Im Kino

Das echteste Echt

Die Filmkolumne. Von Janis El-Bira, Thomas Groh
29.10.2020. "Schwesterlein" von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond führt uns in die Welt der Welt der Theaterkönigskinder der Berliner Schaubühne. Lars Eidinger in der Rolle eines todkranken Schauspielers hat ein Authentizitätsproblem beim Sterben, beim Spielen sieht man ihm hingegen gern zu. An Halloween kommt George A. Romeros Zombieklassiker "Dawn of the Dead" wieder in die Kinos: links, zornig und in Coronazeiten unwahrscheinlich aktuell.


Es gibt keine größere Wahrheit als die banalste: Dass der Tod keine Ausnahmen macht, dass sterben muss, was lebt. Das weiß auch Sven, dessen krebskranker Körper sich nicht schert um Svens großen Namen am Theater, wo er Abend für Abend einen umjubelten Hamlet gibt. Nun geht es nicht mehr. Die Rolle ist schon neu besetzt, auch wenn Sven noch immer die ganze Partie, nein, das ganze Stück im Schlaf zitieren kann. Das Spiel ist aus. Es beginnt der langsame Verfall des privaten Menschen, dem die Haare ausgehen und dessen Haut bald über und über von den roten Pusteln einer Gürtelrose bedeckt ist.

Das also, behauptet "Schwesterlein", ein Film des Schweizer Regieduos Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, ist der eine Teil vom Rest, der bleibt. Hässlicher Lebensende-Realismus, dem das konventionelle Auflehnungs- und Verdrängungsprogramm nichts anhaben kann, wenn Sven noch einmal fallschirmspringt und sich durchs Nachtleben säuft. Doch das ist eben nur der eine Teil.

Der andere hat zu tun mit dem Milieu, in dem dieser Film spielt, und den Besetzungsentscheidungen, die Chuat und Reymond getroffen haben. Das Milieu wird schon zu Beginn mit dem titelgebenden Brahms-Lied umsungen. Die Welt der Theaterkönigskinder, die sich hier um die Berliner Schaubühne scharen, deren Star Sven ist; seine Schwester Lisa wiederum soll eigentlich Erfolgsstücke schreiben, leidet aber seit Svens Krebsdiagnose unter einer Blockade. Hin und wieder ist von Peter Zadek die Rede, von Peter Stein und Klaus Michael Grüber, der großen Theaterzeit, der vor allem Svens Mutter in ihrem Charlottenburger Alt-Diven-Palast voller Erinnerungsstücke nachträumt. Die Krankheit des Sohnes stürzt in diese Welt wie ein Ufo, unerwartet, unwirklich und doch extrem besonders. Daneben gibt es noch eine Welt, anders elitär, aber nicht weniger: In der Schweiz leitet Lisas Mann eine internationale Schule für die echten Königs- und Oligarchenkinder, deren Währung nicht die Kunst, sondern bare Münze ist. Zwischen diesen Welten, dem todkranken Theaterbruder und dem konfliktuösen Familienleben, hängt auch Lisas Leben in der Schwebe.



Chuat und Reymond haben die bemerkenswerte Entscheidung getroffen, die wichtigsten dieser Partien im wahrsten Sinne rollendeckend zu besetzen. Im Zentrum stehen mit Lars Eidinger als Sven und Nina Hoss als Lisa zwei tatsächliche Schaubühnen-Größen, mit Marthe Keller als Mutter der Geschwister und Jens Albinus als Lisas Ehemann weitet sich diese kleine Theaterfamilie international. Selbst Schaubühnen-Leiter Thomas Ostermeier kunstquatscht sich in einer Nebenrolle als "Hamlet"-Regisseur (im wahren Leben eine seiner erfolgreichsten Inszenierungen mit Lars Eidinger in der Titelrolle) sympathisch laienhaft durch den Film. Ein Meta-Vergnügen für Fans, das dem beschriebenen Milieu zwar einen selbstreflexiven Witz schenkt, dem Realismus der ersten Ebene aber geradezu verräterisch die Grenzen aufzeigt. Denn wer könnte für die Rolle des Sterbenden und im Sterben notwendig Authentischen weniger geeignet sein als eben jener Lars Eidinger, dessen liebevoll aufgebaute Popstar-Persona am Theater ihren speziellen Reiz in überlebensgroßen Ego-Shows findet, bei denen sich die Frage nach dem Authentischen des Spiels längst erübrigt hat? Eidingers Kunst besteht gerade in einer Verwandlung ohne Verwandelten, einer Parade von Masken, die trotzdem immer dasselbe, keineswegs aber das "wahre" Gesicht zeigen. Darin ist er seine eigene Marke und Marken sterben bekanntlich schlecht. Seltsames Authentizitätsproblem: Man sieht es, aber bleibt doch ungläubig.

