Im Kino

Einigermaßen versehrt

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Elena Meilicke
23.05.2012. Gerade erst in Cannes uraufgeführt, jetzt schon in den deutschen Kinos: Wes Andersons Inventurfilm "Moonrise Kingdom". Gewissermaßen gleichzeitig in die Neunziger und in die Sechziger Jahre zurück verschlägt es dagegen Will Smith in Barry Sonnenfelds gelungenem Blockbuster "Men in Black 3".

Stell dir vor, du fährst auf eine einsame Insel und darfst nur fünf Dinge mitnehmen. So oder so ähnlich beginnt das alte Kindergarten-Spiel und so oder so ähnlich dürfte auch die geheime Formel lauten, nach der "Moonrise Kingdom" gestrickt ist.
 
Schauplatz ist New Penzance, eine Insel vor der Küste Neu-Englands, das Jahr ist 1965: Sam liebt Suzy, Suzy liebt Sam, die beiden hauen zusammen ab. Er will raus aus Pflegefamilie und Pfadfinderlager, sie weg von den Eltern im permanenten Kriegszustand. Beide sind 12 Jahre alt und schon einigermaßen versehrt: Sam Shakusky (Jared Gilman) lugt hinter dicken Brillengläsern verstohlen in die Welt und spricht extrem vernuscheltes Englisch. Suzy Bishop (Kara Hayward) hat ein leicht asymmetrisches Gesicht und Unterbiss; sie trägt türkisblauen Lidschatten und sieht ein bisschen aus wie die verschrobenen Leute auf Diane-Arbus-Fotografien. "Moonrise Kingdom" - das macht ein flüchtiger Blick auf die jugendlichen Hauptdarsteller klar - ist eine Eloge auf den/die Nerd.
 
Sam und Suzy machen sich also auf den Weg, über Stock und Stein und durchs Unterholz. Kaum haben sie ihr erstes Lager errichtet, schlägt Sam eine Bestandsaufnahme vor: "Let's make an inventory!" - was einem eben so einfällt, wenn man sich in die Büsche geschlagen hat. Suzy präsentiert brav ihre Habseligkeiten: einen batteriebetriebenen Plattenspieler (türkis, passend zum Lidschatten), eine Françoise-Hardy-Platte (Suzys Lieblingslied ist "Le temps de l'amour", es läuft die ganze Zeit, Sam und Suzy tanzen linkisch dazu), eine Linkshänderschere (die auch im weiteren Verlauf des Films immer präzise als solche identifiziert wird) und einen Haufen Fantasy-Bücher; niedlich ist natürlich, dass Suzy so unpraktische Dinge mit auf die Flucht genommen hat.
 
Diese Szene ist paradigmatisch und erzählt einiges über Andersons Poetik. Stell dir vor, du machst einen Film und nur streng ausgewählte Dinge dürfen da rein, Dinge, die retro-popkulturellen Mehrwert besitzen, Dinge, die augenzwinkernd Kennerschaft und Distinktion ausstrahlen: "Moonrise Kingdom" ist absolutes Re-Auratisierungsprogramm. Gefilmt auf warm leuchtendem 16mm, setzt der Film Menschen und Dinge so sorgfältig wie spektakulär in Szene, arrangiert sie zu detail- und symmetrieverliebten Stillleben oder holt sie mit rasanten Reißschwenks ins Bild. Dagegen wäre im Grunde gar nichts einzuwenden, hätte man nicht bei jeder einzelnen Einstellung in Andersons Film das Gefühl, dass sie Resultat von ganz viel Purifizierungs- und Ausschlussarbeit ist. Am Ende bleibt ein leicht schaler Beigeschmack; jedes Bild ist eine Spur zu kalkuliert idiosynkratisch, wirkt fast steril, wie vakuumverpackt.
 

Zugegebenerweise charmant ist dagegen, wie "Moonrise Kingdom" dem hipsterischen Inventarisierungs-Gestus eine spekulativ-pastorale Genealogie verpasst. Zu diesem Zweck haben Wes Anderson und Roman Coppola, die gemeinsam das Drehbuch geschrieben haben, die alte Geschichte von der Arche Noah ausgekramt und sie auf mehrfache Weise mit dem Schicksal von Sam und Suzy verwoben. Da findet etwa die denkwürdige erste Begegnung der beiden in einer Umkleidekabine statt, Suzy steckt in einem Rabenkostüm und ist Teil einer Laientheaterproduktion von "Noye's Fludde". Und gegen Ende von "Moonrise Kingdom", als es ans große Finale geht, wird die Filmhandlung selbst vom Arche-Noah-Motiv affiziert, wenn sich die gesamte Inselgemeinschaft vor einer donnernden Sturmflut in die Kirche retten muss. "Von allem, was lebt, von allen Wesen aus Fleisch, führe je zwei in die Arche, damit sie mit dir am Leben bleiben; je ein Männchen und ein Weibchen sollen es sein," heißt es im 1. Buch Mose. Was also ist die Arche anderes als eine große, rettende Bestandsaufnahme?
 
