Im Kino

Ohne Scham oder Reue

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Jochen Werner
14.11.2013. Mit angemessener Ambivalenz begleitet Joshua Oppenheimers ungeheurer Dokumentarfilm "The Act of Killing" Re-Inszenierungen jahrzehntealter Morde an indonesischen Oppositionellen - durch die Täter selbst. Zonen tiefer Dunkelheit und schwarzer Löcher lotet der ägyptische Debütfilm "Coming Forth by Day" von Hala Lotfy aus.


In den Jahren 1965 und 1966 zogen, im Anschluss an einen Militärputsch und im Auftrag des Machthabers General Suharto, Todesschwadronen durch Indonesien, die mehr als eine Million als Kommunisten denunzierte Oppositionelle, Intellektuelle, Chinesen brutal folterten und ermordeten. Eine dunkle Seite der indonesischen Geschichte, die bis heute unaufgearbeitet ist, stehen doch die Massenmörder von einst noch immer inmitten der Gesellschaft, werden von paramilitärischen und federführend an den einstigen Massakern beteiligten Organisationen wie der Pancasila Youth wie Helden verehrt und erzählen ohne Scham oder Reue von ihren einstigen Bluttaten.

Wie kommt man an solche Menschen heran? Wie kann es gelingen, einen Dokumentarfilm zu inszenieren, der ein neues Licht auf das Grauen wirft, das sich nie in schattigen Winkeln versteckte, sondern sich stolz im grellen Sonnenlicht präsentiert? Joshua Oppenheimer wählt für seinen in Co-Regie mit Christine Cynn und einem weiteren anonymen indonesischen Regisseur entstandenen Dokumentarfilm "The Act of Killing" einen cleveren und beängstigend effektiven Kniff: Er überlässt, jedenfalls zum Schein, den Mördern selbst die Kontrolle über das eigene Bild - und lässt sie zu vermeintlichen Kinostars werden. Übermannt von der Aussicht, die eigenen als heroisch verklärten Untaten filmisch verewigt zu sehen, lassen sie jede Maske fallen und stellen vor Oppenheimers Kamera Massenschlachtungen, Torturen und sadistischste Tötungsarten nach, bei denen den Zuschauern von "The Act of Killing" der Atem stockt.

Der Weg zur Wahrheit führt dabei, man mag an die vom als ausführender Produzent agierenden Werner Herzog formulierte Idee von der ekstatischen Wahrheit denken, nicht über eine möglichst minutiöse historische Rekonstruktion, sondern mitten durch das Herz der Falschheit, durch das Artifizielle, Gemachte, Stilisierte, durch die Inszenierung hindurch. Für das Re-Enactment ihrer Gräueltaten wählen die Protagonisten keineswegs naturalistische Szenarien: der gefürchtete Gangster Anwar Congo sucht für sich die Form des Gangsterfilms aus und entwirft ein Szenario, das wie die Laientheaterversion eines James-Cagney-Streifens wirkt - inklusive historischer Kostümierung und allerlei überstilisierter Coolness-Posen. Und dann gibt es noch die völlig absurden, jeden Rahmen sprengenden Revue-Musical-Sequenzen, den gigantischen Fisch, dessen Maul pinkgewandete Tänzerinnen ausspuckt.



Und es gibt das Make-up. Dick mit Latex zugekleistert, werden offensichtlich künstliche Wunden und Verstümmelungen auf die Gesichter der zu Schauspielern umfunktionierten Protagonisten appliziert; durch die offensive Künstlichkeit dieser Masken hindurch blitzt die Ahnung der mörderischen Wirklichkeit umso grauenerregender auf. Und wird, darüber hinaus, vielleicht momenthaft gar für die Protagonisten selbst als Schuld erfahrbar, zwingt sie doch Oppenheimer auf nur dem ersten Anschein nach spielerische Weise in einen Rollentausch hinein. Indem Anwar Congo sich im Re-Enactment seiner eigenen sadistischen Verhöre plötzlich in der Rolle des zuerst gefolterten, dann ermordeten Opfers wiederfindet, sieht er sich gezwungen, die Angst des Gegenübers, der vielen Gegenüber seines langen, blutigen Lebens, zur Kenntnis zu nehmen. Er selbst deutet an, zu wissen, wie seine Opfer sich gefühlt haben müssen - doch so leicht lässt der Mann hinter der Kamera ihn nicht davonkommen. Er wisse schließlich, dass es sich nur um einen Film handle. Seine Opfer hingegen wussten, dass sie wirklich umgebracht werden würden.

Überhaupt nimmt "The Act of Killing" zu dem ansatzweisen Erkenntnisprozess, den er begleitet, eine ambivalente und darin die einzig angemessene Haltung ein. Einerseits zeigt sich das Potenzial des Spiels, des Re-Enactments, letztlich: des Kinos, historischen Ereignissen eine Unmittelbarkeit, eine konkrete Präsenz zu verleihen, die sie sinnlich und gegenwärtig erfahrbar machen und durch diese Strategie neue Wege des Umgangs mit ihnen erschließen. Andererseits bleibt die Möglichkeit bestehen, sie ihrer historischen Wahrheit zum Trotz als bloßes Spielmaterial zu begreifen - Anwar Congo selbst sieht sich, später, mit seinen Enkeln gemeinsam die Aufzeichnung seiner gespielten Folterung an, und zwischen aufblitzenden Momenten des Erkennens und vielleicht sogar einer Form von Reue ist immer wieder jene Form von Stolz auf die eigenen Untaten zu erahnen, die vielleicht die erschreckendsten Eindrücke dieses ungeheuren Films prägt. Und immer wieder die Flucht in die Inszenierung, die der Film den Tätern als trügerischen Schutz anbietet, nur um sie umso nachhaltiger zu entlarven: "Es ist doch nur ein Film ..."

