine Lohnempfänger mehr gibt, wer sollen dann die Abnehmer für die Produkte dieser Branchen sein? Was wird die Wirtschaft bestimmen, wenn der Massenkonsum nachlässt? Werden wir weniger in Schulen und mehr in Kryotechnik investieren? Werden wir philanthropisch oder sozialistisch von einer Regierungsklasse subventioniert werden, die sich darüber beschwert, was es für ein Land an Mühe bedeutet, es mit einer Bevölkerung zu tun zu haben? Jüngst durften wir lernen, dass Leute ohne eine andere Qualifikation als die, ungeheure Geldmengen aufgehäuft zu haben, oft mit fragwürdigen Mitteln, sich als die naturgemäß herrschende Klasse betrachten. Wir haben auch gelernt, dass es sich dabei um engstirnige, eigennützige Menschen ohne Kultur und Fantasie handelt, die dergleichen auch nicht schätzen, Menschen, die im Kampf von achthunderttausend beurlaubten Bundesangestellten bloß ein halbes Prozent des BIP erkennen. Wenn Eigentum, wie es bis jetzt gedacht wurde, den alleinigen Anspruch auf die von diesem Land im Lauf der Zeit erzeugte Wirtschaftskraft begründet, sollten wir Donald Trump dafür danken, dass er uns einen nachhaltigen Eindruck davon verschafft hat, was das bedeutet. Es ist bestimmt nicht das Amerika unserer Träume. Die kommende automatisierte Wirtschaft wird grundlegende Konsequenzen haben für jeden Aspekt unseres Lebens und wird uns vor harte Entscheidungen stellen, sofern wir uns daran erinnern, was ich sehr hoffe, dass wir als freie Menschen mit entscheiden können sollten, wie unser Land aussehen soll, für uns und für die Nachwelt. Macht und Geld, ob privat oder staatlich, kann zu einer desaströsen Beurteilung bedeutender Angelegenheiten führen. Umso mehr, je plutokratischer das System ist, je mehr der Eigennutz die Politik bestimmt. Wie jeder kluge Amerikaner weiß, bedeutet Öffentlichkeit Sicherheit. Wenn ihr die zentrale Rolle in der Gesellschaft streitig gemacht wird, riskieren wir, die Weisheit an die Dämonen der Macht, an Dummheit, List, Engstirnigkeit, zu verlieren. Wie immer sich unsere Welt verändern mag, wir müssen uns eine aufmerksame, entschiedene Öffentlichkeit bewahren. Es waren die Wähler, denen ihr Urteilsvermögen und seine  legitime Wirkung abgesprochen wurden, als unsere Wahl geraubt wurde."

New York Review of Books (USA), 23.05.2019

Die Historikerin Maya Jasanoff gleicht eigene Erlebnisse in Kalkutta mit Debjani Bhattacharyyas aktuellem Buch "Empire and Ecology in the Bengal Delta: The Making of Calcutta" ab: "Die Vorstellung, der Imperialismus habe den Reichtum aus Indien abgezogen, wurde zu einem Grundprinzip des indischen Antikolonialismus. Aber wie der Wirtschaftshistoriker Tirthankar Roy gezeigt hat, waren die Auswirkungen der britischen Kolonialherrschaft auf die Entwicklung Indiens in Wirklichkeit sehr unterschiedlich und ungleichmäßig. Während die Armut im ländlichen Bengalen zunahm, florierte die Stadt Kalkutta als Produktionszentrum und Zentrum des Seehandels. Bhattacharyya macht jedoch deutlich, dass die Wirtschaft für die Elite boomte, die Arbeiterklasse jedoch zu kämpfen hatte. In den Jahren zwischen den Weltkriegen wuchs die arbeitende Bevölkerung der Stadt, und da Land in Kalkutta immer knapp war, stiegen die Mieten. Aus der Empörung der Bevölkerung gegen Bodenspekulanten und Profiteure entstand eine starke kommunistische Bewegung. Unterdessen trugen im ländlichen Bengalen eine Reihe von ökologischen und marktwirtschaftlichen Erschütterungen zur Verarmung der Jutebauern bei, sodass die ländlichen Gebiete durch den Anstieg der Reispreise während des Zweiten Weltkriegs in Hungersnot gerieten. Zehntausende hungernder Bauern machten sich verzweifelt auf nach Kalkutta, wo sie auf den Straßen an Hunger starben."

