Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.09.2003. Atlantic Monthly stellt den Traumkandidaten der Demokraten für das Präsidentenamt vor: General Wesley Clark. Outlook India porträtiert die Stimme Indiens: Lata Mangeshkar. Reportajes bringt eine posthume Abrechnung Roberto Bolanos mit der lateinamerikanischen Literatur. Die NY Times ist entzückt von den "Grandes Horizontales". Das Times Literary Supplement stellt die meisterhaften Reportagen von Jan Morris vor. Die Literaturnaja Gazeta interviewt den Autor Pawel Krussanow, Mitglied der Petersburger Fundamentalisten.

Reportajes (Chile), 23.09.2003

Reportajes, die Wochenendbeilage der chilenischen Tageszeitung La Tercera (Zugang nach kostenloser Registrierung), hat James Whelan, den offiziellen Biografen des Exdiktators Augusto Pinochet, interviewt. Whelan, ein ehemaliger General, ist Gründer und ehemaliger Chefredakteur der konservativen Washington Times. Insgesamt 35 Mal hat Pinochet mit ihm gesprochen und dabei auch freimütig über seine demokratischen Nachfolger Eduardo Frei und Patricio Aylwin hergezogen, wie ein bereits vergangene Woche aus Anlass des dreißigsten Jahrestags des Putsches veröffentlichtes Gespräch zeigt. Whelan hat sein Buch noch nicht veröffentlicht, aber das Interview mit Reportajes verheißt nichts Gutes. "Ich bin der Auffassung, dass Pinochet möglicherweise Fehler begangen hat und mit dem Thema falsch umgegangen ist, aber kein Komplize der Menschenrechtsverletzungen war", behauptet Whelan.

Allemal vergnüglicher ist eine posthum veröffentlichte Abrechnung des kürzlich verstorbenen chilenischen Autors Roberto Bolano mit seiner Zunft: "Schriftsteller-Funktionäre" und "Schriftsteller, die in Fitnessstudios gehen", ruinieren die lateinamerikanische Literatur, schimpft Bolano. Selbst Altmeister Gabriel Garcia Marquez und Mario Vargas Llosa seien nur ein "Duo seniler Machos". Und sonst: "Die Literatur, vor allem in Lateinamerika, aber wohl auch in Spanien, ist Erfolg, soziales Ansehen (...) Die derzeitigen Schriftsteller sind Leute aus der unteren Mittelschicht die ihren Lebensabend gerne in der oberen Mittelschicht verbringen würden. Sie haben nichts gegen Respektabilität. Sie lechzen nach ihr. Und müssen ganz schön dafür schwitzen."

Ebenso in Reportajes: ein Interview mit dem sehr talentierten chilenischen Popautor Alberto Fuguet, der es schon einmal - als Vatermörder des magischen Realismus - auf das Titelblatt von Newsweek schaffte (Newsweek-Artikel) und nun einen neuen Roman veröffentlicht: "Las peliculas de mi vida".
Archiv: Reportajes

The Atlantic (USA), 01.10.2003

Zumindest so lange er noch zögerte, galt Wesley Clark als Traumkandidat der Demokraten für das Präsidentenamt und auch für Joshua Green, der doch recht beeindruckt ist vom ehemaligen Vier-Sterne-General, Nato-Oberbefehlshaber, Kriegsheld und Rhodes-Stipendiat. "Drahtig und selbstsicher, mit gepflegtem grauen Haar, tritt er wie jemand auf, der es gewohnt ist, Verantwortung zu tragen. Hinter einem Pult oder im Fernsehen wird dies nicht so deutlich, doch persönlich ist er von solcher Spannung, dass man fürchten muss, bei Berührung einen elektrischen Schlag zu bekommen." (Übrigens hatte der Filmemacher Michael Moore - wahrlich kein Konservativer - kürzlich in einem offenen Brief Clark aufgefordert, bei den Präsidentschaftswahlen gegen George W. Bush zu kandidieren. Die FAZ am Sonntag hatte den Brief abgedruckt. Hier das Original. Und hier ein Link zur Seite der Clark-Anhänger.)

