Im Kino

Keine Form ohne Materie

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
30.05.2012. Heinz Emigholz setzt seine Serie von Architektenportraits mit dem beeindruckenden "Parabeton - Pier Luigi Nervi und römischer Beton" fort. Der junge Amerikaner David Gordon Green erweitert sein breit aufgestelltes Formenrepertoire in "Bad Sitter" um eine gentrifizierte Komödie.


Sieben Architektenfilme hat Heinz Emigholz in den letzten eineinhalb Jahrzehnten gedreht. Vielleicht werden diese (bislang) sieben Filme irgendwann als das späte Hauptwerk des bereits seit den frühen Siebzigerjahren aktiven Avantgardefilmers gelten: ein ganz und gar eigensinniges Programm der Ausmessung, Erschließung und Rekonstruktion von Raumpraxis, das man in eine Reihe stellen kann mit den ganz anders gearteten, aber ähnlich eigensinnigen cinekartographischen Arbeiten Frederic Wisemans oder James Bennings.

Trügerisch einfach erscheinen die Filme: Emigholz wählt berühmte Architektenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts aus, sucht deren Bauten auf und zerlegt sie filmisch in einer Serie relativ kurzer, jeweils nur wenige Sekunden langer Einstellungen. Schaut man sich mehrere dieser Filme hintereinander an, kann man sich kaum noch vorstellen, dass Gebäude anders gefilmt werden können: fast nie (in den neueren Filmen der Serie: nie) bewegt sich die Kamera, oft, aber nicht immer, sind die Einstellungen angewinkelt, Emigholz verändert zwar ständig den Abstand der Kamera zum Objekt und arbeitet mit Bildanschlüssen, die zumindest in manchen Fällen den Eindruck einer Passage zu Fuß durch das Gebäude erwecken, es gibt aber keinen systematischen Unterschied zwischen establishing shots und Nahaufnahmen, die Bilderfolge zielt auf einen rein synthetischen Raum, der sich entweder aus allen Bildern auf einmal, oder eben gar nicht formiert. Auf der Tonspur gibt es keinen voice-over-Kommentar, dafür aber eine unaufdringliche, fein gearbeitete Sound-Montage aus Original-Ton, die einen akustischen Raum eröffnet, der bei der Synthese ungemein hilft.

Fachwissen setzt keiner der Filme voraus, dennoch sind einige der Emigholz-Architektenfilme für Architektur-Laien leichter zugänglich als andere. Neben dem wunderschönen "Schindlers Häuser" (2007) ist der neue Film "Parabeton - Pier Luigi Nervi und römischer Beton" vermutlich der ideale Einstiegspunkt in die Serie. Wie in den Bauten Rudolph Schindlers lässt sich auch in denen Nervis Architektur sehr direkt als eine Form von Denken im Raum erfahren. Während Schindler vorwiegend Privathäuser und Appartmentkomplexe konstruierte, spezialisierte sich der Italiener Nervi (1891 - 1979) auf groß dimensionierte Funktionsbauten: Orte der Produktion, der Massenkultur und der Repräsentation, Lagerhallen, Sportstätten, Firmenzentralen; 17 davon hat Emigholz für "Parabeton" gefilmt, wie schon bei seinen früheren Architektenfilmen bewegt er sich entlang der Biografie des Schöpfers. Viele Gebäude Nervis haben gewölbte Betondecken aus sogenannten Gitterschalen, getragen von angewinkelten Stützpfeilern (für diese Pfeiler interessiert sich Emigholz' Film ganz besonders), andere zeichnen sich durch spektakuläre Säulenkonstruktionen aus, die an der Decke strahlenförmig verstrebt sind. Viele Gebäude scheinen sich selbst als eine Art Totalität setzen zu wollen, die gleichmäßig abgerundete Form zielt auf einen absoluten Bruch mit der Umgebung (in dieser Hinsicht ist Nervi möglicherweise eine Gegenposition zu Schindler und zu dessen stets auf ein Außen hin entworfene Innenräume), der aber selbstverständlich schon im Moment des Erbauens vielfach kompromittiert wird. Das letzte Gebäude im Film ist die päpstliche Audienzhalle im Vatikan; es mag ein glücklicher Zufall sein, dass diese Konstruktion wie eine Synthese des gesamten Nervi'schen Schaffens wirkt.



