Magazinrundschau

Jagdgrund für Menschenhändler

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
06.02.2018. Der Guardian erzählt wie Flüchtlinge in Europa zu Sklaven werden. Dissent denkt über den Begriff des "Neoliberalismus" nach. In Slate.fr lernt die Soziologin Agnès de Féo den Niquab als Revanche erkennen. In epd-Film schreibt Georg Seeßlen über das Dilemma schwarze Superhelden. Die LRB staunt über den ersten britischen Wohlfahrtsstaat. Nicht jeder gute Programmierer ist ein unsozialer Nerd, meint Bloomberg. In der NYRB widmet sich Ian Bostridge der unlösbaren Dissonanz in Händels "Messias".

Guardian (UK), 05.02.2018

Barbie Latza Nadeau schildert die elenden Bedingungen, unter denen Flüchtlinge in Italien in Prostitution und Drogenhandel gezwungen werden. Vor allem Frauen und Männer aus Nigeria werden bereits in ihrer Heimat von ihren eigenen Familien an Menschenhändler-Ringe verkauft. So wie Joy, die unter Androhung übelster Vergeltung von einer Scharlatanin in die Sklaverei gegeben wurde und jetzt im Auffanglager Cara di Mineo auf Sizilien lebt: "Das Lager ist zu einem gesetzlosen Ort geworden, an dem die Menschen leichte Beute für kriminellen Banden werden. Der Staat finanziert diese Zentren, indem er ihnen für jeden Asylbewerber eine bestimmte Summe gibt, doch vielen von ihnen sparen an Essen und anderer Versorgung, und streichen den Profit ein. Die Laufburschen von Italiens verschiedenen Mafia-Organisationen und nigerianische Gangs rekrutieren Drogenkuriere und Kleinkriminelle unter den gelangweilten jungen Männern, die längst das Leben aufgegeben haben, von dem sie noch bei ihrer Überfahrt träumten. Cara die Mineo ist wie auch das Asylbewerberzentrum Sant Anna auf der Isola Capo Rizzuto in Kalabrien und andere auf dem italienischen Festland zu einem Jagdgrund für Menschenhändler geworden. Sie geben sich selbst als Asylbewerber aus, locken Frauen unter einem Vorwand aus der Unterkunft und liefern sie dann den nigerianischen Frauen aus, welche die Zwangsprostitution kontrollieren. Sie werden unter Androhung von Gewalt zu Sex-Arbeit gezwungen, die meisten von ihnen - wie Joy - in Schrecken versetzt durch einen Fluch, der sie an die Sklaverei kettet."

Weiteres: Der britische Historiker Anthony Beevor meldet das Verbot seines Buchs "Stalingrad" in der Ukraine, wo sich die Regierung an Berichten stört, das auch ukrainische SS-Männer in Massaker an der jüdischen Bevölkerung involviert waren. Emma Brockes porträtiert den schwulen, schwarzen Theaterkritiker Hilton Als.
Archiv: Guardian

Slate.fr (Frankreich), 31.01.2018

Die Soziologin und Dokumentarfilmerin Agnès de Féo stellt die Ergebnisse ihrer über mehrere Jahre andauernden Beobachtung und Begleitung von zwei französische Musliminnen vor, die den Niqab abgelegt haben, nachdem sie ihn fünf Jahre lang getragen hatten. Sie berichten über einen Prozess allmählicher Emanzipation, aber auch über soziale Ablehnung und Probleme. Über ihre Motive, ihn überhaupt anzulegen, schreibt Féo: "Keine der beiden Frauen sprechen von ihrem 'Ausstieg' aus dem Niqab als Befreiung. Die Erfahrung hinterlässt vielmehr einen bitteren Beigeschmack bei ihnen. Sie geben an, zu einem bestimmen Zeitpunkt ihres Lebens von der Wichtigkeit, sich komplett zu verhüllen, überzeugt gewesen zu sein, und dies durchaus seine Vorteile hatte. Alexia glaubte, auf dieses Weise, muslimische Vollkommenheit zu erreichen und ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie stellte sich vor, fromme und tugendhafte Männer kennenzulernen, die sie aus ihrer Lage als alleinerziehende Mutter befreiten. Für Hanane ging es um die Heilung von Wunden eines durch familiäre Neurose zerrissenen Aufwachsens und das zu Hause Eingesperrtsein. Beide haben den Niqab als Revanche eingesetzt."
Archiv: Slate.fr