Warum es tatsächlich eine gute Idee ist, als politischer Außenseiter ins Rennen um die Präsidentschaft zu gehen, erklärt David Brooks: "In den vergangenen vier Jahrzehnten haben 49 Kongress-Mitglieder für das Präsidentenamt kandidiert. Alle haben verloren."

Wenn die Umweltschützer es nur zuließen, könnte Gentechnik in den nächsten fünfzig die meisten Probleme der Erde lösen, ist Jonathan Rauch überzeugt, der im folgenden auf zehn Seiten die Segnungen der Gentechnik besingt (ganze drei Zeilen sind den Risiken und Einwänden vorbehalten): "Die Produktion von Nahrung wird sich in den nächsten Dekaden verdoppeln, möglicherweise verdreifachen müssen. Selbst wenn die Produktion mit konventioneller Technologie derart gesteigert werden könnte, was zweifelhaft ist, wäre die nötige Menge an Pestiziden, Düngemittel und anderen schädlichen Chemikalien immens." Gentechnik dagegen könnte den Anbau ergiebiger machen, die Abholzung der Regenwälder und Savannen aufhalten, die Wasserverschmutzung beenden, den Boden fruchtbar halten, und und und, weswegen Rauch sogar einen Ausblick wagt: "In spätestens zehn Jahren werden amerikanische Unweltschützer (die europäischen sind dogmatischer) Gentechnik als ihr wirksamstes Mittel ansehen."

Angeregt von Peter Ackroyds "Albion" versucht Christopher Hitchens, das Bild des rätselhaften Engländers zu erklären: "Die Engländer haben nicht ganz zu unrecht den Ruf, robust und nüchtern zu sein, auch wenn sie sich vor allem in der Poesie ausgezeichnet haben. Sie werden für schüchtern, zurückgezogen und - besonders von Hollywood - für geziert bis verweichlicht gehalten, auch wenn bisher wenige Menschen eine erschreckendere und mitleidlosere Begabung zur Gewalt gezeigt haben. Ihre Vorliebe für Blumen und Tiere ist ein national wie international gern gemachter Witz, auch wenn es keinerlei Beweis für eine ähnliche Zärtlichkeit gegenüber, sagen wir, der nationalen Küche gibt. Von ihrem Naturell her sind sie egalitär und demokratisch, sogar populistisch, auch wenn sich der Kult um Aristokratie und Hierarchie erschreckend hartnäckig hält."

Harte Worte findet Benjamin Schwarz für Joan Didions neues Kalifornien-Buch "Where I was from", er findet es selbstgefällig und langweilig und Didion klar auf dem absteigenden Ast.

Nur im Print: Mark Bowden großer Report "The Dark Art of Interrogation"über die, nun ja, verschärften Verhörtechniken, die im Kampf um Informationen und gegen den Terror neuerdings in den USA angewendet werden; Mary Anne Weaver Suche nach einem Nachfolger für Ägyptens Präsident Mubarak und James Shreeves Porträt des TV-Schimpansen Oliver.
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 29.09.2003

Es ist das alte Lied: Die Großen lässt man laufen. Elf Jahre nach den hindu-nationalistischen Ausschreitungen, die in der Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodha gipfelten, wurde zwar gegen eine Reihe von Funktionären der Regierungspartei BJP Anklage erhoben - Lal Krishna Advani (hier ein BBC-Porträt), der damals die Tempelbewegung anführte und heute stellvertretender Premierminister ist, wurde jedoch vom Vorwurf der Hetze freigesprochen. Ob er wirklich ungeschoren davonkommen wird, erörtert Saba Naqvi Bhaumik.