Emigholz unterbricht diese Reihung mehrmals mit Porträts antiker Betonbauten. Nicht chronologisch sei er bei der Auswahl der alten Gebäude vorgegangen, sondern dramaturgisch, sagte Emigholz während der Berlinale in einem Publikumsgespräch; manchmal, könnte man hinzufügen, vielleicht sogar satirisch, etwa, wenn er auf die Unesco-Zentrale in Paris den Pantheon folgen lässt. Die Einschübe zeichnen architektonische Traditionslinien nach, aber sie decken nicht die historische Differenz zu. Die Ruinen, funktionslos in der Gegend herumstehenden Betonriesen, in denen Vögel nisten (allerdings verirren sich auch in Nervis Lagerhallen einige Tauben...), werden vom Film nicht "rekonstruiert", sie interessieren nur als Ruinen, als Fragmente, die hilflos etwas Größeres zu bezeichnen suchen, wirken manchmal fast wie Menschen mit fehlenden Gliedmaßen. Obwohl sich die technischen Parameter der Emigholz'schen Raumerfassung nicht verändern, funktioniert der Zugriff auf die Gebäude plötzlich völlig anders.

Die Flexibilität dieser Emigholz'schen Methode des Architekturfilms wird in den Einschüben besonders deutlich; man kann sie aber auch in anderen Passagen entdecken. Etwa, wenn der Film sich in einer Papierfabrik für einige Einstellungen nicht mehr entlang der Logik des Raums, sondern entlang der Produktion organisiert. Sichtbar wird in solchen Momenten auch eine weitere Besonderheit der Filme: sie zeigen nicht nur einen Ort, sondern auch eine Zeit an. Emigholz filmt jedes Gebäude an einem einzelnen Tag (und setzt in Zwischentiteln das Datum der Aufnahme unter das Jahr der Erbauung) und zwar genau so, wie er es vorfindet: in einigen tummeln sich Menschen, in anderen nicht, manche sind gut instandgehalten, erschreckend viele befinden sich (der grundsoliden Bausubstanz zum Trotz) in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Diese scheinbaren Verunreinigungen der architektonischen Vision weisen nicht nur darauf hin, dass es keine Form ohne Materie geben kann; durch sie dringen auch immer wieder ironische, spielerische Momente in die Filme ein. In "Parabeton" gibt es zum Beispiel eine selbstreflexive Volte, wenn Emigholz eine Nervi-Halle filmt, in der eine Nervi-Ausstellung gezeigt wird und sich zwei Modi der Darstellung von Architektur übereinander legen.

Heinz Emigholz ordnet seine Filme in untereinander komplex verschalteten Serien an. "Parabeton" ist der 19. und letzte Film der Serie "Fotografie und Jenseits" und gleichzeitig der erste der Serie "Aufbruch der Moderne". In dem dritten Ordnungssystem "Architektur als Autobiografie" ordnet er sich irgendwo in der Mitte ein. Diese privaten Sortiersysteme müssen einen nicht kümmern; umso mehr kann man sich über das in ihnen enthaltene Versprechen auf Fortsetzung freuen.

Lukas Foerster


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Der Regisseur David Gordon Green ist, obwohl er noch keine vierzig Jahre und nicht mehr als sieben Spielfilme (und eine Fernsehserie) im Rücken hat, so breit aufgestellt, dass man nicht umhin kann, sein Schaffen als "Kontinent" oder, da es bei aller Breite im generischen Formenrepertoire doch auch fokussiert ist auf einen bestimmten Ausschnitt der amerikanischen Wirklichkeit, als "Erzähluniversum" zu bezeichnen. Mit dem Kritikerliebling "George Washington", der an der Schwelle zum neuen Jahrtausend eine Art poetisch-oneirischen Realismus zu inaugurieren schien, nahm Greens wechselhafte Karriere ihren Ausgang, gefolgt vom ähnlich gelagerten "All The Real Girls". Beide Filme widmeten sich Angehörigen der Unterschicht bis unteren Mittelschicht, den Nachkommen eines ländlichen Proletariats, dem mit dem Niedergang der Industrie die Selbstverständlichkeit abhanden gekommen war; es ging um Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, noch nicht vollständig absorbiert von der Wirklichkeit, in einem traumverlorenen Zwischenzustand, der am Ende von "All The Real Girls" kollabiert.

Fünf Jahre später dann erfolgt, was wie ein Bruch in Greens Werk anmuten muss. 2008 kam die Stonerkomödie "Pineapple Express" in die Kinos, letztes Jahr die - schon im Titel ebenfalls dem kiffenden Zuschauersegment zugeeignete - High-Fantasy-Persiflage "Your Highness", zwei unterkörperfixierte, überproduzierte Komödien im Einzugsgebiet des Kontinents Judd Apatows sowie dessen Figuren und Darsteller von Seth Rogen bis James Franco. Das fehlende Glied - der späte Green würde den hier sich insinuierenden Kalauer sicher nicht ungenutzt verstreichen lassen - zwischen den beiden, scheinbar inkongruenten Inkarnationen des David Gordon Green findet sich in der HBO-Serie "Eastbound and Down", die Green gemeinsam mit dem kongenialen Jody Hill ("The Fist Foot Way", "Observe and Report") konzipiert und in alternierender Folge realisiert hat.