New Statesman (UK), 02.02.2018

Der bulgarisch-britische Intellektuelle Ivan Krastev umreißt in großen Zügen die europäischen Krisen der vergangenen Jahre. Weder die Finanzkrise noch der Brexit, meint er, sind für die EU so einschneidend gewesen wie die Flüchtlingskrise: "Migration ist die neue revolutionäre Kraft geworden. Es ist keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine von Einzelnen und Familien auf der Flucht betriebene. Um erfolgreich zu sein, braucht diese neue Revolution keine kohärente Ideologie, keine politische Bewegung und keine Führung. Über die Grenzen in die EU zu gelangen, ist attraktiver als jedes Utopia. Wandel heißt für die Verdammten dieser Erde heute, in ein anderes Land zu gehen, nicht zu bleiben und die Regierung zu ändern. In den neunziger Jahren sah sich die EU gern als ein einzigartiges postmodernes Imperium, umgeben von Ländern, die ihm unbedingt beitreten wollten. Wie andere Imperien zuvor, machte sie sich für Recht, Frieden und Handel stark. Der Unwillen, endgültige Grenzen festzulegen, war ein entscheidendes Charakteristikum des europäischen Projekts. Die Flüchtlingskrise jedoch zwang die europäischen Eliten nicht nur, die Grenzen der Union festzulegen, sondern auch die Vision 'offener Grenzen' einer Realität anzupassen, in der Migration die neue Revolution ist. Eine Dekade zuvor kam es den Europäer darauf an, ihre Nachbarn zu verändern, ihre größte Sorge ist heute, nicht von Russland und der Türkei verändert zu werden."
Archiv: New Statesman

Dissent (USA), 22.01.2018

Der Begriff des "Neoliberalismus" gehört zu den Passepartouts linken Denkens und wird eingesetzt, wenn "Kapitalismus" oder "Globalisierung" gerade nicht passen. Der sozialdemokratische Intellektuelle Daniel Rodgers versucht eine Klärung des Begriffs, auf die auf dieser Seite dann einige Genossen und Genossinnen antworten: "Das Problem mit dem Neoliberalismus ist weder, dass der Begriff keine noch dass er unendlich viele Bedeutungen hat. Es liegt darin, dass er auf vier unterschiedliche Phänomene angewandt wird. 'Neoliberalismus' steht erstens für die spätkapitalistische Wirtschaft unserer Zeit, zweitens für eine ganze Reihe von Ideen, drittens für global zirkulierende politische Maßnahmen und viertens für die hegemoniale Kraft jener Kultur, die uns umgibt und gefangen hält. Diese vier Neoliberalismen sind natürlich engstens verwoben. Aber der bloße Akt der Bündelung, indem man all ihre Differenzen, losen Enden und ihre Verbindungen in einem einzigen Wort zusammentackert, könnte gerade verdunkeln, was wir klar sehen wollen. Wie würde jedes einzelne dieser Phänomene ohne jene Identität, die ihm das Wort 'Neoliberalismus' andichtet, aussehen?"
Archiv: Dissent