Vinod Bhardwaj lässt anlässlich des 75. Geburtstages von Lata Mangeshkar (mehr hier und hier, was zum Hören hier) die Karriere der "Stimme Indiens" Revue passieren: "Es war ein außergewöhnlicher Weg vom dreizehnjährigen Mädchen, das zu einer Gesangskarriere gezwungen wurde, um die verarmte Familie zu unterstützen, zur seit fünf Jahrzehnten unbestrittenen Herrscherin der Hindi-Filmmusik. Er begann beim großen alten Mann des Genres, Anil Biswas, und führte sie bis zum jungen Avantgardisten A. R. Rahman."

Außerdem: Prem Shankar Jha beklagt das amerikanische Veto gegen die von Syrien und dem Sudan angeregte UN-Resolution zum Schutz von Jassir Arafat als antizivilisatorisch und als Freibrief zur Tötung des palästinensischen Präsidenten. Murali Krishnan berichtet von der neuerlichen Terrorwelle in Jammu und Kaschmir: Seit Ende August kamen bei 181 Anschlägen und 15 Landminendetonationen mehr als 150 Menschen ums Leben. Und Namrati Joshi war in Hathras, einem vergessenen, rückständigen Ort so weit jenseits von Bollywood, wie es die Vorstellung erlaubt, um einen Blick in das Kino von Morgen zu werfen. Denn die Bilder auf der schmutzigen Leinwand des örtlichen Vorführsaals kamen aus dem Laptop ...
Archiv: Outlook India

Espresso (Italien), 25.09.2003

Ungewohnte Töne vom marokkanischen Schriftsteller Tahar Ben Jelloun (mehr): Er lobt König und Vaterland. Unerwartet schnell und effizient habe der Staat auf das traumatische Selbstmordattentat im Mai in Casablanca reagiert, bei dem dreißig Menschen starben. Der Kampf gegen den Terorrismus scheint eine nationale Aufgabe zu werden, die aber mit den Mitteln eines Rechtsstaats angegangen wird, freut sich Jelloun: "Dieses Land will nicht wie Algerien im Blut eines Bürgerkriegs ertrinken, wo sich Islamisten und Militärs gegenseitig die Schuld an den beinahe täglichen Massakern geben. Genauso wenig will es Ägypten nacheifern, wo die erste islamistische Vereinigung, die muselmanische Brüderschaft, gegründet 1928, mit der integralistischen Bewegung auseinandersetzen müssen."

Weitere Artikel online: Unter der Rubrik "Sex und Politik" firmiert Mauro Martinis Bericht über einen russischen Pornoproduzenten, der gerne Bürgermeister von St. Petersburg werden würde. Warum? Natürlich, um aus dem Venedig des Nordens das Amsterdam des Ostens zu machen. Roberto Gatti fragt Randy Newman (hier ein nettes Porträt auf Salon.com) im Interview, ob er Paolo Conte (mehr hier) kennt. Zum Glück antwortet Newman: "Conte ist der Künstler, dem ich mich am nächsten überhaupt fühle. Sein neues Album ist fantastisch."

Ansonsten empfiehlt Emanuela Mastropieto Websites, wo Frisch-Geschiedene Überlebenstipps bekommen, Lorenzo Soria jubelt über die Renaissance von Las Vegas als verruchte Stadt "nur für Erwachsene", und all'ultimo erinnert uns Monica Maggi daran, dass es langsam Zeit wird sich zu entscheiden, welche nackten Frauen man 2004 an der Wand hängen haben will.
Archiv: Espresso