Den Protagonisten von "Eastbound and Down" spielt Danny McBride, der sein Leinwanddebüt bei Green, in "All the Real Girls", gab. McBride spielt den ausrangierten Ex-Baseballstar Kenny Powers, der in seine Heimatstadt zurückkehrt. Der Clou der Serie ist, dass McBrides Held von gestern stur an seinem verflogenen Ruhm festhält und den völlig unrealistischen Plan eines späten Comeback verfolgt. Dass das schief gehen muss, weiß man sofort: Es ist Kennys Vokuhila, seinem wahnhaften Narzissmus und seiner Liebe zu einem leopardengemusterten Wassermotorrad sofort anzusehen, dass ihm die Bodenhaftung vor langer Zeit abhanden gekommen ist. So oft "Eastbound and Down" komisches Kapital aus dieser durchdringend lächerlichen Figur schlägt, so wenig distanziert die Serie sich von ihr, überlässt sie sich immer wieder Kennys Begehren ­- etwa in stierenden Close-Ups auf den tief ausgeschnittenen Busen seiner Jugendliebe April oder in einer Jet-Ski-Eskapade in Zeitlupe.



Dieser Vorlauf ist nötig, um zu verdeutlichen, warum die gar nicht mal schlechte, aber von aller Green'schen Idiosynkrasie befreite Komödie "Bad Sitter" ein Rückschritt oder jedenfalls eine milde Enttäuschung ist. Jonah Hill ist darin - vielleicht zum letzten Mal in ganzer Leibesfülle, denn er hat seither beträchtlich an Gewicht verloren - als Schulabbrecher Noah zu sehen, der gleich in der ersten Szene als Naturtalent des Cunnilingus vorgestellt wird ("I actually write a short story with my tongue every time I do it"), aber keine Frau findet, die sich für sein Können bei ihm revanchieren würde: Noahs Lebensproblem ist das Fehlen von Wechselseitigkeit. Im Folgenden wird er als Babysitter für Slater (Max Records, zuletzt zu sehen in Spike Jonzes "Where The Wild Thing Are"), dessen Schwester Blithe und beider hispanischen Adoptivbruder Rodrigo eingestellt, aus Not und nur für einen Abend, der freilich rasch eskaliert zur Reise durch die New Yorker Nacht.

Als Noahs unausstehliche Freundin ihm den lange vorenthaltenen Sex doch noch in Aussicht stellt, wenn er sich nur dazu bereit erklären wollte, ihrem Dealer Karl (Sam Rockwell) einen Besuch abzustatten, nimmt das Verhängnis, die Kinder im Schlepptau, seinen Lauf. Zu spät bemerkt Noah, dass Rodrigo ein randvoll mit Kokain gefülltes Fabergé-Dinosaurierei (sic!) aus Karls Kollektion mitgehen hat lassen, was der verbleibenden Stunde von "Bad Sitter" ihr in immer wüstere Situationen entführendes Momentum verleiht.

Das klingt lustiger als es zumeist ist, das tolle, weil ausstattungstechnisch restlos enthemmte Setpiece in der außerweltlichen Residenz des Kingpin einmal ausgenommen, das zugleich einen jener raren Momente einrahmt, in denen der Humor für sich stehen darf und nicht einer moralischen Lektion dienstbar gemacht wird wie fast überall sonst in "Bad Sitter", den - darin ans immer konvervativere Spätwerk John Hughes' erinnernd - an seinen Figuren zuvorderst die pädagogische Funktion, der Lerneffekt interessiert. Und obwohl "Bad Sitter" in seiner dramaturgischen Matritze einer expansiven Bewegung folgt - von der vorstädtischen WASP-Reihenhaussiedlung bis zur schwarzen Poolbar in einer Seitengasse Brooklyns - bleibt seine Welt seltsam eingehegt, stratifiziert: eine gentrifizierte Komödie.

Nikolaus Perneczky

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Außerdem diese Woche neu:

"Leb wohl, meine Königin!" von Benoît Jacquot. Hier unsere Berlinale-Kritik.

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Parabeton - Pier Luigi Nervi und römischer Beton - Deutschland 2012 - Regie: Heinz Emigholz -Darsteller: Dokumentation - Länge: 100 min.

Bad Sitter - USA 2011 - Originaltitel: The Sitter - Regie: David Gordon Green - Darsteller: Jonah Hill, Max Records, Ari Graynor, J.B. Smoove, Sam Rockwell, Landry Bender, Kevin Hernandez, Kylie Bunbury, Erin Daniels - Länge: 78 min.