Im Kino

Geistiger Haferbrei

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
28.01.2009. David Fincher verfolgt in seinem gleich dreizehnmal Oscar-nominierten Film "Der seltsame Fall des Benjamin Button" seinen Titelhelden auf der Reise in die falsche Richtung des Zeitpfeils. Und der italienische Film "Stilles Chaos" mit Nanni Moretti ist ein Film mit Palindrom und mit Hund.

Bezaubernd schön ist dies Baby nicht: runzlig, greisenhaft, ein Irrläufer der Natur. Benjamin Button: digitale Nachgeburt einer literarischen Kopfgeburt. F. Scott Fitzgerald hat dies Baby in die Welt gesetzt, 1921, "The curious case of Benjamin Button". Der Irrlauf jedoch war ein etwas anderer, in dieser Erzählung. Das runzlichte Baby hatte nicht nur Körper, sondern auch Geist eines Greises, wurde dann, geistig und körperlich, jünger und jünger, um zuletzt an Jugendschwäche zu sterben. Lange, liest man, wurde an einer Leinwandfassung dieser Geschichte gebastelt. Vor allem die Technik, heißt es, war nicht so weit. Auch diverse Bücher befriedigten nicht, da musste erst Eric Roth kommen, der mit dem Drehbuch zu "Forrest Gump" zu Ruhm und Oscar gelangt war. Er hat nun das Verkehrte am seltsamen Leben des Benjamin Button auf den Körper seines Helden verkürzt und Regisseur David Fincher seinerseits nimmt Brad Pitt digital so in die Mangel, dass er als heranwachsender Greis dem Gollum ähnelt und als verfallender Jüngling dem Mann, den wir aus "Thelma & Louise" noch erinnern.

Bezaubernd schön sind viele der digital hoch aufgelösten Bilder (insbesondere: der Nacht), die Finchers Kameramann Claudio Miranda (bei "Zodiac" war er noch Assistent des großen Harris Savides) gelingen. Manches davon könnte man sich glatt an die Wohnzimmerwand hängen und eigentlich wäre es da auch besser aufgehoben als im Film. Im Film nämlich hebt sich gar nichts auf und fügt sich schon gar nicht zum schlüssigen Gesamtbild, sondern es wird nur Staunenswertes an Staunenswertes gereiht, bis einem das Staunen gründlich vergeht. Mal geht's in den Krieg, da zischen die abgefeuerten Raketen im Dunkeln. Dann wird's romantisch und Cate Blanchett tanzt im Mondschein. Später wird als kleines narratives Virtuosenstück eine Erzählung von Schicksal und Zufall als Intarsie in den Film hineingelegt, die aus dem Nichts kommt und zu nichts passt, außer vielleicht als exemplarische Verdichtung der eigentlichen Grundbewegung des Films: seines intellektuellen Hohldrehens nämlich.


Nicht genug der Fabrikationen. Ein Rahmen wird um das Ganze gezwungen und noch einer. Der eine Rahmen verfügt über die Geschichte des Benjamin Button als Flashback und lässt die Stimmen, die Zeiten, die Verwandtschaftslinien aufs Unüberraschendste ineinanderfließen. Nichts davon hätte es gebraucht: den Hurrikan Katrina nicht, die dreivierteltot geschminkt daliegende Kate Blanchett nicht, den alles andere als bezaubernd schönen Sing-Sang ihrer sterbenden Stimme nicht und die Auflösung des Familiendreiecks am Totenbett schon dreimal nicht. Und auch der innere Rahmen um die Rückblende, der von einem Mann erzählt, der eine rückwärts laufende Uhr baut, doppelt nur, womit Buch und Regie einfach schon herzlich wenig anzufangen wissen.

Das ist die Crux dieses Films: Er hat einen Story-Gimmick der auffälligen Art, weiß aber nicht, was er damit eigentlich will. Erzählt wird die Geschichte des Benjamin Button ausführlich und behäbig, im Glauben, es sei etwas ganz Großes und Episches daran, der sich an keiner Stelle bestätigt. Was man sieht, ist vielmehr ein recht beliebiges Leben und die Tragik gegeneinander laufender Zeitpfeile bleibt leere Behauptung. Zwischen dem retardierenden Greis und der progredierenden Balletteuse kommt es zu einer ganz handelsüblichen Liebesgeschichte, deren Scheitern gar keinen gimmick-spezifischen Eindruck macht. Sie sind einfach, scheint es, nicht füreinander bestimmt.


Als düster gestimmte Predigt über das Leben als solches versteht sich der Film, aber nichts, was er zeigt, ist, den kurios verkehrten Zeitläuften zum Trotz, interessant oder neu. Wir lernen, dass die Vergänglichkeit das Leben und auch die Liebe regiert. Dass wir also, du und auch ich, sterben und dass das irgendwie eher traurig ist alles in allem. Dass der Blitz einschlägt, und sei es sieben Mal. Dass der Zufall dieses und jenes ohne sich etwas zu denken so und nicht anders laufen lässt. Aus jedem Gedanken, den das Drehbuch nicht hat, macht David Fincher endlose zwanzig Minuten, in denen er ihn illustriert. Mit Löffeln hat der Film die Weisheit gefressen, die er dem werten publico Pomp und vielen Umständen zweieinhalb Stunden lang serviert. Da sitzt man dann aber da und sträubt sich vergeblich dagegen, dass einem David Fincher das Lätzchen umbindet und den großen Bilderlöffel rausholt und einem seine seltsame Knopfgeschichte einflößt. Schließlich kaut man halt doch darauf herum und kaut und bräuchte doch weder Hirn noch auch Zähne: alles nur digital aufgemotzte Grütze, alles nur geistiger Haferbrei.