New York Times (USA), 21.09.2003

Ladies der Nacht! Daphne Merkin feiert ein Buch, dass ihr nach langer Zeit wieder einmal zu denken gegeben hat über die Beziehung von Mann und Frau: Virginia Roundings "Grandes Horizontales", ein Porträt vier legendärer Kurtisanen, die in der schillernd dekadenten Zeit der Zweiten Republik Dichter, Denker und Lenker mühelos um den Finger wickelten. "Die faszinierendeste war Apollonie Sabatier alias 'La Presidente', die ihr Leben als Aglae-Joesphine Savatier begann. (Rounding betont, dass ihr Nachname mit seiner Nähe zu 'savate', also 'alter Schlappen', 'für eine schöne junge Frau wohl kaum angebracht war')." Madame Sabatier bekam Liebesbriefe von Baudelaire, ihr skandalöses Marmorabbild kann im Musee d'Orsay bewundert werden (oder hier). Dass die Autorin die Fakten manchmal dem "impressionistischen Flair" opfert, stört Merkin nicht. Roundings Bericht bleibe "faszinierend".

"Who killed Daniel Pearl?", fragt Bernard-Henri Levy in seinem neuen Buch, das Robert D. Kaplan als "fesselnde Synthese aus Philosophie und Reportage" würdigt. Und auch Mariane Pearls Erinnerungen "A Mighty Heart" seien bemerkenswert wegen der "unheimlichen Tiefe", mit der sie die letzten Wochen ihres Mannes schildere.

Aus den weiteren Besprechungen: Jonathan Lethems (eine Lesung zum Nachhören) "melancholisch-wundervoller" Roman "The Fortress of Solitude" (erstes Kapitel) entringt A.O. Scott genussvolle Seufzer. Man glaubt fast, er wäre selbst gerne als weißer Junge in Brooklyn aufgewachsen. Robert Sullivan tituliert Gail Sheehy als "Therapeutin der Nation", was sein ohnehin verhaltenes Lob über ihren 9/11-Witwen-erinnern-sich-an-ihre-gestorbenen-Männer-Report (erstes Kapitel) noch ein wenig gezwungener klingen lässt. Und zum Schluss ein wenig Poesie: Louis Simpson ist auf dem Höhepunkt seines Schaffens, jubelt David Orr nach der Lektüre von Simpsons neuem Gedichtband "The Owner of The House". Wie sich das liest? "Reumütig, einfach, lustig und ernst".

Das New York Times Magazine widmet sich mit einem Special hingebungsvoll der Männermode.
Archiv: New York Times

Economist (UK), 19.09.2003

Das Schönste an dieser Ausgabe des Economist ist zweifellos das Cover: Vor einem malerischem Wüstensonnenuntergang steht einsam ein großer Kaktus, dessen eloquente Form den "charmanten Ausgang" des Wirtschaftsgipfels in Cancun versinnbildlicht.

"Wähler können ja so lästig sein." Mit diesen Worten kommentiert der Economist den Ausgang des Euro-Referendums in Schweden. Und wieviele Schwedens (sprich EU-torpedierende Mitgliedsstaaten) gibt es in der EU? fragt der Economist daraufhin nur scheinbar genervt. "Nicht genug", lautet seine Antwort sinngemäß: " 'Jedesmal wenn wir den Wählern eine europäische Frage stellen, lautet die Antwort entweder Nein, oder es kommt zu einem hauchdünnen Ja', zitierte die Financial Times letzte Woche einen EU-Funktionär. 'Das sollte uns etwas sagen', fügte er hinzu. Diese durchdringende Einsicht verdient Applaus. Es sollte ihnen etwas sagen. Vor allem sollte es ihnen sagen, dass die 'immer enger werdende Union', die der derzeitige Verfassungsentwurf voraussieht, nicht das zu sein scheint, was die meisten Europäer wollen."

