Im Kino

Polyphonie der Perspektiven

Die Filmkolumne. Von Nicolai Bühnemann, Katrin Doerksen
21.10.2020. Kantemir Balagovs "Bohnenstange", nach dem dokumentarischen Roman von Swetlana Alexijewitschs "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", erzählt vom Existenzkampf zwei Frauen im noch von der Hungerblockade erstarrten Leningrad. In Jean Beckers "Ein mörderischer Sommer" von 1983, sucht Isabelle Adjani den Vergewaltiger ihrer Mutter und ihren Vater.


Tannengrüne Tropfen kriechen über die roten Tapetenfetzen herab, sie übertünchen das darunter Liegende nicht, bleiben dünne Rinnsale. "Du machst das nicht richtig", weist Masha (Vasilisa Perelygina) ihren hündisch ergebenen Verehrer an. So herrisch, wie sie es immer tut, entweder mit Worten oder allein mit ihrem stählernen Blick. "Verstreich die Farbe, damit sie nicht tropft!" "Bohnenstange" von Kantemir Balagov ist ein Kriegsfilm, aber weil seine Geschichte erst nach dem Krieg einsetzt, verlagert er die Kampfhandlungen vom Schlachtfeld in die halböffentlichen und privaten Innenräume, wo nun Farben unentwegt miteinander ringen. Das Rubinrot von alten Tapeten, von Blut, das in Momenten großer Anspannung aus Nasen rinnt. Das satte Tannengrün von Wollpullovern, von noch nicht fertig abgesteckten Kleidern und der neuen Wandfarbe, die wie ein pigmentgewordener Hoffnungsschimmer Erinnerungen an die Zeit des Darbens verdecken soll. Und dazu eine halb durchsichtige Nichtfarbe, eine Lichtfarbe, je nach Tageszeit von einem kränklichen Weiß, von Kerzenschein- oder Gasfunzelgelb.

Der Kampf der drei Farben in "Bohnenstange" setzt sich in den beiden Protagonistinnen fort. Masha ist in ihrer grünen Uniform aus dem Krieg zurückgekehrt, dazu die roten Haare, sie ist zwar klein, aber wirkt zäh. Und Iya (Viktoria Miroshnichenko), die Bohnenstange genannt wird, weil sie alle mühelos überragt. Ihre Blässe macht sie regelrecht durchscheinend, ihre Haare, die Brauen und Wimpern wirken je nach Lichteinfall entweder weißblond oder als wäre vorzeitig alle Farbe aus ihnen gewichen. Von Anfang an nimmt dieses ätherische Gesicht die Kamera ganz für sich ein. "Bohnenstange" beginnt mit merkwürdigen Tönen, wie von einem schmerzgebeutelten Nagetierchen, vielleicht auch einem kaputten Uhrwerk. Dann die Großaufnahme von Iyas Gesicht, inmitten des Gewusels einer Waschküche steht sie da und starrt ins Nichts, gibt nur diese kleinen, seltsam knarzenden Laute von sich. Seitdem sie wegen einer Gehirnerschütterung von der Armee heimgeschickt wurde, leidet sie unter plötzlich einsetzenden katatonischen Anfällen, während derer sie sich nicht bewegen oder äußern kann.



In ihr manifestiert sich die Schockstarre der ganzen Stadt: Das ausgehungerte Leningrad am Ende des Zweiten Weltkriegs nach einer Ewigkeit unter deutscher Belagerung. Hier hat Iya in den letzten Monaten Mashas an der Front geborenen Sohn durchgebracht. Doch kurz bevor seine Mutter zurückkehrt, geschieht ein Unglück. Iya und Mashas Beziehung, die Balagov ohnehin definitionslos in der Schwebe hält, gibt das eine neue Intensität, bei der sich kaum zwischen intimer Vertrautheit und erzwungener Nähe unterscheiden lässt.

"Bohnenstange" ist auch ein Film über Letzteres: Mehrfach steigen die Figuren in Straßenbahnen ein, immer begleitet von viel zu vielen Menschen für die kleinen Waggons. Die Kamera mitten drin, aber ohne den Eindruck hektischer Betriebsamkeit zu vermitteln. Die Leute drängen sich routiniert aneinander, sie bewegen sich auf die Einstiege zu wie Rinder, die von der Weide zurück in ihren Stall getrieben werden. Abgesehen von den Straßenbahnszenen gibt es in "Bohnenstange" nur wenige Stadtansichten, die Welt von Masha und Iya ist auf einen kleinen Radius zusammengeschrumpft. Ihre Wohnung besteht aus einem einzigen Zimmer. Die Küche gehört der ganzen Etage; unmöglich dort die eigenen Töpfe für sich zu behalten oder ungewünschten Avancen des Nachbarn aus dem Weg zu gehen. Arbeit wiederum haben beide Frauen in einer Klinik gefunden, die sich um die Kriegsversehrten kümmert. In direkt nebeneinander stehenden Betten wird untersucht und therapiert, Wiedersehen gefeiert, gestorben.