In einem anderen Beitrag liest Ben Fountain die Erfolgsgeschichte von Howard Schultz, lange Zeit Mr. Starbucks, mehrfacher Milliardär und die Personifikation des American Dream ("From the Ground Up: A Journey to Reimagine the Promise of America"), und entdeckt eine merkwürdige Melancholie, ja existenzielle Angst in dem Buch: "Ein Zustand, den er auf seine chaotische Kindheit zurückführt. Sein Vater, ein launischer Veteran des Zweiten Weltkriegs, lief von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Schultz' Eltern stritten oft und heftig, meist über Geld. Ständig waren Geldeintreiber hinter ihnen her … Schultz ist sich der Komplexität der Dinge zu bewusst, um seinen Erfolg als Einlösung der Träume seines Vaters zu deuten, dessen Geist, Wut und Versagen das Buch durchziehen. Als Kind musste Schultz oft Geld von Nachbarn leihen. Und die Jüdische Familien-Vorsorge rettete die Familie vor dem Verhungern. Schultz schreibt: Kein Geld zu haben, betrifft Leib und Seele. Es kann sich äußern als Mangel an Sicherheit, Möglichkeiten, Mobilität, Gesundheit, Information, Zeit und Würde."

Guardian (UK), 13.05.2019

Natürlich war Europas Geschichte immer eine von Integration und Desintegration, von Kriegs- und Friedenszeiten, doch diesmal, warnt ein alarmistisch gestimmter Timothy Garton Ash angesichts grassierender antieuropäischer ressentiments, ist es anders: "Über Jahrhunderte hinweg riss sich Europa in Stücke und setzte sich dann wieder zusammen, wobei es zugleich die anderen Teile der Welt ausbeutete, kolonisierte und herumkommandierte. Mit dem europäischen Bürgerkrieg, der zwischen 1914 und 1945 wütete und von Winston Churchill einst als zweiter Dreißigjähriger Krieg beschrieben wurde, setzte Europa sich selbst von seinem globalen Thron ab. Im fünften Akt der europäischen Selbstzerstörung betraten die USA und die Sowjetunion die Bühne wie Fortinbras am Ende von Hamlet. Immerhin war Europa noch während des folgenden Kalten Krieges die zentrale Bühne der Weltpolitik. Noch einmal machte Europa mit einem kurzen schillernden Moment 1989 Geschichte, aber dann verwehte Hegels Weltgeist flugs von Berlin nach Peking. Heute kämpft Europa darum, Subjekt zu bleiben und nicht bloßes Objekt der Weltpolitik zu werden - mit einem machthungrigen Peking, das dem Jahrhundert einen chinesischen Stempel aufdrücken will, einem revanchistischen Russland, den unilateralistischen USA des Donald Trump und einem Klimawandel. der uns alle zu überwältigen droht. Russland und China teilen und herrschen fröhlich über unseren Kontinent, benutzen ihre wirtschaftliche Macht, um sich schwächere europäische Staaten herauszugreifen oder mit Desinformationen die Nationen gegeneinander aufzuwiegeln. Im 19. Jahrhundert lieferten sich die europäischen Mächte den Wettlauf um Afrika. Im 21. Jahrhundert liefern sich die anderen einen Wettlauf um Europa."
Archiv: Guardian

Clarin (Argentinien), 10.05.2019

Schriftstellerin interviewt Schriftstellerin: María Sonia Cristoff befragt Annie Ernaux in Paris nach ihrer Methode und wie es bei ihr um das Verhältnis von Leben und Schreiben bestellt ist: "Alles, was mir passiert ist oder passiert, betrachte ich, als würde es jemand anderem passieren. Das hört sich vielleicht ein wenig schizophren an, ist aber buchstäblich so. Einerseits erlaubt mir das, zu erzählen, statt bloß Zeugnis abzulegen, andererseits kann ich so eine individuelle Geschichte, die angeblich die meinige ist, hinter mir lassen und mich auf das Gebiet des Kollektiven begeben. Die eigene Erfahrung zu erzählen hat dann Sinn, wenn diese irgendwann nicht mehr die eigene ist und Teil einer kollektiven Erfahrung wird, ja, wenn sie womöglich sogar eine Veränderung in dieser kollektiven Erfahrung bewirken kann. Der Schlüssel liegt dennoch in der Form, nicht in den erzählten Tatsachen, aber Form nicht im ästhetischen Sinn, sondern als Suche, als Konstruktion eines Blicks, der es mir erlaubt, besser zu sehen, Form als Verpflichtung gegenüber der Wahrheit. Mit der Pariser Literatur- und Kunstszene habe ich in jedem Fall zeitlebens so gut wie nichts zu tun gehabt. Das liegt ein wenig am Klassenunterschied - diese Szene ist extrem bürgerlich und lässt dich das spüren -, aber auch an der geografischen Distanz, daran, dass ich immer außerhalb gewohnt habe. Wenn ich nach Paris komme, fühle ich mich auch heute noch, nach all den Jahren, wie eine Ausländerin. Ich komme mit der U-Bahn, von unten, wie alle, die nicht aus dem Zentrum sind. Wie Maulwürfe entsteigen wir dem Untergrund."
Archiv: Clarin

