Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.10.2003. In der Zeit baut Alexander Kluge auf Glückserwartung. Die NZZ wirft einen Blick auf die christliche Unterhaltungsindustrie. Die taz fragt mit Blick auf Ridley Scotts Alien: "Wie viele Zahnreihen hat das Grauen?" Die SZ weiß, wann der islamistische Terror begann. In der FAZ beschreibt Hans Christoph Buch den Zorn der Intellektuellen auf Haiti.

Zeit, 23.10.2003

Im Literaturteil des Zeit-Feuilletons erläutert Alexander Kluge im Interview die poetischen Prinzipien seines Schreibens und zeichnet ganz nebenbei ein Porträt seiner Mutter: "Ein Grundgefühl, das ich von meiner Mutter habe, sagt mir, dass man Aufklärung nicht mit Einsicht finanzieren kann, sondern mit Glückserwartung. Dazu baue ich Metaphern, die wirkliche Verhältnisse in der Beschreibung so verlangsamen, dass die Emotion Kontakt zur Sache aufnehmen kann." Und am Ende heißt es auf die Frage, wer der wichtigste Mensch in seinem Leben sei: "Die emotionale Haltung habe ich von meiner Mutter. Die wendet alles in der Welt in die friedensstiftende Richtung. Meine Mutter hat mir mal erzählt, sie habe beim Fahren einen Unfall gesehen und sei sofort stehen geblieben, damit sich das Unglück nicht wiederhole. Das ist richtig oder falsch. Aber ausprobierenswert. So denke ich."

Weitere Artikel: Erinnerungen an den Bombenkrieg, Zentrum gegen Vertreibungen, Reform des Sozialstaats: Der Historiker Achatz von Müller untersucht den neuen Opferdiskurs in Deutschland. In der Leitglosse fragt Josef Joffe, warum es bei Übersetzungen in Deutschland so oft heißt "Aus dem Amerikanischen", obwohl die Amerikaner doch so gut Englisch sprechen wie die Österreicher Deutsch. Dorothea Hahn porträtiert den ehemaligen BKA-Chef Horst Herold als sozialen Visionär der Informationstechnologie. Mirko Weber schreibt über die Donaueschinger Musiktage und das gerade gegründete Forum für Neues Musiktheater in Bad Cannstatt. Claudia Herstatt berichtet über die neue Frieze Art Fair in London. Auf der Literaturseite zeigt sich Ulrich Greiner in der Kolumne leise erstaunt darüber, dass Ulla Berkewicz jetzt auch in die Geschäftsführung des Suhrkamp Verlags eingetreten ist: Das bedeutet Günter Bergs "Entmachtung und widerspricht dem Willen Unselds."

Die Kritiker sind sich einig: Lars von Trier ist Gott. Das findet auch Katja Nicodemus, die Triers neuem Film "Dogville" den Aufmacher im Feuilleton widmet. Thomas Gross hat beim Hören der neuen Strokes-CD einen akuten Anfall von Persönlichkeitsspaltung erlitten. Besprochen werden weiter der neue Film der Coen-Brüder "Ein (un)möglicher Härtefall", Hans Neuenfels' Inszenierung des "Ödipus" am Deutschen Theater in Berlin, Hector Berlioz' "Orphee et Eurydice" an der Bayerischen Staatsoper, ein Ballett-Triptychon an der Komischen Oper Berlin und Bücher, darunter Marcus Ingendaays Roman "Die Taxifahrerin" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Dossier beschreibt Stefan Willeke das Kölner Job-Center (mehr hier) als Modell für die Reform des Arbeitsmarktes. Und auf der 1. Seite findet Ulrich Greiner, die Autoren Dieter Bohlen, Birgit Kempker, Maxim Biller und Alban Nikolai Herbst wurden zu Recht verklagt.

FAZ, 23.10.2003

Ganz begeistert ist Dietmar Dath von Neal Stephensons historischem Roman "Quicksilver", in dem Leibniz und Newton versöhnt werden sollen und dabei geht's um eine ganze Menge, so scheint es: "Sein ästhetisch-philosophisches Ziel dabei ist ... ein Porträt des dezidiert neuzeitlichen Menschen, das er vom revisionistischen schlechten Gewissen des zwanzigsten Jahrhunderts zu säubern wünscht, welches mit einer Modernität nichts mehr zu tun haben wollte, die angeblich den Zweiten Weltkrieg, die Schoa und die Atombombe notwendig mit sich brachte. Ganz recht: Wenn man sie auf diese Formel verkürzt, klingt die (post-)moderne Vernunftkritik genau so blöde, wie Leibniz sie vermutlich auch gefunden hätte." Zum Buch gibt's jedenfalls eine Menge Links, zum Beispiel das "Metaweb", das ausschließlich zu seiner Diskussion und Annotierung dient. Hier außerdem die Kritik aus der New York Times und eine Leseprobe. Hier die offizielle Website zum Buch.

