Im Kino

Zentrifugales Denken

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Michael Kienzl
15.10.2020. Der Filmessay "Orphea" von Alexander Kluge und dem philippinischen Regisseur Khavn zeigt eine Orphea in Gestalt von Lilith Stangenberg, die sich - mal zwischen Texttafeln, mal im urbanen Chaos von Manila - damit abgefunden hat, dass die Welt sich nach dem Verlust der Unschuld in eine Unterwelt verwandelt hat. In Reiner Holzemers Doku "Martin Margiela - Mythos der Mode" erzählen die Stimme und die Hände des belgischen Designers von seiner Arbeit.


Zwei Gehirne wohnen in diesem Film, und ein Körper. Das eine Gehirn, das Kluge-Gehirn, denkt in Begriffen und Konstellationen von Begriffen, was sich insbesondere in Texteinblendungen manifestiert. Da steht dann etwa zu lesen: "Homer, die Meere, beides: Die Liebe, sie bewegt es", oder "ORPHEUS, Sohn von Apoll und Nosferatu / er konnte seine Liebste nicht retten / Er nennt sich seither EURYDIKO …". Andere Texttafeln lassen sich nicht mit einem Blick erfassen. Einmal zum Beispiel prangt in der Mitte der Leinwand in Rot das Wort "Love" und darum herum sind eine Reihe von kleineren weißen Schriftzüge gruppiert, manche waagrecht, andere senkrecht: "Musik Musik", "Orphea 2019", aber auch "Schlaues Haus (russisch) 2019".

Eingepasst zwischen die Schrift sind Bilder, die nicht von der Immanenz der Welt, sondern ebenfalls von den Begriffen her gedacht sind. Schicke High Heels vor schwarzem Hintergrund und von einem Scheinwerfer beleuchtet, ein leerer Kinosaal, in den die Großaufnahme einer Augenpartie projiziert wird, oder auch, immer wieder, Szenen, in denen Lilith Stangenberg vor einer Videoprojektion zu sehen ist und dann zum Beispiel davon erzählt, wie sie einmal aus Versehen den Tod einer Schlange verursacht hat.

Das andere Gehirn, das Khavn-Gehirn, denkt in Affekten und Konstellationen von Affekten, was sich gelegentlich ebenfalls in Texteinbledungen manifestiert. Zu lesen sind dann, in Handschrift, Gedichtzeilen, die stets mit dem Wort "Hinahanap" = "Auf der Suche sein" beginnen. Übersetzt heißen die Zeilen "Eine Umarmung sucht einen Kuss", oder "Ich suche den, der nicht suchen will", oder "Der blutende Mann sucht das Blut, um den Durst zu stillen".



Die Bilder, die das Khavn-Gehirn produziert, sind selten eindeutig lesbar. Ein wüstes Rockkonzert, lodernde Flammen, die dieses und jenes verzehren oder auch, immer wieder, Szenen, in denen Lilith Stangenberg in Manila unterwegs ist. Schweigend zumeist, wie auch sonst nicht viel geredet wird in den Khavn-Szenen. Dafür sind sie durchsetzt mit digitalen Störsignalen, entgrenzen sich gelegentlich zu animierten Stop-Motion-Eruptionen, ein paar mal greifen bizarre optische Effekte auf den gesamten visuellen Raum über und verwandeln zum Beispiel einen staubigen Steinbruch in einen eigenen Planeten, losgelöst vom Rest der Welt.

Der Körper schließlich gehört, wie schon angedeutet, Lilith Stangenberg. Die deutsche Schauspielerin ist die Orphea auf der Suche nach ihrem Euridikio (ein zweiter, deutlich nachgeordneter Körper: Ian Madrigal); oder vielleicht ist sie, in diese Richtung deuten einige der Kluge-Texttafeln, eine Orphea nach und jenseits der Suche, eine Orphea, die sich damit abgefunden hat, dass die Welt sich nach dem Verlust der Unschuld in eine Unterwelt verwandelt hat.

Stangenberg wird von Kluge zwischen die Begriffe platziert und von Khavn in das urbane Chaos von Manila geworfen. Kluges Kamera begegnet sie zumeist frontal, hier wird sie zum Dreh- und Angelpunkt der Bildermaschinerie, zur Vermittlerin zwischen uns und dem Kluge-Gehirn. Bei Khavn ist sie hingegen nur ein Körper unter vielen, eine Geworfene. Nicht länger ist sie es, die das Bild kontrolliert, vielmehr wird das Bild auf ihren Körper hin übergriffig, sie droht von Schatten verschluckt und von Schmutz unkenntlich gemacht zu werden, manchmal ist nicht einmal klar, wo ihr Körper aufhört und andere Körper beginnen.

