Heute in den Feuilletons

"Ich traue der Sprache nicht"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2007. "Wird der Spiegel wieder links?", fragt die taz wunschdenkend nach Stefan Austs unfreiwilligem Abschied. Die NZZ fürchtet, dass aus der pakistanischen bald eine islamistische Bombe werden könnte. In der Welt stellt Michael Kleeberg fest, dass die Ära Helmut Kohl die Zeit war, in der wir hedonistisch wurden. Die FR widmet sich dem Extremismusproblem des italienischen Fußballs. Die FAZ hört auf, sich um die spanische Monarchie zu sorgen. Und die SZ erklärt, warum klagende Mieter Nervensägen, aber nützlich sind.

TAZ, 17.11.2007

Der Vertrag des Spiegel-Chefredakteurs Stefan Aust wird nicht verlängert. Die taz widmet diem Umstand ihren Titel mit der Frage: "Wird der Spiegel wieder links?" Der Ex-taz- und Ex-Spiegel-Medienredakteur Oliver Gehr, Autor eines Buchs über Aust, schreibt auf der Medienseite Stefan Aust einen sehr unfreundlichen beruflichen Nachruf: "Das ist das eigentlich Verwunderliche: dass der Spiegel den Menschen trotz Austs Wirken nicht völlig egal geworden ist - schließlich war er es Aust zuletzt ja auch. Zumindest las sich der Spiegel zuletzt so, und die Geschichten, die man aus der Redaktion hörte, verstärkten den Eindruck. Im Grunde, so hieß es, interessiere sich Aust nur noch für eine Freundschaft zum FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher und seine Pferde, von denen er unlängst einen rassigen Renner für eine sechsstellige Summe verkauft hat. Gern würde er auch für die ARD RAF-Dokus basteln." Für Austs größten Südenfall hält er allerdings dessen Kumpanei mit Bild-Chef Kai Dieckmann und Springer-Chef Mathias Döpfner: "Mit dieser Männerbündelei, die sich um eine eigenständige publizistische Haltung nicht mehr scherte, hat er dem Ansehen des Blattes nachhaltig geschadet."

Weiteres: Michael Rutschky hat die neuen Kleist-Biografien von Jens Bisky und Gerhard Schulz (Leseprobe) gelesen, vermisst aber bei beiden den Drang zum großen Wurf: "Gerhard Schulz und Jens Bisky verfolgen unabhängig voneinander dieselbe Strategie: Kleist lässt sich nicht enträtseln." Julia Grosse stellt Thomas Schüttes auf dem Trafalgar Square errichtete Skulptur "Modell für ein Hotel" vor. Brigitte Werneburg erklärt den Bahnstreik mit Woody Guthrie. In seiner Spreebogen-Serie informiert Dirk Knipphals, der im Hauptbahnhof essen war, diesmal über die Unterschiede zwischen Sylter Royale und Tsarskaya-Austern.

Der in die Kritik geratene Integrations-Sänger Muhabbet antwortet im Interview auf der Meinungsseite auf den Vorwurf der Filmemacherin Esther Schapira, er hätte Theo van Gogh nicht nur den Tod, sondern vorher noch die Folter gewünscht: "Ich denke, dass sie mich missverstanden hat." Cigdem Aykol kommentiert die Diätenerhöhung, die die Volksvertreter den Volksvertretern gönnen. Von einem Fall in Saudi-Arabien, bei dem ein Gericht ein Vergewaltigungsopfer zu 200 Peitschenhieben verurteilte, berichtet Karim El-Gawhary.

Im taz-mag-Dossier porträtiert Georg Löwisch den Innenminister Wolfgang Schäuble. Aus dem gerade erschienenen Band "Kampfansage - Kulturen bekämpfen sich nicht, sie fließen zusammen" wird ein Text von Ilija Trojanow und Ranjit Hoskote über muslimische Einflüsse auf Dantes "Göttliche Komödie" abgedruckt. Von der erstaunlichen Lust der Briten am Reenactment des Zweiten Weltkriegs berichtet Judith Luig. Rezensiert werden unter anderem Martin Amis' keiner Kategorie zuzuordnendes Buch "Koba der Schreckliche" und Georges Didi-Hubermans Bildverteidigungsschrift "Bilder trotz allem" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 17.11.2007