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Es ist ziemlich genau ein Jahr her, dass ich "Stilles Chaos" das erste und einzige Mal sah. Das war während der Berlinale und die Kritiken zum Film waren insgesamt nicht sehr freundlich. Ich erinnere mich an die Pressekonferenz, auf der ein irritierend wirrer und selbstgefälliger Nanni Moretti, der Hauptdarsteller des Films, sich über die katholische Kirche erregte, die sich sehr über eine Sexszene des Filmes aufgeregt hatte. Ich erinnere mich an die Sexszene des Films, zu der sich Isabella Ferrari, aber auch Moretti in mehreren Interviews äußern mussten und auch, die Szene offensiv verteidigend, äußerten. Die Schauspielerin, deren Namen ich vergessen habe, spielt eine Nachbarin, es ist Nacht und sie kommt durch eine Glastür, die sie zur Seite schiebt und die beiden treiben es wild und anal und heftig und gut sichtbar für Leute, die eventuell draußen stehen, gut sichtbar auch für das Kinopublikum, im Wohnzimmer miteinander. So jedenfalls erinnere ich das. Wahr ist, dass diese wirklich sehr drastische Sexszene überraschend kommt und im Körper des Films ein Fremdkörper bleibt. So sehr, meiner Erinnerung nach, dass kaum zu sagen ist, ob sie nun eine gute Idee ist oder nicht.

Ich erinnere mich, dass Nanni Moretti am Anfang des Films am Strand ein Leben rettet und nach Hause kommt und seine Frau, die Mutter seiner Tochter, ist tot. Er aber lebt weiter, denkt man, als wäre es kein Drama, aber dieses Weitermachen erweist sich als merkwürdige Sache. Es ist, als führe einer, statt - wie es sich für dramatische Ereignisse dieser Art gehörte - zu entgleisen, wie auf Schienen weiter, aber als gelangte er dabei hinaus auf ein Abstellgleis und führe dann auf diesem Abstellgleis immer weiter, während am Rande der Strecke die Leute aus seinem bisherigen Leben stehen und winken und rufen und er fährt weiter und sie rennen ihm hinterher und er reagiert einfach nicht. Ich erinnere mich nicht, dass mir dieser weit hergeholte Vergleich beim Sehen des Films damals, vor einem Jahr schon eingefallen wäre. Vielleicht ist er falsch.

Ich erinnere mich, dass Nanni Moretti dann immer auf dem Platz vor der Schule seiner Tochter sitzt. Im Auto und auf einer Bank. Dass seine Kollegen, er ist ein hohes Tier in einer Firma, vorbeikommen und mit ihm reden. Ich erinnere mich, dass da eine Frau ist, sie könnte die Mutter einer Klassenkameradin der Tochter oder ihre Lehrerin sein - das weiß ich nicht mehr genau. Ich erinnere mich, dass ihm da auf dem Platz, auf dem er sitzt, immer dieselben Menschen begegnen und dass das zu den eher dämlichen Seiten des Films gehört. Es ist, wenn ich mich nicht täusche, auch eine sehr gutaussehende Frau darunter, die ihm, aber da bin ich keineswegs sicher, schöne Augen macht. Vielleicht war auch irgend etwas anderes mit dieser Frau. An vielen Stellen, erinnere ich mich, ist der Film so erwartbar und konventionell, dass man das, was geschieht, ganz schnell wieder vergisst. An anderen Stellen ist er, das weiß ich noch, recht überraschend. Leider habe ich auch da die Einzelheiten vergessen.

Ich erinnere mich immerhin, dass ich mich über den Einsatz von Popmusik in dem Film sehr geärgert habe. Nicht, weil es schlechte Popmusik war - Indierock gehobener Güte, glaube ich -, sondern weil sie so billig zur Kommentierung und Stimmungsuntermalung eingesetzt wird. Das weiß ich noch sehr genau, dass mir das gar nicht gefiel. Ich erinnere mich auch, dass ich anders als andere, teils geradezu erboste Kritiker fand, dass "Stilles Chaos" das Potenzial besessen hätte, ein ziemlich guter Film zu sein, dass der Regisseur es aber durch zu viele Abkürzungslösungen und zu viele Skurrilitäten und den Popmusikeinsatz letztlich versemmelt. Viel mehr als das, was ich aufgezählt habe, erinnere ich tatsächlich nicht.

Hier aber ist, falls Sie meiner Erinnerung nicht trauen, die Stichwortliste der IMDB für den Film, zu der ich gestehen muss, dass mir vor allem die Stichworte Palindrom und Hund gar nichts mehr sagen:


Verlust, Auto, Vater-Tochter-Beziehung, Cannabis, Sex, Lehrerin, Verlust der Mutter, ungewollte Schwangerschft, Verlust der Ehefrau, Ehe, Hund, Unfalltod, Listenmachen, Geschäft, Schule, Sportstunde, Kollege, Hübsches Mädchen, Cafe, Trauer, Palindrom, Firma, Italien, Gedanken im Voice-Over, Analsex, Mädchen, Down-Syndrom, Firmenzusammenschluss, Bruder, Rettung vor dem Ertrinken.

Der seltsame Fall des Benjamin Button. USA 2008 - Originaltitel: The Curious Case of Benjamin Button - Regie: David Fincher - Darsteller: Brad Pitt, Cate Blanchett, Taraji P. Henson, Julia Ormond, Jason Flemyng, Tilda Swinton

Stilles Chaos. Italien 2008 - Originaltitel: Caos Calmo - Regie: Antonello Grimaldi - Darsteller: Nanni Moretti, Valeria Golino, Isabella Ferrari, Alessandro Gassmann, Blu Yoshimi, Silvio Orlando, Hippolyte Girardot, Alba Rohrwacher