HVG (Ungarn), 14.05.2019

Die im rumänischen Cluj geborene junge Schriftstellerin Ilka Papp-Zakor zeigt sich in der Wochenzeitschrift HVG über das von der Regierung geplante Trianon-Mahnmal "eher verärgert, weil Trianon aufgrund seines nicht diskutierten Charakters in der ungarischen Gesellschaft ein Explosionspunkt ist. Wer sagt, dass diese Frage längst vergessen sein sollte, hat auch nicht Recht. Es stört mich aber auch, wenn nur derjenige als Ungar anerkannt wird, den die Entscheidung von Trianon schmerzt. Mich schmerzt sie nicht, doch ich hätte es schon gern, wenn darüber anständig, in einem historischen Kontext gesprochen werden könnte und nicht mit schlagkräftigen Stichwörtern und mit geschmacklosen Mahnmälern. Letzteres gilt in den umliegenden Ländern als herumkaspern, obwohl dies politisch ausgenutzt werden kann. Man kann andererseits sagen, dass dies Revisionismus sei, Faschismus und eigentlich ist es auch kein großer Irrtum."
Archiv: HVG

Merkur (Deutschland), 13.05.2019

Während die Geologen wohl noch hundert Jahre brauchen düften, um das menschliche Zeitalter anzuerkennen, ist das Anthropozän in den Geistes- und Kulturwissenschaftler längst ausgemachte Sache. Allerdings stellt es sie vor das Problem, wieder den Menschen denken zu müssen, den doch schon Michel Foucault verschwinden sah "wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand". Hannes Bajohr versucht, Ordnung in diesen  anti-, post- und neohumanistischen Schlamassel zu bringen: "Ganz gleich, auf welcher Seite man sich in der Auseinandersetzung um den Anthropos im Anthropozän wiederfindet - sie zeigt, dass der Mensch zumindest als diskursiver Gegenstand just in dem Moment auf die Bühne der Geisteswissenschaften zurückgekehrt ist, da seine endgültige Verabschiedung schon sicher schien. Schreibt sich zwar die Tradition des Antihumanismus fort, sind gerade ihre widerwilligen Apostaten wie Morton oder Colebrook bestes Zeichen dafür, dass es zwar nicht mit dem Menschen, ganz ohne ihn aber auch nicht geht. Diese prekäre Wiederkehr bedeutet aber gerade keine Restitution einer substantiellen Anthropologie, so als hätte es die antihumanistische Kritik nie gegeben. Das Modell des Weltenbildners homo faber, den das 'gute Anthropozän' aufruft, das ist der richtige Punkt des Posthumanismus, ist in der strikten Gegenüberstellung von Mensch und Natur nicht aufrechtzuerhalten. Seine völlige Bestreitbarkeit ist aber im Anthropozän ebenso wenig zu haben - als Adressat ethischer Forderungen, als politisch Handelnder oder als Verursacher und Verantwortlicher des Klimawandels bleibt 'der Mensch' weiterhin ein operativer, aber eben prekärer Begriff."

Zu lesen ist außerdem ein Interview, in dem Anne Peters, die Direktorin des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, bemerkenswert nüchtern über die Macht des Völkerrecht spricht: "Das Recht ist natürlich nur ein Ordnungsfaktor neben anderen in den internationalen Beziehungen. Militärische Macht und wirtschaftlicher Druck - also: Gewalt und Geld - sind zwei weitere. Man darf sich keine Illusionen darüber machen, dass das Recht nur einen kleinen Beitrag zur Ordnung der Welt leistet - zumal harte Sanktionsmöglichkeiten kaum zur Verfügung stehen."
Archiv: Merkur

