Im Kino

Bewegungskino

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
20.03.2012. In Jeff Nichols zweitem Spielfilm "Take Shelter" geraten psychotische Halluzinationen und objektive Erzählwelt auf interessante Weise durcheinander. Heitor Dhalias Thriller "Gone" begnügt sich damit, Amanda Seyfried in Portland, Oregon in Bewegung zu setzen - gut so!


Jeff Nichols, dessen fiebriger Debütfilm "Shotgun Stories" vor fünf Jahren auf der Berlinale zu sehen war, meldet sich mit "Take Shelter" zurück. Wie schon im Erstling geizen Nichols und sein kongenialer Kameramann Adam Stone auch dieses Mal nicht mit mythisierenden Landschaftsaufnahmen; und obwohl die Geschichte um einen unscheinbaren Mann in der Mitte des Lebens, der urplötzlich von apokalyptischen Visionen heimgesucht wird, mit den bodenständigen "Shotgun Stories" zunächst wenig gemein zu haben scheint, waltet in beiden Filmen doch dieselbe romantische Natur. Das Handeln und Empfinden der Figuren entäußert sich in der atmosphärischen Schwüle von Arkansas ("Shotgun Stories") bzw. einem dräuenden Unwetter über Ohio ("Take Shelter"), was jedoch nicht als Psychologisierung der äußeren Wirklichkeit misszuverstehen ist, und auch nicht in umgekehrter Richtung als Naturalisierung der inneren. Die mythischen Obertöne sind zwar nicht zu überhören, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur klärt sich aber nie vollständig: Beide gehören unentwirrbar zu derselben Welt, scheint Nichols nahezulegen, weshalb Innen und Außen - und thetisch zugespitzt in "Take Shelter": Psychose und Apokalypse - nicht mehr einwandfrei sortierbar sind.

Dabei setzt Curtis, der Familienvater, in dessen Träumen die Endzeit sich ankündigt, alles daran, die Vermengung von alltäglicher und wahnhafter Wirklichkeit zu durchschauen. Jeder Metaphysik abgeneigt, sucht er nach einer vernünftigen Erklärung. Seine Selbstdiagnose, populärwissenschaftlicher Ratgeberliteratur entnommen, lautet auf beginnende Schizophrenie, an der schon seine Mutter zu leiden hatte. Obwohl Curtis sich mit Händen und Füßen zur Wehr setzt gegen die andrängenden Visionen, schaffen sie Handlungsgründe, derer er sich nicht entledigen kann. Und obwohl er einsieht, dass es sich um ein psychisches Problem handeln muss, sondert er sich zusehends ab und nimmt schließlich, wie unter Zwang, einen Kredit auf, um den Tornadobunker im Garten auszubauen.



"Take Shelter" verfährt sehr geschickt darin, uns für Curtis' Sicht einzunehmen, und doch glauben wir in fast jedem Moment, seine eindrücklich inszenierten Halluzinationen von der objektiven Erzählwelt scheiden zu können. Die angesprochene Unschärfe zwischen beiden stellt sich nämlich nur bedingt über trickreiche Täuschungsmanöver an der filmischen Oberfläche her. Stattdessen sind es Michael Shannons Schauspiel und - Vorrecht des Mediums Film - seine unvergleichliche Physiognomie, die das Doppelmotiv von "Take Shelter" ausbuchstabieren. Grobschlächtig und erdig nimmt er sich auf einige Entfernung gesehen aus, aber wenn die Kamera näher an sein asymmetrisches Gesicht herantritt, führt uns das leichte Schielen darin verlässlich fort vom unmittelbar und scheinbar unproblematisch Gegebenen. Alles, was an "Take Shelter" über die meisten "mindgame movies" des letzten Jahrzehnts hinaus geht, hängt in erster Linie mit seinem tollen Hauptdarsteller zusammen.



Wie Kameramann Stone und einige andere Mitwirkende, die sämtlich dem Umfeld des inzwischen nur mehr noch mit Mühe zuordenbaren Multitaskers David Gordon Green ("George Washington" und "All the Real Girls"; aber auch "Pineapple Express", "Your Highness" und die grandiose HBO-Serie "Eastbound & Down") entstammen, so war auch Shannon bereits in "Shotgun Stories" mit von der Partie. Indes hat nicht nur er hier berechtigte Ansprüche aufs Pantheon der uramerikanischen Leinwandgesichter: Wenn zwischen Warren Oates und Linda Manz noch ein bisschen Platz ist, so hätte Jessica Chastain ihn sich redlich verdient. Curtis' Frau Samantha gerät Chastain zum irdischen Abglanz jener ewigen Mutter, als die Terrence Malick sie in "The Tree of Life" zuletzt überhöht hatte. Derart zurückgenommen, verbleibt in Chastains Ostinato ihrer früheren Rolle genau die richtige Dosis Transzendentalismus für die spannungsvolle, zwischen Küchenspüle und Weltuntergang schillernde Tonart von "Take Shelter".

Man kann dem Film sein Ende vorhalten, weil Nichols' Buch an dieser entscheidenden Stelle tatsächlich recht wohlfeilen Versuchungen nachgibt. Aber wann ist man schon glücklich, wenn ein guter Film zu Ende geht?