Hans-Christoph Buch
(mehr hier) schildert die apokalyptischen Umstände, unter denen die Regierung Aristide in Haiti ihrem Ende entgegendämmert. Die wenigen Intellektuellen des Landes haben sich längst von dem einst gefeierten ehemaligen Salesianer-Pater abgewandt: "Der Zorn der Intellektuellen ist nicht allein dadurch zu erklären, dass es sich um enttäuschte Liebhaber handelt, die Aristide in seiner ersten Amtszeit unterstützt und sich nach dem Militärputsch von 1991 für dessen Rückkehr eingesetzt hatten. Die Desillusion ist tiefer: Nach Aristides umstrittener Wiederwahl wurde Haiti zum rechtsfreien Raum und zu einer Hochburg der kolumbianischen Drogenmafia, die hier unbehelligt von Polizei und Regierung agiert."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann lässt die Pariser Theatersaison Revue passieren. Heinrich Wefing schreibt über eine Koma-Patientin in Florida, für die eigens ein Gesetz erlassen wurde, damit sie weiter künstlich ernährt werden kann. Lorenz Jäger wundert sich in der Leitglosse, dass Catherine Deneuve und Wolfgang Thierse gestern, am selben Tag also, sechzig wurden: "Rübezahl und die schönste Frau der Welt - das soll ein Schicksals-Pasch sein, ein horoskopischer Mehr-als-Zufall? Ja. Gerade." Eleonore Büning stellt eine Kulturrevolution in Aussicht - die Übernahme der Berliner Staatsoper durch den Bund, die gestern in einer Pressekonferenz unter anderem von Angela Merkel und Hans-Dietrich Genscher gefordert wurde. Andreas Rossmann erörtert die Idee einer Theaterkooperation zwischen Paderborn und Detmold. Ilona Lehnart meldet die Übergabe der Fotosammlung Helmut Newtons an die Stadt Berlin. Jürgen Kaube stellt (allzu kurz) eine "Berliner Deklaration" von Wissenschaftlern vor, die einen offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen fordern und sich damit unter anderem gegen den Einfluss naturwissenschaftlicher Zeitschriften wenden.

Auf der letzten Seite schildert Gerhard R. Koch, wie Wolfgang Rihms Oper "Die Eroberung von Mexico" dortselbst auf die Bühne gebracht wurde. Felicitas von Lovenberg schreibt ein Profil des Suhrkamp-Lektors Rainer Weiss, der bekanntlich neben Ulla Berkewicz in die Geschäftsführung des umwitterten Hauses eintritt. Und Jürgen Kaube äußert sich skeptisch zu den Bildungsreformplänen der Bundesregierung.

Auf der Filmseite porträtiert Carmen Stephan den brasilianischen Regisseur Hector Babenco, der nach langer Krankheit nun mit seinem Gefängnisfilm "Carandiru" ein Comeback feiert. Und Hans-Jörg Rother resümiert das Leipziger Dokumentarfilmfestival. Auf der Medienseite stellt Michael Ludwig die Boulevardzeitung Fakt vor, mit der Springer den polnischen Markt erobern will. Michael Hanfeld berichtet von den Münchner Medientagen. Und Gisa Funck bespricht Oliver Storz' Film über Willy Brandts Abschied von der Macht, dessen erster Teil heute Abend auf Arte läuft.

Besprochen werden eine Ferdinand-Hodler-Ausstellung im Hamburger Barlach-Haus, eine Ausstellung mit Reportagefotos und Porträts von Philipp Kester im Stadtmuseum München, die Donaueschinger Musiktage, ein Konzert mit den Bands "Blur" und "The Coral" (denen die schwere Aufgabe zufällt, den britischen Pop zu retten) in Köln und Joel und Ethan Coens Filmkomödie "Ein (un)möglicher Härtefall" (mehr hier).