Merkur (Deutschland), 01.02.2018

Arbeiter wählen heute die AfD oder den Front National, und wer einmal Trump und working class in die Bildersuche eingegeben hat, verliert jeden Glauben an das einst revolutionäre Subjekt. Selbst wenn der Klassenbegriff trotzdem noch taugen sollte, die damit verbundenen Bilder tun es nicht mehr, meint Patrick Eiden-Offe und will ihn deshalb durch Proletarisierung ersetzen. Proletarisierung als Umwandlung von Lebensformen: "Das, was im Prozess der Proletarisierung zerstört wird, ist immer das jeweilig Bisherige. Es gibt nichts absolut 'Vorkapitalistisches', das irgendwann dann komplett zerstört und ins kapitalistische Regime integriert wäre. Und wenn alles 'Bisherige' immer neu zerstört werden kann, dann ist Proletarisierung selbst kein abgeschlossener, vielleicht sogar überhaupt kein abschließbarer Prozess. Solidarsysteme und erkämpfte Sozialstandards können ebenso (wieder) angegriffen werden wie 'bisher' noch marktferne Bereiche der kollektiven wie individuellen Existenz. Was in den letzten Jahren vielerorts als neoliberale 'Ökonomisierung des Sozialen' kritisiert wurde, ist ebenso unter Proletarisierung zu fassen wie die sozialen Verwüstungen in den Krisenverliererstaaten des europäischen Südens oder die Zerstörung kleinbäuerlicher Subsistenzformen im globalen Süden durch weltmarktorientierte Monokulturen und land grabbing."

Lukas Haffert überlegt, ob Berlin als Totem rechtspopulistischer Elitenkritik taugt, schließlich habe die Hauptstadt noch immer keine echte Ökonomie: "Wer 'Berlin' sagt, trifft deshalb, anders als wer 'Paris' oder 'London' sagt, nicht alle Eliten. Andererseits verengt das Fehlen einer starken Wirtschaftspräsenz den Berliner Diskursraum. Konzernzentralen oder ein starkes produzierendes Gewerbe würden ganz andere Mitarbeiter anziehen als Politik, Kulturbetrieb oder Kreativwirtschaft. Für solche Mitarbeiter dürften klassische verteilungspolitische Themen eine größere Rolle, identitätspolitische Themen hingegen eine geringere Rolle spielen als für die Gruppen, die heute in Berlin dominieren. Sie würden daher auch zu anderen Diskursen beitragen."
Archiv: Merkur

epd Film (Deutschland), 06.02.2018

Anlässlich des baldigen Kinostarts von "Black Panther" denkt Georg Seeßlen in einem Essay über die Figur des schwarzen Superhelden im Kontext afroamerikanischer und postkolonialer Erfahrungen  nach und wie sich in dieser besonderen Konstellation schwarzer Identität ein "afroamerikanischer Mythos" bestimmen lässt: Dieser ist von zwei Träumen bestimmt, "die sich gegenseitig ausschließen", doch stehen sie trotz ihres historisch eigenen Charakters "für das Empfinden aller Migranten, oder nahezu aller Menschen auf dieser Erde: Ist es möglich, in ein Reich, eine Sprache, eine Kultur des Ursprungs zurückzufinden, oder ein solches Reich, eine solche Heimat, eine Sprache, eine Kultur zu errichten, als utopischen Entwurf vielleicht? Oder ist es möglich, sich endgültig und richtig zu integrieren, vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu werden, in die man einst als Sklave verschlagen wurde? ... Die Zerrissenheit zwischen beiden 'Lösungen' von vertrauter Fremdheit spiegelt jeder afroamerikanische Held. Denn nur in der Rückschau, in der Rückkehr zu den ursprünglichen Gesten der Revolte wie in Tarantinos 'Django Unchained' ist 'Befreiung' bereits als Lösung zu sehen."
Archiv: epd Film

Magyar Narancs (Ungarn), 11.01.2018

Der Essayist und Chefredakteur der polnischen Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, vergleicht im Gespräch mit Márton Gergely Viktor Orbán mit Jaroslav Kaczyński. "Orbán ist ein charismatischer Anführer (...). Kaczyński dagegen ist eher ein Kabinettpolitiker, ein Meister von Taktik und innerparteilichen Intrigen. Doch so sehr sie sich auch unterscheiden, ihre Vorstellung über den Staat und über die EU ist ähnlich. Die Union brauchen sie, um das Geld von dort zu erhalten, doch sie brauchen die Union nicht als die Hüterin von demokratischen Werten, von Menschenrechten und von Andersdenkenden. Den Staat fassen sie als modernisierten Kommunismus auf: autoritäres Regime, de facto - ich betone de facto - Einparteienstaat, in dem der ganze Staatsapparat als Werkzeug der Regierungspartei dient. In Ungarn ist es der Fidesz, in Polen die PiS. (...) Straßburg, Brüssel, Den Haag sollen bitteschön nicht eingreifen, wenn sie demokratische Grundwerte oder Grundrechte der Bürger verletzen. So denken Orbán und Kaczyński, obwohl sie nur für die Ausübung von Macht legitimiert sind und nicht für die Vernichtung des demokratischen Systems. Es läuft ein schleichender Coup d'etat."
Archiv: Magyar Narancs