So singt "Moonrise Kingdom" ein Loblied auf die Inventarisierung, sei sie nun biblisch oder postmodern. Und vielleicht springt dabei am Ende gar eine erbauliche Botschaft an alle Prä- und Post-Adoleszenten mit heraus: Es ist nicht so wichtig zu wissen, wer du bist; erst wenn du weißt, was du hast, kannst du richtig auf die Kacke hauen.
 
Elena Meilicke

---


Bloß gut, dass die Fernsehzuschauer 1969 noch kein High-Definition-TV hatten. Sonst hätte ihnen, die sie da bei Kaffee und Kuchen vor hübsch-hässlichen Sixties-Garnituren und dem TV-Gerät sitzen und anhand fleckig verrauschter Fernsehbilder die Startvorbereitungen zur "Apollo 11"-Mission verfolgen, das gestochen scharfe Bild wohl offenbart, wie da ein paar Gestalten in den Metallgerüsten rund um die startbereite Rakete einander herb ans Leder gehen. Gut auch, dass die Zuschauer und Fernsehkameras vor Ort auf Distanz gebracht sind und von den Scharmützeln ebenfalls nichts mitbekommen: Die Astronauten in ihrer Kapsel merken wohl, was sich da neben ihnen abspielt, einigen sich aber auf pragmatisches Klappehalten - das bisschen Geschubse einiger Lebensmüder soll doch wohl nicht eine Mission von derart historischem Rang wie die erste bemannte Mondlandung in Frage stellen.

Die Mondlandung ist indessen ein Klacks im Vergleich zu dem, um was es eigentlich geht, wenn Agent J (Will Smith), eine junge Variante von Agent K (Josh Brolin), sowie eine junge und eine alte Variante von Boris dem Tier (Jemaine Clement), einem hundsgemeinen Alien, in schwindelerregender Höhe allerlei Akrobatik aufführen: Das Wohl und Wehe der Erde hängt davon ab, ob es Agent K gelingt, ein Alien-Artefakt an der Mondrakete anzubringen, das, auf diese Weise ins All gebracht, einen Schutzschirm um die Erde legen und damit im Jahr 2012 eine Alieninvasion apokalyptischen Ausmaßes verunmöglichen würde. Ursprünglich hatte das einmal geklappt: Schutzschirm installiert, Boris das Tier in Ketten gelegt, Agent K ein Held, keine Invasion. Doch seit Boris (in der alten Variante) der Ausbruch aus dem Hochsicherheitstrakt auf dem Mond gelungen und ihm ein Zeitreisetool in die Hände gefallen ist, sind Geschichtsläufe wachsweiche Verhandlungsmasse geworden. Das muss auch Agent J feststellen, der am Morgen nach Boris' Zeitreise aus allen Wolken fällt, als er erfährt, dass sein langjähriger Partner K (in seiner alten Variante wie eh und je Tommy Lee Jones) 1969 bei Apollo 11 sein Leben lassen musste.

So wie Agent J nach dem buchstäblichen Zeitsprung von der Spitze des Empire State Buildings, wirkt auch der dritte Teil der Men-in-Black-Reihe wie aus der Zeit gefallen: Im Moment, als J noch hadert, ob er dem Zeitreisetool eines speckigen Nerds wirklich soweit trauen soll, um den Sturz in New Yorker Straßenschluchten zu wagen, setzen quallig-eklige Riesenaliens zum Angriff auf die Metropole an. Wenn diese gegen Hochhäuser rammen, wirkt das für ein, zwei Sekunden lang wie dem hyperbolischen Finale von "The Avengers" entnommen, Marvels Hyper-Superheldenfilm, der an den Kassen gerade alle Rekorde bricht. Doch anders als dieser (und viele vergleichbare Materialschlachten der letzten Jahre) interessiert sich "Men in Black 3" für solche katastrophischen Bilder gerade nur für jene paar Sekunden, die Agent J für seinen Zeitsturz braucht.