Weitere Artikel: wie die von Lord Hutton geleitete Untersuchungskommission zur Kelly-Affäre zunehmend zu einer Kritik am journalistischen Selbstverständnis der BBC gerät. Was George Bush in der Klemme bringt (ein kolossales Irak-Budget nämlich). Warum Berlusconi glatt zum Reformpolitiker werden könnte, wenn er nicht schon Medien-Tycoon wäre. Was aus der Welthandelsorganisation nach Cancun wird. Welche Branche die beste Ausländerintegration vorweisen kann (das organisierte Verbrechen). Hochgelobt wird Mark Essigs furchtbare Geschichte des elektrischen Stuhls ("Edison & the Electric Chair: A Story of Light and Death"). Schließlich sind zwei Nachrufe zu lesen: zum Tod des Bombenmeisters Edward Teller und zum - bevorstehenden - Tod der Weltraum-Sonde Galileo.
Archiv: Economist

Times Literary Supplement (UK), 19.09.2003

Als journalistische Meisterwerke, "gemalte Prosa" oder auch "komponierte Essays Con Brio" feiert Paul Clements Jan Morris' gesammelte Reportagen "A Writer's World". Alles ist drin, versichert Clements, was Jan Morris (vor ihrer Geschlechtsumwandlung James) in ihrem jahrzehntelangen Reporterleben erfahren hat: Vom Scoop über die Erstbesteigung des Mount Everest 1953, über die Suez-Krise, den Algerien-Krieg, den Eichmann-Prozess, bis zum Fall der Berliner Mauer und die Übergabe von Hongkong. Clements Dank geht aber auch an den sudanesischen Minister für Nationale Orientierung, der Morris gesagt hat, ihre Berichte sollten "aufregend zu lesen sein, gute Nachrichten enthalten und wenn möglich mit der Wahrheit übereinstimmen".

Auch in der Philologie kann Europa noch zusammenwachsen. George Steiner freut sich deshalb über die Übersetzung von Erich Auerbachs monumentalem Werk "Mimesis" (mehr hier) ins Englische und damit über den Einzug der vergleichenden Philologie in die angelsächsische Welt, laut Steiner bisher eine Sache des Kontinents. "Der britische Beitrag war eher sporadisch, um nicht zu sagen dünn. Umgekehrt wurde die Literatur der englischsprachigen Welt auf Distanz gehalten. Nach den drei größten europäischen Dichtern gefragt, erklärte de Gaulle: 'Dante, Goethe, Chateaubriand.' 'Was ist mit Shakespeare?', warf der erstaunte Fragesteller ein. De Gaulles lapidare Erwiderung: 'Sie sagten doch 'europäisch'."

Elizabeth Winter verkündet die Gewinner der TLS-Übersetzungspreise: Der Schlegel-Tieck Prize etwa für Übersetzungen aus dem Deutschen ging an Anthea Bell für ihre Übertragung von Karen Duves "Regenroman". Gar nicht schlecht findet Terry Eagleton, was Michael Blakemore mit Michael Frayns Willy-Brandt-Stück "Democracy" im Cottesloe Theatre gemacht hat: "Als wäre Oscar Wilde auf die Wunderkinder losgelassen." Und Michael Caines empfiehlt zwei Bücher, die uns den genuinen Zusammenhang von Enzyklopädie und Theater näherbringen wollen: William N. Wests "Theatres and Encyclopedias in Early Modern Europe" und Dennis Kennedys "The Oxford Encyclopedia of Theatre and Performance".

Literaturnaja Gazeta (Russland), 17.09.2003

Alexander Jakowlew hat am Rande der internationalen Moskauer Buchmesse den russischen Schriftsteller Pawel Krussanow (mehr hier) aus Sankt-Petersburg interviewt. Krussanow, Jahrgang 1961, gehört zu einer neuen Generation von Schriftstellern, die sich "Petersburger Fundamentalisten" nennt, keiner konkreten literarischen Gattung zuzuordnen ist und sich außerdem "nichtliterarischen, humanistischen Anliegen der posthumanistischen russischen Gesellschaft" widmet. Hin und wieder fungieren die Mitglieder der "Literatenvereinigung", neben Krussanow unter anderem Sergej Nossow und Ilja Stogoff, auch als Präsidentenberater. Dem deutschen Leser bringt Galina Dursthoff mit ihrer Ende September bei dtv erscheinenden, kenntnisreich kommentierten Anthologie "Rußland - 21 neue Erzähler" diese und andere russische Schriftsteller näher, die mit der laut Krussanow "jeder Illusion beraubten, aggressiven und zumeist zynischen Prosa jüngerer Autoren der neunziger Jahre" nichts mehr gemein haben. Die preisgekrönten Krimiautorinnen Anna Malyschewa und Darja Donzowa hält Krussanow für "verlegerische Kunstprodukte". Man darf auf die Frankfurter Buchmesse und die vielfältigen Neuerscheinungen aus dem Gastland mit der einstmals größten Buchproduktion der Welt gespannt sein.