Die Klinik ist der einzige Ort im Film, an dem explizit etwas vom größeren Ganzen durchdringt, von der politischen Dimension des Leidens. Die neue Leiterin hält eine Ansprache, in der sie von der glänzenden Zukunft spricht, der Dank des großen Genossen auf alle warte. Später besucht eine Lokalpolitikerin die Invaliden und als ein frisch Operierter ihr applaudiert, platzen seine Narben wieder auf: Einmal mehr tränkt das Rot einen weißen Kittel. Zwei Pfleger tragen ihn weg; ihr energischer Griff erinnert an Gefängniswärter. Sonst gilt Balagovs Fokus Thesen und Appellen ebensowenig wie der Front. Offiziell mag der Krieg vorbei sein, doch die Figuren stehen am untersten Ende der Maslowschen Bedürfnispyramide; wenn sie sprechen, dann kreisen sie um das Existenzielle, um ihr Weiterleben - oder gerade um das nicht mehr weiterleben wollen. Meist ordnet er sie dabei einander gegenüber an. "Bohnenstange" ist inspiriert von Swetlana Alexijewitschs dokumentarischem Roman "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" - die Gesichter, die Balagov ihm gibt, sind verschattete Profile. Ganz so wie in dem scherenschnittartigen Bild, auf dem man zwei Gesichter oder eine Vase ausmacht, kann man sich im Film aussuchen, ob man darin Nähe oder eine Drohgebärde erkennen will.

Katrin Doerksen

Bohnenstange - Russland 2020 - OT: Dylda - Regie: Kantemir Balagov - Darsteller: Viktoria Miroshnichenko, Vasilia Perelygina, Andrey Bykov, Ogor Shirokov, Konstantin Balakirev - Laufzeit: 130 Minute.

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Isabelle Adjani liegt auf dem Bett in einem luftigen roten Kleid, legt Karten, klebt sich ihre falschen Fingernägel an. Über ihr prangt das berühmte Foto von Marilyn Monroe, die sich lasziv der Kamera zuwendet, die Hände vor der Brust verschränkt. Es ist eine eher beiläufige Szene aus Jean Beckers Thriller "Ein mörderischer Sommer" von 1983, die zeigt, wie die weibliche Hauptfigur Elaine ihre Zeit verbringt, während sie darauf wartet, Rache an den drei Männern zu nehmen, die einst in einer verschneiten Nacht, 25 Jahre bevor die Handlung des Films einsetzt, ihre Mutter vergewaltigten. Einer von ihnen ist ihr leiblicher Vater. Aber es ist auch eine Schlüsselszene, die den Konflikt der Figur, der im Zentrum des Films steht, zusammenfasst. Es geht um eine Andienung an ein bestimmtes Ideal, ein fixiertes Bild von Weiblichkeit, dem die junge Frau umso mehr zu entsprechen versucht, wie es ihre eigene Geschichte ihr verwehrt.

Zu Beginn zieht sie in ein Dorf in der Provence, mit ihrem im Rollstuhl sitzenden Vater Gabriel Davigne (Michel Galabru), der als Zwangsarbeiter ihre deutsche Mutter Paula Wieck Davigne (Maria Machado) kennenlernte, die hier nur "Eva Braun" genannt wird. Unter den diversen Verehrern der jungen attraktiven Frau ist auch der Automechaniker Florimond Monteciarri (Alain Souchon), der gemeinhin nur "Pin-Pon" genannt wird. Nach dem frühen Tod seines italienischen Vaters lebt er mit seinen beiden jüngeren Brüdern bei seiner Mutter (Jenny Clève) und deren Schwester Nine (Suzanne Flon), die alle nur mit Cognata (Italienisch für "Schwägerin") anreden und die bei einem Bombenangriff 1944 ihr Gehör verlor. Nach einem schwierigen ersten Abendessen zieht Elaine gleich zu ihm, bald heiraten sie. Doch nach und nach wird klar, dass es nicht der Zufall war, der sie zusammenführte.