London Review of Books (UK), 08.02.2018

Unglaublich, was für Visionen Politiker einmal hatten, seufzt Susan Pedersen nach der Lektüre von Chris Renwicks Buch "Bread for All", das die Geschichte des britischen Wohlfahrtsstaats erzählt. Zumindest in Großbritannien ist er vor allem dank des Ministerialbeamten William Bevridge entstanden, der als eine Art "Ein-Mann-Ministerium" die Nachkriegsplanung übernahm, während Winston Churchill noch den Zweiten Weltkrieg ausfocht: "Eine umfassende Versicherung sollte seinen Plänen zufolge durch Beiträge von drei Seiten finanziert werden: den Arbeitergebern, den Arbeitnehmern und dem Staat, doch um genug Geld anzuhäufen und die Versicherungsfonds solvent zu halten, mussten Wirtschaft und Bevölkerung brummen. Das Versicherungssystem erforderte also mehr wirtschaftspolitisches Engagement und Familienplanung. Eigentlich beruhte es auf drei Voraussetzungen, wie Beveridge betonte: Dass die Regierung die Ökonomie so managte, dass sie Vollbeschäftigung garantieren konnte, dass sie ein Nationales Gesundheitssystem einführte, das alle Mitglieder der Gesellschaft gesund und produktiv halten würde, und dass sie Arbeiter, die mit Familien unterschiedlicher Größe lebten, für jedes Kind Unterstützung gewährten und nicht nur mit einem einmaligen Betrag. Beveridges Hybris ist wirklich wunderbar, und eigentlich auch sehr lustig. Er wurde beauftragt, Versicherungen und Pensionen in einem System unter einen Hut zu bringen. Das tat er, aber nur indem er noch viel größere Verpflichtungen - Vollbeschäftigung! Das Nationale Gesundheitssystem! - für selbstverständlich hielt. Das ist so, als würde man heute einem Beamten sagen, er soll sich Gedanken über die nationale Verkehrspolitik machen, und er erklärt zur Voraussetzung, dass wir erst einmal den Klimawandel aufhalten."

Bloomberg Businessweek (USA), 01.02.2018

Emily Chang, Autorin des Buches "Brotopia", wirft einen Blick auf die historischen Zusammenhänge, unter denen sich die männlich dominierte Industrie in und um das Silicon Valley selbst sabotiert hat, indem sie die weiblichen Talente verstieß. Technisch versierte Frauen trugen bis Mitte des letzten Jahrhunderts als gut bezahlte Programmiererinnen maßgeblich zum wachsenden Erfolg der Industrie bei, bis dann in den 60er Jahren eine von den Psychologen William Cannon und Dallis Parry geführte Studie veröffentlicht wurde. Unter anderem führte ihr Ergebnis, das auf der Persönlichkeitsanalyse von 1378 Programmierern beruhte - davon 186 Frauen - seither zu einer überwiegenden Anstellung von Männern: "Aus der Erhebung ging hervor, dass Menschen, die mathematische und mechanische Puzzle gleichermaßen gerne lösen, gute Programmierer darstellen. Das ergab Sinn. Die zweite Schlussfolgerung war dagegen weit spekulativer. Anhand der erhobenen Daten aus der selben Umfrage unter meist männlichen Programmierern, kamen Cannon und Perry zu dem Schluss, dass Software-Entwickler eine wesentliche Eigenschaft teilen: Sie 'mögen keine Menschen'. In ihrem abschließenden Bericht fassten sie zusammen, dass Programmierer 'Aktivitäten ablehnen, die persönliche Interaktion miteinbeziehen; im Allgemeinen sind sie mehr an Sachen als an Menschen interessiert'. Für die Annahme, dass unsoziale Menschen  bessere Mathe- und Computerkenntnisse besitzen, gibt es nur wenig Beweise. Leider aber zeigt eine Fülle an Belegen, dass wer unsoziale Nerds einstellen will, zwangsläufig mehr Männer als Frauen einstellen wird."