Nadeschda Gorlowa entführt uns in die Weiten des russischen Internet. Nach inoffiziellen Angaben "wetteifern mehr als 50.000 zeitgenössische Autoren" auf unzähligen russischen Homepages um die Gunst der Leser und Verleger. Dies ist nicht verwunderlich, bedeutet "der Gewinn des ersten Preises bei einem der zahlreichen Literaturwettbewerbe im Netz doch meist, dass das jeweilige Werk einen Verleger findet."

Und noch mehr Literatur: Soeben sind die Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungen und Briefe des berühmten Schriftstellers, Germanisten und Menschenrechtlers Lew Kopelew aus seiner Zeit im deutschen Exil (1980 bis 1989) erstmals auf Russisch erschienen. Das Buch "Unser Leben in Köln" sei ein "einzigartiges Zeugnis für das nimmermüde Geistesleben Russlands in den so genannten Jahren der Stagnation", findet die Literaturnaja Gazeta.

Nouvel Observateur (Frankreich), 18.09.2003

Anlässlich des 40. Todestags von Jean Cocteau erscheint eine ganze Reihe von Publikationen über den Dichter und Regisseur, darunter auch eine neue Biografie über den "Ungeliebten" die ausführlich vorgestellt wird. Sein "Übermaß an Talenten" sei ein "Fluch" gewesen: "Flüchtig betrachtet ist er ein Autor ohne Werk, der nur Bonmots produziert hat. Verfolgt vom alten Traum vom Gesamtkunstwerk, war er der Reihe nach oder gleichzeitig Zeichner, Stilist, Choreograf, Poet, Regisseur, Texter und Schriftstelle, um ihn zu verwirklichen. Ein vielseitiger Dilettant, dem ein bedeutender Roman oder eine unanfechtbares Werk fehlt, die ihn in einer literarischen Tradition verankert hätten." Claude Arnauds Biografie räume nun mit dieser "Ungerechtigkeit" auf. Ab 25. September würdigt ihn überdies eine Ausstellung im Centre Pompidou, die unter anderem in einer 300 Meter langen Vitrine, die sich durch die sieben Ausstellungsräume schlängelt, fast 900 Stücke aus seinem privaten Nachlass zeigt.

Erinnert wird auch an Edith Piaf, die am gleichen Tag wie Cocteau starb, außerdem wird über die Entdeckung von sechs unbekannten Chansons in der Bibliotheque nationale berichtet.

Im Debattenteil sind Auszüge aus der Biografie von Saïd K. Aburish über Yassir Arafat, dem "Schöpfer und Botschafter der palästinensischen Identität" zu lesen. Außerdem bringt der Nouvel Obs Auszüge aus dem neuen Buch von Susan Sontag, "Devant la douleur des autres", in dem sie sich mit den Bildern von Krieg, Entsetzen und Tod auseinandersetzt.

Zu lesen sind schließlich die Rezension der Erinnerungen des französischen Historikers Michel Winock sowie zwei Kritiken des neuen Films des kanadischen Regisseurs Dennys Arcand, der in Cannes zwei Auszeichnungen gewann; die erste hält "Les Invasions barbares" für eine "Tränendrückermaschine", die zweite dagegen für Kunst.