In dem Film nach einem Drehbuch von Sébastian Japrisot, der auch die Romanvorlage schrieb, sind Namen weder Schall und Rauch, noch zeigen sie in einem herkömmlichen Sinn Identität an. Vielmehr zeugen sie von der Nicht-Identität der Figuren mit sich selbst auf einem Kontinent, auf dem auch Jahrzehnte nach Kriegsende immer noch die Auswirkungen von Faschismus und Vertreibung das Leben der Menschen bestimmen. Als Kind stellte Elaine irgendwann fest, dass sie nicht den Nachnamen ihres Vaters, sondern den ihrer Mutter trägt. Das brachte sie auf die Geschichte ihrer Zeugung. Namen scheinen wie ein Fluch auf den Figuren und ihrem Schicksal zu lasten. Es geht um eine fatale Durchdringung des Allgemeinen und des Speziellen, der größeren historischen Zusammenhänge und der persönlichen Biografie der Figuren, die ihnen auf jeweils unterschiedliche Weise verwehren, ihr Glück zu finden. Nirgends wird das so deutlich, wie in dem Spitznamen, mit dem Elaine bedacht wird: "Elle".

Beginnt der Film mit einem einfachen Subjekt-Objekt-Verhältnis, in dem die Kamera in der ersten Einstellung den Blick Pin-Pons auf Elaine wiedergibt und wir im Voice-Over seine Reflexionen über sie und die Beziehung zu ihr hören, dann wird im weiteren Verlauf sie und ihr Konflikt immer weiter ins Zentrum gerückt; aus dem einfachen männlichen Voice-Over wird nach und nach eine Polyphonie der Perspektiven, bei der zunächst Elaine, dann ihre Mutter und Nine, in der sie schnell eine Verbündete findet, zu Wort kommen. Zudem wird die Linearität der Erzählung aufgebrochen durch Flashbacks, die die Gruppenvergewaltigung von Elaines Mutter und Szenen aus ihrer Kindheit zeigen.



Einerseits eckt Adjanis Figur, die selten viel und oft nichts an hat, durch ihre Laszivität bei den anderen Figuren und besonders bei Madame Monteciarri an. Andererseits zeigt der Film die Versuche, einem tradierten Bild der hypersexualisierten Frau zu entsprechen, als harte Arbeit. Die schwer traumatisierte Frau, die in ihren Zwanzigern immer noch hauptsächlich an die Mutterbrust will - und in einer der verstörendsten Szenen auch kommt - kämpft mit verlaufenem Eyeliner, abgebrochenen Absätzen und weigert sich ihre Brille aufzusetzen, ohne die sie doch kaum etwas sieht.

Sowenig wie Elaine wirklich zum Subjekt des Blicks werden kann, sowenig auch zu dem der Gewalt, denn Letztere ist der Männergesellschaft so inhärent, dass sie sich schließlich als längst vollzogen herausstellt. Weniger als um die Setzung eines weiblichen Subjekts geht es um dessen Zersetzung. Das Bild, das sie von sich selbst zu vermitteln versucht, löst sich immer wieder spontan in Tränen auf, während sie mehr und mehr dem Wahnsinn verfällt. Den Hintergrund einer Geschichte von Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch in der Familie bietet die Darstellung einer Gesellschaft, in der einer leicht bekleideten Frau beständig auf der Straße nachgepfiffen wird, sie bei den geilen alten Männern, auf die sie bei ihrer Suche nach den Vergewaltigern stößt, grundsätzlich deren Dienste auch mit Sex bezahlen könnte und der Klaps auf den Hintern einer fremden Frau in der Disko offenbar als Kompliment funktioniert.

Elaine bleibt schließlich nur die endgültige Regression in die Kinderrolle, die sie psychisch eh nie überwunden hat - und Pin-Pon hat die Schrotflinte, die in der letzten Einstellung des Films eine verheerende Rolle spielt, von seinem Vater geerbt.

Nicolai Bühnemann

Ein mörderischer Sommer - Frankreich 1983 - Regie: L'été meurtrier - Regie: Jean Becker - Darsteller: Isabelle Adjani, Alain Souchon, Suzanne Dlon, Jenny Clève, Maria Machado, Evelyne Didi - Laufzeit: 133 Minuten. Justwatch listet auf, wo der Film online geliehen werden kann. Eine DVD ist ebenfalls erhältlich.