Nikolaus Perneczky

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Ein kleiner, flüssiger Thriller, ohne offensichtliche Ecken und Kanten, aber nur fast stromlinienförmig, angetrieben von einem Trauma: Ein Unbekannter hatte Jill (Amanda Seyfried) gefangen genommen und in im Wald in ein Erdloch gesperrt. Nach Stunden voller panischer Angst und grauenhafter Entdeckungen konnte sie sich befreien. Der Täter wurde nicht gefasst, die Polizei glaubt inzwischen nicht einmal mehr an seine Existenz. Als eines Abends ihre Schwester Molly verschwindet, weiß Jill sofort, dass er zurückgekommen ist und dass er es eigentlich auf sie abgesehen hat. Da ihr niemand glaubt, dreht sie den Spieß um, nimmt selbst die Verfolgung auf und bekommt es gleich mit einer ganzen Reihe finsterer Gestalten zu tun: im Lauf der Spurensuche stößt sie auf jede Menge hochgewachsene, schlanke, etwas linkische Männer, Typen, die so aussehen, als hätten sie den Weg zur völligen Verwahrlosung ungefähr zu zwei Dritteln absolviert.

Aber vielleicht sind das einfach nur die Gesichter von Portland, Oregon, dem Schauplatz des mit kühler Eleganz (und einem ordentlichen Weichzeichnersortiment) fotografierten Films: auch Jills Kollegin Sharon (Jennifer Carpenter, bekannt aus der schönen Fernsehserie "Dexter") hat, obwohl ganz und gar nicht verwahrlost, einen ähnlichen Körperbau. Amanda Seyfried selbst ist interessanterweise das glatte Gegenteil: klein und offensichtlich verletzlich, dafür anpassungsfähig, geschmeidig, das Gesicht wie der Film: ohne offensichtliche Ecken und Kanten, aber nur fast stromlinienförmig. Viele Hoffnungen setzt Hollywood derzeit in diese Frau; ihr neuer Film gibt, anders als einige andere ihrer Projekte der letzten Jahre, eine Ahnung davon, warum.



"Gone", der erste Hollywoodfilm des brasilianischen Regisseurs Heitor Dhalia, wurde bei seinem Start in den USA größtenteils vernichtend besprochen. Soweit die Kritik auf das trotz einiger feministischer Ambitionen reichlich belanglose und streckenweise hahnebüchene Drehbuch zielt, muss man ihr sicherlich recht geben. Allerdings ist Drehbuchkritik, erst recht bei einem Film wie diesem, dessen Skript keine Aussagen treffen möchte über den Stand der Dinge, sondern lediglich etwas in Gang bringen will, noch immer die langweiligste Disziplin der Filmkritik. Vor allem, weil sie in den meisten Fällen den Blick auf alles andere verstellt: auf die Physiognomien zum Beispiel, auf die Eigenart jedes einzelnen Gesichts, jedes einzelnen Körpers im Film, in diesem Fall auch auf eine Bewegungsdynamik, die "Gone" vor allem anderen prägt.

Diese funktioniert über eine absolute Opposition von Stillstand und Bewegung. Die Stunden im Erdloch kommen im Film als Erinnerungsbilder zurück: Jill beengt in der Dunkelheit, kaum ein Quadratmeter Manövrierraum, verzweifeltes Wühlen in der Erde. Die Rückblenden zu der derart stillgestellten Jill laden den Film mit einem Bewegungsdrang auf, der sich entlädt, sobald ihr Peiniger wieder von sich hören lässt. In der Gegenwart eilt Jill, mal zu Fuß, mal motorisiert durch Portland, ist ständig in Bewegung, hält nicht für eine Minute inne. Die Kamera nimmt die Bewegung mit, mal fährt sie vor Jill her und öffnet das Bild als zentralperspektivische Schlucht hinter ihr, mal springt sie in ihr Auto hinein und sucht den Effekt der Geschwindigkeit in ihrer Miene; auch an das Skateboard eines dieser zweidrittelverwahrlosten Typen hängt sie sich für einen Moment, wie zum Zeichen ihrer unbedingten Solidarität mit der vorwärts drängenden Protagonistin.

Nach den Pressevorführungen von Filmen wie "Gone" hört man die Kollegen oft maulen: "nichts fürs Kino", ein "typischer Film für die Videothek". Sie haben da schon recht, derart bescheidene, unaufdringliche Genreübungen, Filme, die nicht mehr versprechen als das, was sie in ihren Bildern einzulösen vermögen, wirken in der heutigen Kinolandschaft zwischen aufgeplusterten Franchiseablegern und selbstverliebt-selbstreferentiellen high-concept-Scharaden fehl am Platz, unzeitgemäß. "Gone" ist gut besetzt, schön fotografiert und ebenso elegant wie dynamisch geschnitten - ein Film für Freunde des ungespreizten Bewegungskinos.

Lukas Foerster

Take Shelter - USA 2011 - Regie: Jeff Nichols - Darsteller: Michael Shannon, Jessica Chastain, Tova Stewart, Shea Whigham, Katy Mixon, Kathy Baker, Ray McKinnon, Lisa Gay Hamilton, Robert Longstreet - Länge: 120 min.

Gone - USA 2012 - Regie: Heitor Dhalia - Darsteller: Amanda Seyfried, Wes Bentley, Emily Wickersham, Daniel Sunjata, Jennifer Carpenter, Sebastian Stan, Socratis Otto, Michael Paré, Joel Moore, Jordan Fry, Katherine Moennig - Länge: 95 min.