Caption


Kluge / Khavn: Das ist so seltsam, dass es schon wieder genial ist. Nachdem der philippinische Independent-Regisseur bei "Happy Lamento", dem letzte größeren Filmprojekt des deutschen Universalgelehrten, noch eher als Rohstofflieferant mit von der Partie war, ist "Orphea" eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Tatsächlich hat der Film, wie der Abspann aufklärt, nicht nur zwei Regisseure, sondern auch zwei Produktionsteams, eines in Deutschland, eines auf den Philippinen. Wirklich zusammen finden die beiden Gehirne erst in der Postproduktion… wobei auch im finalen Film, und das macht einen beträchtlichen Teil des Reizes von "Orphea" aus, die Differenzen keineswegs glattgebügelt sind.

Die Kluge-Passagen sind prägnanter, sie sind konkreter in ihrem Zugriff auf den Mythos und gleichzeitig kommunizieren sie direkter mit der politischen Gegenwart: auch die kenternden Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer und die zugehörige Indifferenz der Festung Europa haben Platz in seinem Karneval der Begriffe. Für die Textualität und insbesondere die Texturen des Films jedoch sind die Khavn-Beiträge mindestens ebenso wichtig. Sie erst konfrontieren die Begriffe mit ihrem Gegenteil, mit einer Kakophonie des Rauschen und des Rauschs, mit einer Ordnung der Bilder, die den von Kluge bei aller Freude an der Dekonstruktion noch respektierten Grundkonsens des Sinnlichen aufkündigt.

Es gibt freilich, sonst hätte die Zusammenarbeit sicherlich nicht funktioniert, wichtige ästhetische Berührungspunkte: Kluge und Khavn eint ein Faible für Verkleidungen zum Beispiel, für zentrifugales Denken, für Performanz anstelle von Repräsentation und, vielleicht vor allem anderen, für Musik. Denn wo der Orpheus-Mythos mitsamt Genderinvertierung ein letztlich weitgehend willkürlicher Aufhänger bleibt, eher ein vielseitig anschlussfähiger Steinbruch der Begriffe und Affekte, denn ein dem Film vorgängiger Urtext, den es zu bearbeiten gilt, findet der Film sein wahres Zentrum auf der Tonspur. Auch der Soundtrack ist keineswegs auf einen Nenner zu bringen, insbesondere in den Khavn-Passagen schwirren Klangereignisse ganz unterschiedlicher Herkunft durch den auditiven Raum. Mehr als alles andere bleiben jedoch die Lieder im Gedächtnis, die Lilith Stangenberg singt. Immer wenn sie, oft begleitet von einem Pianisten, Kompositionen von unter anderem Jacopo Peri, Adorno (!), Khavn, Tschaikowski und Purcell vorträgt, dann verschwinden mit einem Mal alle Brüche und Inkongruenzen, dann befinden sich die zwei Gehirne und der eine Körper des Films für ein paar Minuten auf exakt derselben Wellenlänge.

Lukas Foerster

Orphea - Deutschland, Philippinen 2020 - Regie: Alexander Kluge, Khavn - Darsteller: Lilith Stangenberg, Ian Madrigal - Laufzeit: 99 Minuten.

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Fotos aus der Ausstellung "Margiela" im Palais Galliera, Paris, 2018. Fotos: Anja Seeliger


Nach vielen Jahren treffen sich einige Ex-Models wieder, um über ihre Zeit mit dem belgischen Designer Martin Margiela zu sprechen. Er redete zwar nicht viel, sagt eine der Frauen, aber die Stimmung bei der Anprobe war immer gut. Und er hatte schöne Hände, betont eine andere. Von ihm ließ man sich, im Gegensatz zu manch anderem Designer, gern anfassen.

Zwar tauchen im Dokumentarfilm "Martin Margiela - Mythos der Mode" einige Talking Heads von Modekritikern, Weggefährten und Designern auf, aber vom Porträtierten selbst sind lediglich die Hände zu sehen. Sie sehen frisch manikürt aus und sind mit Härchen sowie kleinen Pigmentflecken übersät. Sie wirken sehr zart, obwohl eine kleine, unverheilte Wunde vermuten lässt, dass sie auch anpacken können. Vor allem aber befinden sie sich, auch über zehn Jahre, nachdem sich Margiela aus der Modewelt zurückgezogen hat, ständig in Aktion. Immer wieder holen sie Erinnerungsstücke aus Kartons, halten Fotos und Zeichnungen in die Kamera, drapieren mit wenigen präzisen Griffen Stoff auf einer Schneiderpuppe oder fühlen einfach nur seine Beschaffenheit.