Der Schriftsteller Michael Kleeberg verteidigt Helmut Kohl. Zumindest war dessen Regierungszeit keineswegs der lange Stillstand, zu dem sie nachträglich verunglimpft wird, schreibt Kleeberg zum Erscheinen der Kanzler-Erinnerungen an 1990 bis 1994. Deutschland wurde immerhin hedonistisch. "Als ich fortging, verließ ich Freunde, die im Studium steckten oder in der Berufsausbildung, in kleinen Buden oder WGs lebten, alte Kadetts fuhren, sauren 'La Pinte'-Wein tranken und den militärisch-industriellen Komplex der kapitalistischen Länder für den bevorstehenden Atomkrieg verantwortlich machten. Als ich zurückkehrte dann, traf ich Mercedesfahrer, Eigenheimbesitzer, Golfspieler, Cohibaraucher und Bordeauxtrinker an, die plötzlich so etwas wie Selbstironie praktizierten. Und alle sagten mir, wie sehr sie unter der unerträglichen Langeweile und dem Stillstand der Kohlära gelitten hätten. Allesamt hatten sie soeben Joschka Fischer gewählt, und allesamt hatten sie es in jenen langweiligen Jahren zu etwas gebracht."

Das Feuilleton: Iris Alanyali tadelt den Sänger Muhabbet für dessen verständnisvolle Worte für Islamisten. Ulrike Simon sammelt Reaktionen auf den Rausschmiss von Stefan Aust als Chefredakteur des Spiegels. Ernst Cramer erinnert an den vor hundert Jahren geborenen Journalisten Hans Wallenberg. Rüdiger Sturm porträtiert den britischen Fantasy-Autor Neil Gaiman, der zur Zeit in allen Medien Erfolge feiert.

Besprochen
wird die Tutanchamun-Schau im Millennium Dome in London, der jetzt "The O2" heißt.

NZZ, 17.11.2007

Ein düsteres Zukunftsszenario entwirft der Politikwissenschaftler Herfried Münkler für Pakistan, dessen Entwicklungen in Europa zu Unrecht keine große Besorgnis hervorrufen. Denn was, fragt Münkler, wenn "Pakistan in einem Bürgerkrieg versinkt, an dessen Ende, so wie vor bald drei Jahrzehnten in Iran, die Islamisten die Macht übernehmen? Immerhin, man scheint in Washington aus den Fehlern der damaligen Iranpolitik gelernt zu haben, als man bis zum Schluss am Schah festhielt und bei dessen Sturz keine weiteren Optionen zur Verfügung hatte. Man kann jedoch fragen, ob in Pakistan nicht bereits der Punkt längst überschritten ist, jenseits dessen eine islamistische Machtübernahme nicht mehr zu verhindern ist. Das aber hieße, dass aus der pakistanischen eine islamistische Bombe würde."

Lilo Weber berichtet von einer neu entflammten Debatte über die Einwanderung in Großbritannien, seit die Regierung zugeben musste, dass in den vergangenen Jahren einige Hunderttausend Einwanderer mehr ins Land gekommen sind als vermutet. Besprochen werden die Ausstellung zu Giuseppe Arcimboldo im Pariser Musee du Luxembourg und eine Ausstellung von Robert Gernhardts "Brunnen-Heften" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach, und Bücher, darunter Georges Hyvernauds Roman "Der Viehwaggon" und Dieter Henrichs Vorlesungen "Denken und Selbstsein".

In einer schön und sehr gelehrten Ausgabe von Literatur und Kunst ist Herta Müllers Zürcher Poetikvorlesung abgedruckt: "Ich traue der Sprache nicht. Am besten weiß ich von mir selbst, dass sie sich, um genau zu werden, immer etwas nehmen muss, was ihr nicht gehört. Ich weiß nicht, warum Sprachbilder so diebisch sind, weshalb raubt sich der gültigste Vergleich Eigenschaften, die ihm nicht zustehen? Erst durchs Erfinden entsteht die Überraschung, und es beweist sich immer wieder, dass erst mit der erfundenen Überraschung im Satz die Nähe zur Wirklichkeit beginnt."

In einem weiteren Essay weist Hoo Nam Seelmann darauf hin, dass nicht nur die Hirnforschung, sondern auch die Kulturen Ostasiens keinen freien Willen kennen. Die Schriftstellerin Cecile Wajsbrot konstatiert, dass es in Frankreich keinen Text gibt, auf den sich eine nationale Identität berufen könnte. Und Maja Turowskaja erzählt die Geschichte des sowjetischen Bestsellers "Das Buch von der schmackhaften und gesunden Nahrung" von 1939.