Das ist durchaus als programmatischer Wink zu verstehen: Für einige Jahre stand Regisseur Barry Sonnenfeld in den neunziger Jahren für eine gemütlich harmlose, darin aber immerhin sehr ehrliche Form von Unterhaltungskino, das bei allem Einsatz avancierter Spezialeffekttechnologie seinen Witz dennoch zuvorderst aus den Aktionen der menschlichen Schauspieler bezog. Während der Blockbuster sich seit dem 11. September zum kataklysmischen special effects porn auswuchs, der in den Subtexten des terroristischen Angriffs auf die USA und dessen Medienbildern fischte, überwinterte Sonnenfeld in den entlegenen Nischen des Fernsehfilms. Seine Rückkehr zum Spezialeffektekino und zu seinem bis dahin erfolgreichsten Franchise markiert somit in gewisser Weise auch die Rückkehr des flotten Summer Movies der neunziger Jahre, der seinen nunmehr posttraumatischen Status in der amerikanischen Geschichte immerhin in einigen Bildern durchschimmern lässt. Nur steht hier nicht die ganz große Katastrophe im Interesse des ästhetischen Verfahrens, sondern - wie auch das letzte Bild zeigt - die tröstliche Vorstellung, dass Menschen in diesem Zeitlauf einmal mit dem Leben davon gekommen sind: Es wird zur Katastrophe nicht gekommen sein.

Vom modischen 3-D sollte man sich dabei nicht irritieren lassen: Auch hier wirkt es so aufgesetzt wie die Brillen auf den Nasen im Kinosaal und ist für das Filmerlebnis selbst von so einschneidender Irrelevanz, dass man darin fast (aber eben nur fast) eine Art subversiven Akt sehen könnte. Sonnenfeld verlässt sich statt dessen ganz auf seine Kernkompetenzen: Witzige Dialoge (die aufzusagen Will Smith, der hier zum ersten Mal seit vier Jahren wieder in einem Film zu sehen ist, einige Meisterschaft an den Tag legt), kuriose Situationskomik (was, wenn Andy Warhol immer schon ein Agent für die Alienbehöre gewesen wäre und langsam mal wirklich wieder raus wollte aus dem Factory-Wahnsinn), liebevoll am Rande eingestreute Details (die Aliens der 60er Jahre wirken wie zeitgenössischen Sci-Fi-Trashfilmen entnommen), ein hübsches, nicht allzu protzendes set design (die 60ies-Kulisse bietet einen Rahmen, aber keine Arena für den Film) und die Abtastung zwischenmenschlich schwieriger Beziehungen auf ihr humoristisches Potenzial (das schwierige Verhältnis zwischen dem verlaberten J und dem stoisch abweisenden K bildet einen Running Gag und, in einer schön sentimentalen Wendung zum Ende hin, gewissermaßen das eigentliche Thema des Films).

Die Zutaten vermengen Sonnenfeld und sein Team perfekt: Als kurzweiliges Unterhaltungsmovie ohne Abstriche steht "Men in Black 3" gerade in dieser ausgewogenen Rezeptur geliebten Eighties-Klassikern ungleich näher als dem angestrengten und anstrengenden Sprengboliden-Kino von Michael Bay und Konsorten. Gerade, weil er sein Publikum nicht von oben herab anherrscht, sondern sich auf Augenhöhe mit ihm bewegt, ist "Men in Black 3" in seinen besten Momenten "bigger than life". Und auch, dass er mit einem in 5 Dimensionen existierenden und damit alle Zeitläufe und ihre Alternativen stets im Blick habenden Hippie-Alien den sympathisch verspultesten Erdengast des Science-Fiction-Kinos aufweist, soll am Ende nicht unerwähnt bleiben.

Thomas Groh

Moonrise Kingdom - USA 2012 - Regie: Wes Anderson -Darsteller: Jared Gilman, Kara Hayward, Bruce Willis, Edward Norton, Bill Murray, Tilda Swinton, Frances McDormand, Harvey Keitel, Jason Schwartzman, Bob Balaban, Tommy Nelson - Länge: 97 min.

Men in Black 3 - USA 2012 - Originaltitel: Men in Black III -Regie: Barry Sonnenfeld - Darsteller: Will Smith, Tommy Lee Jones, Josh Brolin, Rip Torn, Emma Thompson, Alice Eve, Nicole Scherzinger, Jemaine Clement, Bill Hader, Keone Young - Länge: 105 min.