Jochen Werner


The Act of Killing - Dänemark, GB, Norwegen 2012 - Regie: Joshua Oppenheimer - Laufzeit: 115 Minuten.

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"Coming Forth by Day" ist das Debüt der jungen ägyptischen Regisseurin Hala Lotfy und dabei - unter anderem - ein Film über Hände und Halbdunkel. Soad ist eine junge Frau Anfang 30, die in einem Vorort von Kairo lebt und gemeinsam mit der Mutter den bettlägerigen Vater pflegt. Lange Zeit verharrt der Film im dämmerigen Halbschatten der elterlichen Wohnung und folgt in langen Einstellungen und langsamen Kamerafahrten den alltäglichen Verrichtungen, mit denen Soad den Vater versorgt: kochen, putzen, waschen. Sie hievt den Vater in den Rollstuhl und schiebt den Rollstuhl von einem Zimmer ins andere und wieder zurück.

Soads Bewegungen durch die Wohnung sind ein einziges Schattenspiel: sie durchquert Zonen tiefer Dunkelheit und schwarze Löcher, die sie lautlos verschlucken, dann wieder steht sie vor geöffneten Fensterläden als Silhouette, die sich schwarz vom grellen Sonnenlicht absetzt. Lichtsprengsel brechen durch halbgeöffnete, flatternde Vorhänge und setzen blitzende Akzente. Dieses filmische Chiaroscuro hat etwas Malerisches, trotzdem liegen Resignation und Erschöpfung zäh über den Bildern. Alte, schwere Möbel aus dunklem Holz bevölkern die Wohnung, oft erscheint Soads Gestalt von Türrahmen festgestellt und eingezwängt. Die Welt draußen, das Leben, ist nur über die Tonspur präsent, Stimmen, Rufe, die von sehr fern in die Wohnung dringen.

Soads Gesicht bleibt lange Zeit verdeckt und wird, auch wenn die Kamera es später in den Blick nimmt, nie zum Objekt psychologisierender Inquisition. Stattdessen sind es Soads Hände, die expressiv und narrativ werden: als Hände, die schnelle, zweckorientierte Handgriffe ausüben, den Vater füttern, einreiben, hochheben. Man sieht diesen Händen eine Unruhe und kaum unterdrückte Wut an. Sie rütteln und zerren, wenn der Vater beim Füttern den Mund nicht öffnet oder wenn der Rollstuhl sich im Türrahmen verkantet. Aber auch entrückte Momente stillen Genießens kennen diese Hände, wenn sie sich waschen, ein Stück Seife greifen, es langsam von einer Hand in die andere gleiten lassen, oder wenn sie sich eincremen, ganz geschmeidig. So ist die Sorge um sich für Soad reduziert auf kleinste körperliche Akte, Schwundstufen von großer Toilette, dem Alltag abgetrotzt.



Erst gegen Mitte des Films verlässt Soad die enge elterliche Wohnung, aber die Handlung kommt auch dann nicht wirklich in Fahrt. Soad will jemanden treffen, der nicht kommt, sie steigt von einem Autobus in den nächsten, spricht mit einer jungen Frau, die sich verhext glaubt (besessen hatte die Mutter auch Soad genannt), geht kurz in eine Moschee. In dokumentarisch anmutenden Aufnahmen zeigt "Coming Forth by Day", wie es Nacht wird in Kairo, blausilbern und metallisch blitzend. Auf der Straße sieht man fast ausschließlich Männer, einmal scheint es bedrohlich zu werden.

In einer surreal anmutenden Szene wandelt Soad allein inmitten überdimensionierter Tongefäße - an Stellen wie dieser war mir der elegisch-stilisierende Ästhetizismus des Films ein wenig zu viel. Ohnehin ist der Hang zur Allegorie die ganze Zeit präsent: der entmächtigte Vater, der noch im Sterben das Leben von Frau und Tochter bestimmt, Soads Lähmung und Ohnmacht, all das lässt sich natürlich als Kommentar auf die politische Lage in Ägypten nach dem Arabischen Frühling lesen. Weil aber "Coming Forth by Day" als Film so klug und so klar mit seinen filmischen Mitteln und Formen umgeht, hat mir der leichte - ganz leichte - Drall ins Symbolische und Bedeutsame nicht viel ausgemacht.

Elena Meilicke

Coming Forth by Day - Ägypten 2012 - Originaltitel: Al-khoroug lel-nahar - Regie: Hala Lotfy - Darsteller: Donia Maher, Salma Al-Naggar, Ahmad Lutfi, Doaa Ereikat, Ahmad Sharaf, Galal Beheiri, Nadia Al-Gindi - Laufzeit: 96 Minuten.