Spaß macht Eidinger hingegen dort, wo er noch im Spiel spielen darf: Wenn Sven mit Lisas Kindern herumtollt, mit bunten Perücken die letzten Haarflecken verbirgt und sich Post-Its an die Stirn klebt. "Schwesterlein" aber braucht ein anderes Gravitationszentrum, um bei aller kunstgewerblichen Beflissenheit zumindest eine echte Träne der Rührung hervorzupressen. Der Film findet es in Nina Hoss, die ein ungleich breiteres Register klassischer Rolleneinfühlung zeigt, wenn Lisa den Bruder wäscht und ihm beim Kotzen den Kopf hält, während die Fliehkräfte in der eigenen Familie immer größer werden. Da scheint es nur verdient, dass Sven ihr schließlich ein Geschenk macht: Im Sterben des Bruders kommt Lisas eigenes Schreiben wieder zu sich, weil die Wirklichkeit dieser Erfahrung radikal Schluss macht mit den bürgerlichen Zipperlein und Wohlstandsbeschwerden, mit denen sie zuvor nicht mehr weitergekommen war. Der Tod bleibt das echteste Echte. Aber im Theater und in der Liebe ist er vielleicht ein bisschen weiter weg.

Janis El-Bira

Schwesterlein - Schweiz 2020 - Regie: Stéphanie Chuat, Véronique Reymond - Darsteller: Nina Hoss, Lars Eidinger, Marthe Keller, Jens Albinus, Thomas Ostermeier - Laufzeit: 99 Minuten.

---



Plötzlich herrscht heilloses Chaos: Experten schreien einander schrill an, Kameraleute führen einen Eiertanz auf, im Schaltraum herrscht Verzweiflung, im Studio allgemeiner Tumult. Die ins Fernsehbild eingeblendeten Infos, die Menschenleben retten sollen, stimmen schon lange nicht mehr. Jeder weiß es am besten und allemal besser als der andere - aber keiner, wie es wirklich ist. Eine Gesellschaft in Auflösung und Selbstzerfleischung. Panik. Wenn nicht mal mehr die Medien wissen, was Phase ist - wer dann?

Der Einstieg, den George A. Romero für seinen Apokalypsen-Zombieklassiker "Dawn of the Dead" (1978) wählte, ist legendär - legendär effektiv, legendär genial. Es geht buchstäblich in medias res und völlig klar ist: Nichts ist mehr, wie es war. Alles vor dem Weltuntergang ist vielleicht noch Material für nostalgische Referenzen, aber gewiss keine Gegenwart mehr. Es geht nur noch um eines: blankes Gehetztsein, immer nur weiter - kein Plan, kein Ziel, kein Fluchtpunkt, der Erlösung verspricht. Überleben in Permanenz. Die Gesellschaft ist nicht mehr.

Wer im achten Monat der Corona-Pandemie diese Szenen sieht, erlebt in den ersten Minuten, bei diesem eskalierenden Infarkt der Medienkultur, ein produktiv irritierendes Déjà-vu. Oder zumindest ein Déjà-vu der Vorahnung dessen, wovon wir einst ausgingen. Oder was vielleicht doch noch kommt. Klar ist einzig: "Dawn of the Dead", dieses großartige Meisterwerk des amerikanischen Independentfilms der 70er-Jahre, ist weiterhin brandaktuell.



Es bleibt nicht bei diesem einen Déjà-Vu: Das klaustrophobische Belagerungssetting seines stilbildenden "Night of the Living Dead" (1968) denkt Romero weiter zum adrenalinsatten Lockdown-Actionfilm. In "Night" verbarrikadierte sich eine durch blanken Zufall zusammengewürfelte Gruppe noch in einem Landhaus vor dem Ansturm der lebenden Toten, die sich auf der Suche nach Gedärm aus den Gräbern erhoben haben. In "Dawn" ist es eine Shopping Mall, die jeglichen Komfort des Konsumkapitalismus der 70er bietet. Eingesperrt sein mit Menschen, die man immer weniger mag, umstellt von stapelweise Vorräten, während draußen der Tod anklopft - Erinnerungen an den Prepper-März 2020 werden wach.