Novinky.cz (Tschechien), 10.05.2019

Mit Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sprach Sophie Menasse auf der Prager Buchmesse Svět knihy, wo Müller unter anderem zum Gespräch mit ihrem peruanischen Kollegen Vargas Llosa zusammentraf. Nach den Zukunftsaussichten der Demokratie in Osteuropa befragt, zeigt Müller sich klar pessimistisch: "In seiner berühmten Rede vor dem amerikanischen Kongress erklärte Václav Havel, die ehemaligen osteuropäischen Diktaturen könnten einerseits viel lernen von den Vereinigten Staaten und ihrer mehr als zweihundertjährigen Erfahrung mit der Demokratie, zum anderen aber auch aus ihren eigenen Erfahrungen mit der Diktatur - etwa, dass das Bewusstsein das Sein bestimmt und die Sehnsucht nach Freiheit eine Gesellschaft verändern kann. Damals hat er es vielleicht feierlicher formuliert … Das Problem ist, dass die meisten postkommunistischen Staaten im Gegenteil ihre historische Erinnerung unterdrücken. Die Regierungen dort kopieren sogar die Strukturen der Diktaturen. Sie vergessen etwa, dass die kommunistischen Regimes Tausende von Flüchtlingen produzierten. Wirklich viele politisch verfolgte Menschen sind ja aus den Ländern Osteuropas in den Westen geflüchtet. Dieselben Ländern weigern sich nun aber, Flüchtlingen aufzunehmen, obwohl es Syrer sind, die vor dem Krieg fliehen. Die Medien sind im Osten ähnlich monopolisiert wie vor 1989, und die Justiz wird von der Willkür herrschender Parteien abhängig und dient ihren politischen Interessen; das lässt sich deutlich in Polen erkennen. Ehemalige Funktionäre der Geheimpolizei können wichtige Staatsfunktionen besetzen und sich skrupellos bereichern. In Rumänien wird sogar von der Legalisierung der Korruption geredet. Das klingt nun wirklich nach Bananenrepublik! Zur gleichen Zeit attackieren hier die Menschen die Europäische Union, die einzige demokratische Allianz weit und breit, und sehnen sich nach der Umarmung durch die chinesische Diktatur oder Putins religiöse Autoritärherrschaft. Als hätten sie das Gedächtnis verloren. Mir erscheint das widerwärtig."
Archiv: Novinky.cz

La regle du jeu (Frankreich), 03.05.2019

Bernard Henri Lévy erzählt in einem längeren Text von einer Begegnung mit Viktor Orban, der allerdings auch im Gespräch mit ihm ziemlich genau die erwartbaren Dummheiten sagt. Interessanter ist die Beschreibung, die Lévy von ihm gibt, denn er kennt Orban schon seit 1990. Begegnet war Levy ihm, weil er für François Mitterrand einen Bericht über den Umbruch in den mitteleuropäischen Länder machte. "Zu jener Zeit war er eine der funkelndsten Figuren der Opposition, die gerade über die sowjetische Ordnung gesiegt hatte. Er hatte jüngst eine Studie über das Polen der Solidarnosc vorgelegt, die er dank eines Stipendiums von George Soros anfertigen konnte. Eine Rede auf dem Heldenplatz in Budapest, die er Imre Nagy widmete, dem Märtyrer des Aufstands vom Oktober 1956, hatte ihn berühmt gemacht. Nun steht er da - dreißig Jahre haben ihn verwandelt - wie ein feister Provinzgouverneur mit dem Körper eines Catchers in Rente, eine Art Putin ohne die Muskeln, mit einer fast unmerklichen Traurigkeit im Blick." Auf englisch ist Lévys Artikel in Atlantic nachzulesen.
Archiv: La regle du jeu

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.05.2019

Der Schriftsteller János Háy denkt darüber nach, ob man das Werk unabhängig vom Autor betrachten kann: "Trotz aller Bestrebung - wie bei einem exakten naturwissenschaftlichen Experiment - kann das literarische Werk nicht vom Autor abgetrennt werden. Für mich und vielleicht auch für die meisten Leser ist es interessant zu erfahren, was das Geheimnis ist, das ein Werk katalysiert. Dieses in seiner Gänze nie aufdeckbare Geheimnis steckt irgendwo in der Persönlichkeit des Autors, in seinem seelischen und geistigen Zustand. Es ist interessant, sich damit zu beschäftigen, doch es muss betont werden, dass unabhängig von der Persönlichkeit und der Motive, auf die wir dabei stoßen, diese keine Werke adeln können, die ästhetisch untragbar oder schwach sind. Man muss immer vom Werk ausgehen, das Werk berührt, und wenn das nicht passiert, dann ist es uninteressant, wer warum etwas geschrieben hat."