Berliner Zeitung, 17.11.2007

Im Magazin schildert Fiona Ehlers, wie Birmas Junta sieben Wochen nach dem Aufstand der Mönche - "sieben Wochen Mord, Folter und Furcht"- regimetreue Demonstrationen organisiert und die Bevölkerung aufwiegelt: "Gegen destruktive Elemente im Land: Mönche, die, so hetzt hier täglich die regimetreue Zeitung New Light of Myanmar, vom rechten Weg abgekommen seien. Die Anti-Regierungs-Pamphlete verteilten und Porno-Heftchen, die Waffen horteten und Sprengstoff für Terroranschläge, dem Alkohol zugeneigt seien, dem Glücksspiel, ja sogar Frauen. Und es ist eine Warnung an das Ausland, das es wagt, sich in birmesische Angelegenheiten zu mischen. Westliche Fernseh- und Radiosender wie die BBC etwa, würden den Äther mit ihren Lügen verpesten und verdummten das Volk und die Welt."

FR, 17.11.2007

Andrea Isari klärt über das Extremismusproblem des italienischen Fußballs auf: "Anders als durch die Projektarbeit in England, in den Niederlanden und in Deutschland, werden die Fans in Italien sich selbst überlassen und haben inzwischen den Fußball auf dem Stiefel im Griff. Heute gibt es nach einer kürzlich bekannt gewordenen Studie des Innenministeriums in ganz Italien 98 aktive Ultra-Organisationen, von denen 63 (mit rund 15.000 Mitgliedern) der rechtsextremen und 35 der links-extremen oder anarchistischen Szene (rund 5.000 Mitglieder) zugerechnet werden. Sie tyrannisieren ihre eigenen Vereine, denen seit Jahren die von Skandalen (illegale Wetten, Bestechung und chronischer Geldmangel) entsetzten Zuschauer aus den maroden Stadien davonlaufen. Dagegen garantieren die Ultras Stadienbesuche und damit dringend notwendige Einnahmen."

Weitere Artikel: Hans-Jürgen Linke beobachtet die Entstehung einer Opernproduktion, - "Billy Budd" in Frankfurt. Marcia Pally klagt in ihrer Amerika-Kolumne über interkontinentale Steuerprobleme. In einem Times Mager berichtet Daniel Kothenschulte von David Lynchs Auftritt im Namen der "David Lynch Foundation for Consciousness-Based Education and World Peace", enthält sich aber jeden expliziten Kommentars zum Missionierungsdrang des großen Regisseurs. Museumsdirektor Max Hollein informiert in seinem "Cranach-Tagebuch" über die Ankunft der Bilder in Frankfurt. Besprochen wird eine Ausstellung in Marbach, in der Robert Gernhardts "Brunnenhefte" zu sehen sind.

SZ, 17.11.2007

Über kaum etwas wird vor Gericht so viel gestritten, meint Andreas Zielcke, wie über Mietangelegenheiten. Das hat aber, versichert er, seinen guten Grund: "Arbeitende können zur Not ihre Arbeit, Mieter aber schwerlich ihr Wohnen einstellen. Darum gibt es, jenseits politischer und gesetzlicher Gestaltung, keine Form kampfbereiter Solidarität unter Mietern, obwohl das Wohnen für die Betroffenen mindestens von derselben existentiellen Bedeutung ist wie die Arbeit; mehr noch als Arbeitslosigkeit gilt Obdachlosigkeit als der tiefste Fall ins persönliche Unheil."

Weitere Artikel: Im Interview spricht der Theater- und neuerdings auch Opernregisseur Andreas Kriegenburg über seine Magdeburger "Idomeneo"-Inszenierung und über die Unterschiede zwischen Theater- und Opernregie. Tobias Moorstedt stellt interaktive Musikvideospiele wie "Guitar Hero", "Rock Band" oder "Singstar" vor. Vasco Boenisch hat sich mit Tom Stromberg und Matthias von Hartz, den neuen Chefs des Off-Theatertreffens "Impulse", über ihr Konzept und den aktuellen Jahrgang unterhalten.

Auf der Literaturseite wird eine Biografie des Kontinent-Namensgebers "Amerigo" - d.i. Amerigo Vespucci - vorgestellt. Außerdem geht es unter anderem um Robert Gernhardts "Brunnenhefte" und die nach längerer Pause mit einem Heft zu Peter Huchel nun fortgesetzte Reihe "Poesiealbum".

Besprochen werden die Londoner Baselitz-Ausstellung, zwei Tanzpremieren auf Kampnagel, von den Superamas und Deufert + Plischke, und Reiseführer zu Problemzonen, darunter Tony Wheelers "Bad Lands" betitelte, bisher nur in englischer Sprache erschienenen Reisereportagen aus Schurkenstaaten.

Auf der Seite drei ist detailliert nachzulesen, wie Spiegel-Chef Stefan Aust eher zufällig im Urlaub von seiner Entmachtung erfuhr, und zwar unter dem hübschen Titel "Wenn der Chefredakteur baden geht."