Romero, Modernisierer und linksliberales Gewissen des Horrorkinos, mag bei seiner Konsumkritik den Holzhammer schwingen. In ihrer allegorischen Kraft aber sind die ausgiebigen, hart am Rande des Slapstick-Klamauk siedelnden Szenen, in denen Zombies wie hirntote Kunden durch die Tristesse des Shopping-Kapitalismus wanken, allemal schlagend.

Darunter freilich finden sich auch differenziertere, melancholischere Töne: Die Zombies bilden letztlich nur das szenarische Hintergrundrauschen, eine anonyme Masse, etwas, was nicht bewusst agiert, aber durch schiere Präsenz die Karten neu mischt, die Bedingungen diktiert, unter denen Leben möglich ist oder zur Unmöglichkeit wird. Der eigentliche Horror steckt in den Unzulänglichkeiten der Lebenden: Gier, Egoismus und die Unfähigkeit zur Erkenntnis der eigenen Lage führen zu immer neuen Katastrophen. Die Schicksalsgemeinschaft im Kaufhaus pflegt den Ennui in einem Wohlstandskerker, von draußen drängen Rockerbanden als anarchische Kraft ins Innere der wohlsituierten Welt. Ein Übereinkommen ist nicht möglich, im Sturm auf die Bastille des Wohlstands ist für die Lebenden auf keiner Seite etwas gewonnen. Die Untoten stürmen ein ins Allerheiligste. Dystopische Utopie der Untoten: Nur ihre Gemeinschaft bildet erstmals auf dem Globus eine Gesellschaft vollkommener Egalität.

Die blutigen Splattereffekte stammen von Tom Savini, legendärer Meister seines Fachs. In Vietnam war er Frontfotograf. Dass er mit seinen Effekten seine Traumata exorziert, glaubt man ihm gerne. Romeros Affekt-Inszenierung zielt auf grimmige Katharsis - ein Zombiekopf, ein Schuss, ein Treffer - oder grimmige Verzweiflung: In einer Szene erschießt Ken Foree in der Rolle des Söldners Peter zwei zombifizierte Kinder. In der Presse wurde ihm diese Szene einst zum Vorwurf gemacht. Dass er Schwarz ist und von allen Figuren noch am ehesten eine positive Bezugsfigur, mag an solchen Vorbehalten auch seinen Anteil gehabt haben. Der Gestus aber, der aus solchen Szenen spricht - an einer tödlichen Krise gibt es nichts zu beschönigen, wie man auch vom Affekt einer solchen Situation nur ansatzweise etwas versteht, wenn man den als triumphal empfundenen Zivilisierungsschwund nur auf Distanz hält -, dieser Gestus also brachte "Dawn of the Dead" in Deutschland, wo der Film bei seiner Erstauswertung einst immens Publikum zog, ein staatsanwaltschaftlich durchgesetztes Totalverbot nach STGB §131 (Gewaltverherrlichung) ein.

Mittlerweile ist diese Intervention der Sittenwächter vom Tisch und der Blick auf diesen fulminanten Beitrag zur Geschichte eines linken, zornigen Genrekinos wieder frei. In den USA gilt er eh als Meisterwerk, inspirierte Erfolgsserien wie "The Walking Dead" und im Jahr 2004 ein ungleich brutaleres Remake, das hierzulande ohne weiteres ungeschnitten im Kino lief.

Dass immer wieder neue Generationen von Fans diesen Film wiederentdecken und in den Pantheon heben, spricht für sich, bzw. ihn. Er bleibt auch weiterhin zeitlos: "Dawn of the Dead", das ist der passende Film zu einer chaotischen Gegenwart im Zeichen von Coronakrise, Klimawandel und einem in Hysterie versinkenden US-Wahlkampf. Dass man ihn in diesem gottvermaledeiten Jahr am höchsten Feiertag der Untoten, an Halloween, wieder im Kino sehen und zelebrieren kann, das passt wie Kugel durch Zombiekopf.

Thomas Groh

Dawn of the Dead - USA 1978 - Regie: George A. Romero - Darsteller: David Emge, Ken Foree, Scott H Reiniger, Gaylen Ross, David Crawford - Laufzeit: 119 Minuten (Euro-Cut von Dario Argento)