Bereits 1988, als das Maison Martin Margiela gegründet wurde, verweigerte sich sein Schöpfer der Öffentlichkeit. Er gab keine Interviews, ließ sich nicht fotografien und präsentierte sich auch nicht nach seinen Modeschauen, wie es sonst üblich ist. Weil gerade etwas Unerreichbares oft begehrenswert wird, wirkt es nun wie ein Coup, dass es dem dem deutschen Regisseur Reiner Holzemer gelungen ist, Margiela zumindest teilweise vor die Kamera zu locken, um seine zwanzigjährige Karriere Revue passieren zu lassen. Und so wie der Designer einst Strumpfmasken über die Köpfe seiner Models zog, um die Aufmerksamkeit ganz auf die Kleider zu lenken, verzichtet der Film auf das Gesicht Margielas, um sich stattdessen auf seine wohlartikulierten Ausführungen und die Sprache seiner Hände zu konzentrieren.


Margielas Herangehensweise bewegt sich irgendwo zwischen konzeptuell und punky. In alten verwaschenen Videos und Detailaufnahmen von Originalstücken sehen wir mit Löchern übersäte Oberteile, absurd breite Schulterpolster, Jacken aus Perücken, Pullis aus Militärsocken oder High Heels, die japanischen Tabi-Socken nachempfunden sind. Margiela erhob Fehler zur Kunst, verzerrte Silhouetten ins Groteske und pflegte trotz seines häufig etwas intellektuellen Ansatzes einen sympathischen Hang zum Quatsch. Einmal entwarf er etwa eine lebensgroße Version von Barbie-Kleidung. Dass die Teile an Menschen schlecht saßen, gefiel ihm gerade.

Im Film entsteht das Bild eines Designers, der auf populären Geschmack wie ein notorischer Contrarian reagierte. Als Miniröcke beliebt waren, entwarf er knöchellange Kleider und weil Boutiquen in den späten 80ern alle schwarz waren, ließ er seine eben komplett weiß streichen. So sanft die Stimme Margielas aus dem Off auch klingt, sie gehört einem Mann, der Kreativität aus seiner Anti-Haltung schöpfte und aus dem Regelbruch eine Kunst machte. Als Margiela aus finanziellen Gründen als Kreativdirektor für das Traditionshaus Hermès arbeitete, stieß er die Leute mit offensiv schlichter Anmut und einer extrem reduzierten Farbpalette vor den Kopf. Statt dem von allen erwarteten Knall lieferte er eine narkotische Inszenierung eleganter Langeweile.

Untermalt von den psychedelischen Gitarrenriffs der Rockband Deus lässt Holzemer die Stationen von Margielas Karriere mit angenehm forderndem Tempo und einem Sinn fürs Wesentliche vorüberziehen. Über Mode wird emotional und spannend, aber auch kenntnisreich und analytisch gesprochen. Über die provokativen Modeschauen, die auch mal in einem Pariser Problembezirk oder einem mit Patschuli vernebelten Parkhaus stattfanden, erfährt man ebenso etwas wie über wirtschaftliche Fallstricke. Das Ende für Margielas Ära - für die Person, nicht für die Marke, die heute von John Galliano geleitet wird - wurde schließlich durch die Übernahme des Dieselkonzerns eingeläutet, der plötzlich knackige Verkaufsvokabeln einführen wollte.

Das Herz von Holzemers Film aber bleibt Margiela selbst. "In His Own Words" lautet der Originaltitel und beschreibt gut, dass der Film uns zwar mit Kontext versorgt, in erster Linie aber eine Innenperspektive bleibt. Die ist nicht frei von Eitelkeit, aber eben auch so offen, klar und detailliert, wie man einen Designer selten sprechen hört. In einem Interview erzählte der Regisseur kürzlich, wie er die Ausrichtung seines Films immer wieder an die Wünsche seines scheuen und nicht ganz unkomplizierten Protagonisten anpassen musste. Im Abspann wird Margiela sogar als eine Art Co-Regisseur geführt. Das mag mancher duckmäuserisch finden, tatsächlich ist die Maxime, dass man von Menschen am meisten erfährt, wenn man dafür sorgt, dass sie sich wohlfühlen, hier ziemlich gut aufgegangen.

Michael Kienzl

Martin Margiela - Mythos der Mode - Regie: Reiner Holzemer - Deutschland 2019 - Laufzeit: 90 Minuten.