Express (Frankreich), 18.09.2003

Die Franzosen sorgen sich um eins ihrer nationalen Aushängeschilder: die Laizität in der Schule. Diese wurde 1905 verabschiedet und weist die Schule als religionsfreien Ort aus, an dem jedes sichtbare Zeichen religiöser Zugehörigkeit verboten ist. Doch nun, berichten Besma Lahouri und Eric Conan, stellt die muslimische Gemeinschaft und ihr Festhalten am Schleier diese Laizität auf eine harte Probe. So sehr, dass man sich in Frankreich wieder fragt, was es überhaupt mir der Laizität auf sich hat.

Jeanne Balibar macht, was sie sich schon lange in den Kopf gesetzt hat: Die französische Theater- und Filmschauspielerin bringt im Oktober ihr erstes Album mit dem Titel "Paramour" heraus. Mit Dominique Simonnet plaudert sie lange über Schauspieltechnik, doch auch über Melancholie und Nostalgie und über das, was für sie eine wahre "Femme fatale" ausmacht. "Wissen Sie, wenn sie mich auf den ersten Blick gleich als Femme fatale abstempeln, dann stört mich das", sagt sie lachend, "aber wenn Sie das nach dem zweiten Hinsehen sagen, dann schmeichelt mir das." Na, so viel Inkonsequenz sei verziehen. In den französischen Kinos ist sie derzeit in "Saltimbank" von Jean-Claude Biette zu sehen (mehr dazu hier).

Wenn ein Franzose ein Chanson hört, hebt er meist sofort zu singen an, denn Melodie und Text kennt er längst. Bei Jacques Brel dürfte das jetzt nicht mehr so einfach sein, denn fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod erscheinen nun fünf bisher unveröffentlichte Chansons - gegen seinen letzten Willen. Anlass ist das "Annee Jacques Brel", das in seiner Geburtsstadt Brüssel ausgiebig gefeiert wird (mehr Informationen finden Sie hier). Zu verantworten hat die Veröffentlichung seine Ehefrau Miche Brel, die es gewagt hat, dem Willen ihres Ehemanns posthum zu widersprechen.

Neues auch von der Rap-Band IAM aus Marseille: Nach sechs Jahren Pause erscheint ihr Album "Revoir un printemps". Gilles Medioni hat zwei Bandmitglieder getroffen. Der Express bringt außerdem ein Interview mit dem Filmemacher Denys Arcand anlässlich seines neuen Films "Les invasions barbares", der im Wettbewerb in Cannes zu sehen war.

Weitere Artikel in der Bücherschau: Thierry Gandillot berichtet, dass Richard Millets Roman "Ma vie parmi les ombres" durchaus das Zeug hätte, in die engere Auswahl beim diesjährigen Prix du Goncourt zu kommen. Besprochen werden der historische Roman "Les Diamants de la guillotine" - über den Diebstahl eines königlichen Colliers, von Dumas längst behandelt, aber trotzdem (hier) - und "Une Ville" von Denis Robert, der lange Journalist bei Liberation war (hier).

Und: Ein klein wenig Sozialromantik aus dem schönen Elsass: Daniel Rondeau erzählt die Geschichte des Autors Pierre Pelot, der seinen Blaumann als Elektriker abgelegt hat und sich der Schriftstellerei widmet. "C?est ainsi que les hommes vivent" heißt sein neuer Roman.

Archiv: Express

New Yorker (USA), 29.09.2003

In einem umfangreichen Artikel analysiert Hendrik Hertzberg die Hintergründe und politischen Konsequenzen der Verschiebung der kalifornischen Gouverneurswahlen, bei denen bekanntlich auch Arnold Schwarzenegger antritt. "Eine politische Kampagne hat - wie der Liebesakt, ein Basketballspiel oder ein Opernabend - einen Spannungsbogen, der auf der Kenntnis der Beteiligten beruht, wie lange es dauert." Diese Kenntnis habe das Gericht, das vergangenen Montag die Verschiebung der Wahl vom 7. Oktober auf "Gott weiß wann" angeordnet hatte, einfach "zum Teufel gejagt. Die Kandidaten wurden auf der Zielgeraden kalt ausgebremst."

Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Androgynous" von Isaac Bashevis Singer, und Elizabeth Kolbert kommentiert den "Krieg der Bush-Regierung" gegen die Umwelt. So wurden gerade neue Gesetze verabschiedet, die als "Geschenk an Mr. Bushs Verbündete" gewertet werden.

Stephen Kotkin bespricht die "entwaffnende" Autobiografie des englischen Historikers Eric Hobsbawm, "Interesting Times?. Als "musikalischen Vergnügungspalast" und sein "wichtigstes Gebäude" beurteilt Paul Goldberger die Walt Disney Concert Hall, die Frank Gehry (mehr hier) in seiner Heimatstadt Los Angeles gebaut hat. "Und deshalb beschweren sich die Leute natürlich darüber. Es ist zu protzig. Es trägt nicht genügend zur städtischen Umgebung der Downtown von L.A. bei und rechtfertigt nicht die 274 Millionen Dollar (zum größten Teil aus privaten Fonds), die es gekostet hat."

John Lahr stellt Michael Frayns Theaterstück "Democracy" über Willy Brand vor, das im London?s Royal National Theatre gespielt wird. Alex Ross erkundet den Untergrund der Carnegie Hall, wo mit der Zankel Hall eine Art unterirdischer Erweiterungsbau entstanden ist. Nancy Franklyn stellt die TV-Serie "The Blues" vor, und David Denby sah im Kino "Under the Tuscan Sun? von Audrey Wells, den französischen Dokumentarfilm "To Be and to Have? (Etre et Avoir) von Nicolas Philibert und "Anything Else? von Woody Allen mit Danny DeVito und Christina Ricci.

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über ein elektronisches Gerät, das Blinden sehen helfen soll, ein Bericht, der der Frage nachgeht, warum eine Mordserie unaufgeklärt blieb, und Lyrik von Jane Mayhall und C. K. Williams.
Archiv: New Yorker

Spiegel (Deutschland), 22.09.2003

Mathias Schreiber urteilt über die Memoiren von Fritz J. Raddatz: "Es ist ohne Zweifel das Beste, was dieser Autor je geschrieben hat." Und hat manches gefunden, das "für dieses in jeder Hinsicht unverschämte, zuweilen hoch amüsante Bekenntnisbuch" spreche - etwa die darin geschilderte, "schräge Kultur-Rallye mit der 'mondänen' Gabriele Henkel durch New York." Auch und gerade, weil Raddatz mit seinen rundum verteilten Beleidigungen von Leuten, die er "alle einst umworben hat", sich in Wahrheit nur selbst verletze. Eben: ein "in jeder Hinsicht" unverschämtes Buch.

Weitere Artikel: Ein Gespräch mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, über "die unterdrückte Debatte zur EU-Verfassung" sowie ein Artikel zum Zielkonflikt von Strafverfolgung und Datenschutz im Internet: Es geht um die Probleme, die die Entwickler einer Tarnsoftware für Netzsurfer von der TU Dresden mit den deutschen Strafverfolgungsbehörden bekommen haben.

Nur im Print: Artikel über Don DeLillo und sein neues Werk "Cosmopolis", über den Bestsellerautor Scott Turow, über die frühen Jahre der RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin und über die Hamburger Tagebuchnotizen von Samuel Beckett aus dem Nazi-Deutschland von 1936.

Der Titel ist den "Lasteseln der Nation" gewidmet: den Arbeitenden. So darf Kurt Biedenkopf die schleichende Rückkehr des 19. Jahrhunderts, die "steuerliche Förderung" der Hausdienerschaft nämlich, bejubeln: "Riesiges Potenzial".
Archiv: Spiegel