New York Review of Books (USA), 22.02.2018

In der aktuellen Ausgabe des Magazins lädt der Sänger Ian Bostridge zu einer Reise durch die Geschichte englischer Kirchenmusik. Der Autor gedenkt seiner Zeit als jugendlicher Psalmensänger und sinniert über die Bedeutung von Händels Oratorium "Der Messias": "Zu den ersten Solisten des Stücks gehörte die Schauspielerin Susanna Cibber … eine skandalöse Figur im London des frühen 18. Jahrhunderts. 'Frau, für diesen Gesang seien dir alle Sünden vergeben', soll der damalige Kanzler von St. Patrick in Dublin gesagt haben. Händel war zweifellos von tiefen religiösen Instinkten geleitet, als er das Oratorium schuf. Von der Komposition des Halleluja-Chors sprach er in visionären Worten: 'Als hätte ich den Himmel und den Wahrhaftigen selbst geschaut.' … Und doch zeichnet das Werk im Kern eine unlösbare Dissonanz aus, ein mysteriöser ideologischer Graben, den es auch in Chorstücken von William Byrd und Britten gibt. 'Der Messias' gilt als Oratorium, unterscheidet sich aber von Händels anderen Oratorien, indem es die Geschichte von Christus selbst erzählt, nicht die irgendeines Helden des Alten Testaments. Der Text stammt hauptsächlich aus den Prophetischen Schriften des Alten Testaments über das Erscheinen des Messias. Aber trotz aller Dramatik der Musik dient die Zusammenstellung der Texte einem sehr speziellen ideologischen Zweck, indem sie das 'Mysterium der Gottesfurcht' und die Realität der Fleischwerdung betont. Es handelt sich, zumindest teilweise, um ein anti-deistisches Traktat."

Hier eine Aufnahme des "Messias" mit Christopher Hogwood und der Academy of Ancient Music, 1982 in Westminster Abbey:



Weitere Artikel: Yasmine El Rashidi berichtet aus Ägypten, wo die Leute - selbst ehemalige Aktivisten - unter Sisi in eine Art Apathie gefallen sind: "Wir hätten auch wie die Syrer enden können", wird die allgemeine Enttäuschung über den gescheiterten arabischen Frühling ins Positive gewendet. Michael Tomasky liest zwei Bücher - von Michael Wolff und David Frum - über Donald Trump. Craig Brown vertieft sich in die "Vanity Fair Diaries 1983-1992" von Tina Brown.

Tablet (USA), 05.02.2018

Adam Kirsch bespricht den von Marie-Luise Knott herausgegebenen Briefwechsel zwischen Gerschom Scholem und Hannah Arendt, der nun auch auf Englisch vorliegt (auf Deutsch hatten wir den Band seinerzeit vorgeblättert). Besonders beeindruckt ihn der Streit der beiden über den Zionismus - gegen den Arendt ab 1948 eine prononciert kritische Position einnimmt: "Liest man ihr 'Zionism Reconsidered' heute noch einmal, ist es bemerkenswert, wie viele von Arendts Warnungen sich als prophetisch herausstellten. Nicht klar wird aus der Lektüre aber, ob die vergangenen siebzig Jahre ohne die Existenz Israels als jüdischem Staat besser gewesen wären. Arendts Art, die Politik am Ideal zu messen, statt sie als Kunst des Möglichen zu sehen, trägt zu ihrer Bedeutung als politische Philosophin bei, aber es führt auch dazu, dass sie bei der Analyse der aktuellen Tagespolitik versagt."
Archiv: Tablet