Film Comment (USA), 09.05.2019

"Von Caligari zu Hitler" ist ein Klassiker der Filmtheorie: Darin schildert Siegfried Kracauer eine Psychogeschichte des deutschen Films der Weimarer Republik, in dem sich die Sehnsucht nach Autorität wie ein Vorbote des NS-Regimes liest - und es ist auffällig, schreibt Christina Svendsen, wie viele zentrale Filme dieser Zeit in die Domänen von Fantasy und Science-Fiction fallen. Was sagt uns das über unsere Gegenwart aus, in der im Kino vor allem übermächtige Figuren ihre Superhelden-Dramen aufführen? Anders als die zwischen Gut und Böse changierenden Übermenschen des Weimarer Kinos, "erscheinen die Superhelden des 21. Jahrhunderts als entweder durch und durch gut oder durch und durch böse ... Der heutige Schlag Superhelden führt zwar progressive Werte im Munde, tritt ein für die Rechte von Frauen, Minderheiten und Menschen, die als außerhalb der Norm wahrgenommen werden. Aber unser obsessives Interesse an ihnen verweist auf ein Gefühl der Ohnmacht, das Erfüllung in transzendierender Macht sucht und einem sublimierten Wunsch, die Ordnung der Zivilisation zu zerstören - genau wie die Weimarer Deutschen. Die verzweifelt rigorose Moral, die wir unseren Science-Fiction- und Superhelden-Fantasien überstülpen, verweist jedoch auf eine tiefer liegende Bedrohung: eine aus dem Gleichgewicht geratene Ahnung, dass uns Realität und Orientierung, gefördert durch Bekenntnisse zu Wahrhaftigkeit und Fake News, abhanden kommen. Die Weimarer Deutschen hingegen waren sich dessen immerhin bewusst, dass sie sich in einer Phase radikalen Wandels fanden, oder 'Aufbruch', wie sie es nannten. Dies allein reichte zwar nicht aus, um den Irrsinn des Nazismus davon abzuhalten, die Gesellschaft mitzureißen, doch immerhin wurde die Gefahr als nahe und ansteckend real empfunden. Wir hingegen befinden uns mutmaßlich in einer Phase der Verleugnung."

Außerdem: Soraya Nadia McDonald denkt anlässlich von Jordan Peeles Horrorfilm "Us" über Fragen der afro-amerikanischen Assimilation nach. Kelly Conway schreibt einen Nachruf auf Agnès Varda. Und im Podcast des Magazins unterhält sich Eric Hynes mit Olivier Assayas:

Archiv: Film Comment

Bloomberg Businessweek (USA), 14.05.2019

Matthew Campbell and Peter Martin erzählen am Beispiel der Schikanen gegen den ThinkTank Unirule des  90-jährigen Mao Yushi - ein Ökonom, dessen an Hayek und Friedman angelehnte Theorien unter Deng Xiaoping florierten -, wie unerwünscht Denken ohne die Kommunistische Partei unter Präsident Xi Jinping wieder geworden ist. "Während China mit den Herausforderungen einer sich abschwächenden Wirtschaft und eines verlustreichen Handelskrieges mit den USA kämpft, sind einige ausländische Beobachter alarmiert. ''Ökonomische Entscheidungen sind unter Xi unglaublich personalisiert worden. Ein Ökonom, der Fragen stellt, kann als jemand angesehen werden, der Xi persönlich Fragen stellt', sagt Julian Gewirtz, Harvard-Forscher und Autor von 'Unlikely Partners: Chinesische Reformer, westliche Ökonomen und das Making of Global China'. Er nennt die daraus resultierende Kälte 'eine große Risikoquelle für Chinas Zukunft'. Unirule hat nach seiner plötzlichen Räumung ein neues Büro gefunden, und bisher hat er, wenn auch nur knapp, dank seiner Bekanntheit im Ausland und des Prestiges von Mao, der stille Bewunderer in Chinas Etablissement hat, überlebt. Die Erfahrung des Think Tanks zeigt jedoch, wie wenig Spielraum für unabhängige Untersuchungen bleibt, selbst bei wirtschaftlich äußerst wichtigen Fragen wie der Finanzpolitik und der Nachhaltigkeit des riesigen Archipels staatlicher Unternehmen. In Xis China, so stellt sich heraus, kann die falsche Art der Makroökonomie ein Gedankenverbrechen sein."