Im Aufmacher der SZ am Wochenende gehen Gerhard Matzig und Joachim Käppner in scharfem Ton mit der allzu selbstzufriedenen Landeshauptstadt München ins Gericht: "Dresden, Leipzig oder Düsseldorf: In diesen und weiteren deutschen Städten ist mehr Ambition und Ehrgeiz, die Zukunft zu gewinnen, zu spüren - als in der Weltmetropole der Saturiertheit." Klaus Voormann, Gründungsmitglied der "Plastic Ono Band" erinnert sich an gemeinsame Zeiten mit Eric Clapton. Auf der Historienseite geht es um Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Frank Schulz (mehr) hat eine Erzählung über den Bürgerkrieg in El Salvador geschrieben. Im Interview spricht der Schauspieler und nun auch Regisseur Ben Affleck über Vorbilder, Freunde und Brüder.

FAZ, 17.11.2007

Die FAZ hat ihren Online-Auftritt neu gestaltet. Aufgeräumter sieht es aus, aber dafür findet man auch weniger wieder. Zumindest heute morgen waren nur zwei Artikel online.

Paul Ingendaay hätte sich beinahe um die spanische Monarchie gesorgt, die 2007 ihr annus horribilis hatte - die Infantin lässt sich scheiden, die Katalanen und Basken zerren an ihr. Doch ausgerechnet mit seinen unwirschen Worten gegenüber Venezuelas Hugo Chavez hat sich Juan Carlos wieder sehr beliebt gemacht: "Millionen Internetbenutzer haben sich die Szene angesehen, viele tausend Kommentare aus der Blog-Sphäre fluten das Netz. Minuten nach dem Vorfall war die spanische Form des Satzes - 'por que no te callas' (warum hälst du nicht die Klappe?) - schon als neue Internetseite registriert. Es gibt sogar Hiphop- und Reggaeton-Versionen des Ausspruchs, von dem sich voraussagen lässt, dass er ins pralle Geschichtsbuch der spanisch-iberoamerikanischen Beziehungen eingehen wird."

Weiteres: Thomas Pöpper und Frank Zöllner erklären, wie und warum sie dazu kamen, in ihrer neuen Werkmonografie den Corpus von Michelangelos Zeichnungen empfindlich zu verkleinern. Reichlich Spott hat Jürgen Kaube für die Entscheidung übrig, die Leopoldina in Halle zur Nationalen Wissenschaftsakademie zu adeln. Hubert Spiegel konstatiert dringenden Sanierungsbedarf bei Ernst Jüngers Haus in der Wilfinger Oberförsterei. In der Glosse widmet sich "tob" den jüngsten "Missverständnissen" um Wolfgang Thierse und Muhabbet. Jürgen Dollase widmet sich in seiner Geschmackskolumne Jean-Claude Bourgueils Düsseldorfer Restaurant "Im Schiffchen". Kerstin Holm hat sich in Moskau Klaus Abromeits Choreografie von Matthesons "Boris Goudenow" angesehen und wägt Putins Chancen ab, künftig unter dem Titel "Führer der Nation" zu regieren. Jürg Altwegg sichtet französische Zeitschriften.

Auf der Medienseite empört sich Michael Hanfeld in bewährter FAZ-Verbundenheit über die "unwürdige" Behandlung des zukünftig ehemaligen Spiegel-Chefs Stefan Aust, "dem Größe - bei allen persönlichen Vorbehalten - nur Kleingeister absprechen". Hanfeld kommentiert auch Angela Merkels Äußerungen zu den Internetplänen der Öffentlich-Rechtlichen.

Besprochen werden Herbert Föttingers Inszenierung von Goldoni "Diener zweier Herren" im Wiener Josefstadt-Theater und auf der Plattenseite Daniel Hopes Violinkonzert von Mendelssohn-Bartholdy, das Live-Album "No such Silence" der Band Lambchop und die VDV-Ausgabe der Doku "Bernie Worrell on Earth".

In Bilder und Zeiten ist Henning Ritters Marbacher Schiller-Rede zu lesen. Julia Spinola plädiert bei der musikalischen Früherziehung für mehr Kunst und weniger Pädagogik. Gina Thomas besichtigt das generalüberholte Londoner Kaufhaus Fortnum and Mason. Matthias Hannemann unterhält sich mit dem Trompeter Till Brönner. Buchrezensionen widmen sich Johannes Willms' Balzac-Biografie und Georg M. Oswalds Roman "Vom Geist der Gesetze" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Hartwig Schulz Joseph von Eichendorffs Gedicht "An einen Unedlen von Adel" vor:

"Oh horch auf sie, die dir den Adel schufen!
O störe ihrer Asche Ruhe nicht..."