Gentlemen's Quarterly (USA), 28.01.2018

Sehr persönlich schreibt John Jeremiah Sullivan über den in Deutschland fast nicht registrierten Tod des begabten, aber noch nicht wirklich bekannten Popstars Lil Peep alias  Gustav Åhr im Alter von 21 Jahren - zeitgemäß an einer Fentanyl-Überdosis, wie man sagt. Der Autor kannte den Jungen persönlich so wie auch seinen Lehrer Woody Register, dessen Mails über Lil Peep er zitiert. Sullivan rechnet Lil Peep einem neuen, bei Soundcloud florierenden Underground-Pop zu, in dem sich die Genre-Grenzen zwischen Hip Hop und Pop längst aufgelöst haben, und spricht von "SoundCloud rap" oder "sad rap" , denn die Lieder sind in der Tat sehr traurig: Und dann schrieb Register "einen der treffendsten Sätze über die Ästhetik von Peeps Sound, obwohl er Hiphop oder irgendeine andere Form zeitgenössischer Musik, die Peep in sich aufgesogen hatte, kaum kaum kennt oder besonders schätzt: 'Es ist Teenie-Dunkelheit, eine Menge davon, aber es ist noch mehr darin wegen dieser bedrängend melodiösen Phrasen in der Kombination mit dem Beat.  Daraus ersteht Gus in einer Deutlichkeit vor mir, die mir den Schlaf raubt.' Dieses 'bedrängend Melodiöse', ja, dieser Singsang wie auf dem Schulhof, wie Gummitwist. Diese Kids hatten keine Angst vor Melodien. Sie mögen es hübsch. Einer von ihnen, der sich selbst Horse Head nennt, nennt seinen Sound 'melodischen Trap'."

"Beamerboy" ist Sullivans Lieblingslied (und er bittet, auf die Gitarre zu achten!) aber "The Brightside" ist besser. Lil Peep hat seltsamer Weise Millionen Fans in Russland, und Sullivan empfiehlt auch einige der von ihnen als Hommagen eingestellten Cover-Versionen."

New Yorker (USA), 19.02.2018

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker erklärt Joshua Rothman, wo Technik an ihre Grenzen stößt: bei Papierstaus in Druckern nämlich. "Techniker, die sich mit Papierstaus befassen, wissen um die Komplexität des Problems. Sie sind auf physikalisches und chemisches Wissen, auf mechanische Ingenieurskunst, Programmierer und Interface-Designer angewiesen - die ultimative Aufgabe … Die Hight-Tech-Welt ist voll loser Enden. Wie Blister-Verpackungen, die nicht aufgehen und an den falschen Stellen haftendes Klebeband suggerieren Papierstaus, dass es ohne Mangel nicht geht, wie sehr wir uns auch bemühen. Es handelt sich um sehr postmoderne Probleme, triviale Konsequenzen einer ansonsten perfekten Technologie, die umso größer werden, je wichtiger die Technologie in unserem Leben wird. Drucker werden immer schneller, klüger, billiger, die Papierstaus bleiben"

Außerdem: Peter Schjeldahl besucht in der Frick Collection die dreizehn lebensgroßen Porträts, in denen Francisco de Zurbarán seine Vision von Jakob und seinen zwölf Söhnen verewigt hat. Jill Lepore unterzieht Mary Shelleys "Frankenstein" einer Relektüre. Hilton Als porträtiert die afroamerikanische Dramatikerin Adrienne Kennedy. Anthony Lane sah im Kino Andrej Swjaginzews "Loveless" und Brian Cranos "Permission". Jia Tolentino verrät, wie die Columbia Universität das Problem sexueller Gewalt auf dem Campus loswerden will. David Grann berichtet von einer Antarktis-Tour auf den Spuren der Shackleton-Expedition von 1909. Adam Gopnik zieht Schlüsse aus dem wundersamen Rückgang der Gewalt in amerikanischen Städten. Und Rachel Kushner liefert eine Kurzgeschichte.
Archiv: New Yorker

Collectors Weekly (USA), 31.01.2018

Mode ist eine Gefahr für Leib und Leben! Das könnte man jedenfalls als Fazit aus Lisa Hix' anekdotensattem Überblick über die Geschichte riskanter bis mörderischer Mode gewinnen. Ihre Einblicke verdankt sie dabei vor allem einem Buch von Jennifer Wright zum Thema. Wir erfahren unter anderem, dass Lewis Carrolls "Mad Hatter" insofern realistisch ist, als Hütemacher wegen des Bleis in ihren Werkstätten tatsächlich oft verrückt wurden und dass Winston Churchills Mutter wegen ihrer Stöckelschuhe ihr Leben ließ. Auch der Trend zur Hochhaus-Perücke konnte zum Problem werden: "Zumindest eine französische Hofdame stieß 1711 mit ihrer Fontange an den Kronleuchter und fing dabei Feuer, was ihren frühzeitigen Tod besiegelte. ... In England lancierte Georgiana Cavendish, Herzogin von Devonshire, um 1760 eine weitere hochriskante Perückenmode, als sie Frauen dazu ermunterte drei Fuß hohe, mit entzündlichem Tierfett behandelte Perücken zu tragen. Die Herzogin überlebte ihrerseits eine Kollision mit einem Kronleuchter nur knapp. Die Perücken waren auch schlicht eklig: 'Es dauerte sehr lange, diese Perücken zu konstruieren, die dann wochenlang getragen wurden', sagt Wright. 'Sie strotzten nur so vor Läusen. Die Aristokraten hatten kleine Stäbe, mit denen sie durch die Perücke hindurch ihre Köpfe kratzen konnten. Es gibt einen schauderhaften Vorfall, bei dem eine Frau herausbekam, dass sich eine Maus in ihrer Pracht häuslich eingerichtet hatte, die schließlich damit anfing, ihren Kopf anzunagen." Einen Eindruck davon bietet die satirische Gravur aus dem Jahr 1771 (Bild oben), die sich in den Beständen des British Museums findet.

Tapolitika (Tschechien), 23.01.2018

Tapolitika bringt in tschechischer Übersetzung einen Facebook-Post des russischen Journalisten und Schriftstellers Arkadi Babtschenko, der beklagt, dass der Westen viel zu wenig die Gefahr begreife, die von Russland ausgehe, das längst begonnen habe, einen Hybridkrieg zu führen, indem es in Staat und Gesellschaft seiner Gegner durch Cyberangriffe, Fake-News und Desinformationen bewusst Chaos produziere. "Die Freiheit des Wortes ist dort gut, wo sie nach Regeln spielt. Die Freiheit des Worts ist das Instrument einer demokratisch gebildeten Gesellschaft. Sie funktioniert nur in demokratischen Gesellschaften. Als wichtiges Instrument, mit dem die Gesellschaft Einfluss auf die Macht des Staats nimmt. Doch in autoritären Gesellschaften verwandelt sie sich in ein Propagandainstrument. Mit diesem Instrument beeinflusst nicht die Gesellschaft die Macht, sondern die staatliche Macht beeinflusst die Gesellschaft. Versklavt sie. Und, was noch schlimmer ist, zerrüttet sie."
Archiv: Tapolitika

New York Times (USA), 02.02.2018

Nellie Bowles berichtet von einem Modellprojekt in Puerto Rico: Puertopia oder Sol, ein Krypto-Utopia mit virtuellem Geld und Verträgen, die für jedermann einsehbar sind, initiiert von einem Dutzend Unternehmern aus der Bitcoin-Branche in den USA. Was wie ein neokolonialistischer Ansatz wirken könnte, hat handfeste Hintergründe: "Puerto Rico bietet unschlagbare Steuervorteile: Keine Einkommenssteuer, keine Kapital- oder Unternehmenssteuer, und alles, ohne die amerikanische Staatsbürgerschaft aufgeben zu müssen. Bis jetzt scheint die  Regierung die Krypto-Utopier willkommen zu heißen. Der Gouverneur wird auf der Gipfelkonferenz 'Puerto Crypto' der Unternehmer im März sprechen … Die Bewegung macht die frühere Generation von Steuerflüchtlingen nervös. Hedgefonds-Manager Robb Rill, der eine 'Selbsthilfegruppe' für Steuerflüchtige in Puerto Rico leitet, erklärt: 'Der Idee, 250.000 Morgen Land zu kaufen, um eine Krypto-Stadt in der Stadt zu errichten, kann ich nicht zustimmen.'"
Archiv: New York Times