NZZ, 23.10.2003

Einen der am "schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige" der Vereinigten Staaten hat Susanne Ostwald unter die Lupe genommen: die christliche Unterhaltungsindustrie. "Die amerikanische Populärkultur wird immer mehr zu einem Medium christlicher Botschaften, von Actionfilmen bis zu Groschenromanen, von Jesus-Rap bis zu Wettkämpfen der Christian Wrestling Federation. Seit gut zwei Jahren können sich vergnügungssüchtige Christen auch in ihrem eigenen Themenpark tummeln, der Bibel- inspirierten 'Holy Land Experience', einer Rekonstruktion des frühchristlichen Jerusalem." Dass diese Entwicklung vor allem traditionellen Christen zuwider läuft, die diese "Trivialisierung durch Kommerzialisierung" beklagen, versteht sich von selbst. Die "Worship Wars" sind entbrannt.

Knut Henkel stellt uns ein neues musikalisches Genre vor: den durch die Band Mano Negra inspirierten Rock Mestizo. Bands wie La Vela Puerca haben in ihrer Heimat Uruguay "den Nerv einer Generation getroffen" und bieten ihren Fans bei Konzerten "einen kurzen Urlaub vom 'beschissenen Alltag'". Olaf Karnik erklärt uns, wie "Free Rock/Free Folk" funktioniert: "Ein allseits anschlussfähiges Nicht-auf-den-Punkt-Kommen ist das, worum es geht. Und darin gleicht die Musik dem ambivalenten Charakter von Poesie oder wuchernden Diskursen ohne publizistische Repräsentanz."

Besprochen werden Clint Eastwoods Kriminaltragödie "Mystic River" und Bücher, darunter eine bibliophile Ausgabe des Hamburg-Kapitels aus Samuel Becketts Tagebüchern und Pia Reinachers Versuche über die Deutschschweizer Literatur (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 23.10.2003

25 Jahre nach der Premiere kommt Ridley Scotts "Alien" als Director's Cut ins Kino. Eigentlich überflüssig, findet Harald Fricke, der den Film so oder so liebt und uns an den Schöpfer des Monsters erinnert, den Schweizer Grafiker Hans Rudi Giger, der das Design des außerirdischen Wesens übernahm: "Das Ergebnis hat seither mehrere Generationen von diskurswilligen Science-Fiction- und Feminismusexegeten beschäftigt. Ist das Monstrum überhaupt feminin? Sieht das Andere aus wie ein in Latex gegossenes SM-Phantom? Wie viele Zahnreihen hat das Grauen? Und wie wird man es wieder los?"

Weiteres: Barbara Schweitzerhof freut sich zwar über die Nominierung des Palästinensischen Films "Divine Intervention" von Elia Suleiman für den Oscar als bester ausländischer Film, ärgert sich aber über deren einjährige Verspätung. Dorothee Hahn berichtet aus Paris über den neuen Goncourt-Preisträger Jacques-Pierre Amette und sein Buch "La maitresse de Brecht". (Wir verlinken auf den Artikel in Le Monde und ein kleines Dossier in der Rubrik "Evenement" bei Liberation, die den Roman und den Preis allerdings recht misslaunig kommentiert. Amettes Verlag Albin Michel stellt als pdf eine lange Leseprobe ins Netz.)

Besprochen werden die neue Screwball-Comedy "Ein (un)möglicher Härtefall" von Joel und Ethan Coen, Babak Payamis Spielfilm "Geheime Wahl" sowie Lars von Triers neuer Film "Dogville".

Und natürlich TOM

FR, 23.10.2003

Alexander von Streit hat auf den 17. Münchner Medientagen den ersten öffentlichen Auftritt des neuen Pro7/Sat 1-Eigners Haim Saban verfolgt. "Er kam mit Gattin, blauer Krawatte und ersten Andeutungen darüber, dass er die Geschicke der Medien hierzulande nicht nur beobachten, sondern aktiv mitgestalten will. Denn wie könne es sein, fragte der in Ägypten geborene und in den USA zum Medien-Milliardär aufgestiegene Saban, dass die öffentlich-rechtlichen Sender durch Rundfunkgebühren mehr als alle Privatsender gemeinsam einnähmen - und trotzdem Werbung machen dürften? Eine Frage, die Menschen wie ZDF-Intendant Markus Schächter oder ARD-Chef Jobst Plog nicht gerade gerne hören."

"Dabei ist die Bronx gar nicht gefährlich, hat die Direktorin der Villa Stuck, Jo-Anne Birnie Danzker, in ihrer Einführung gesagt" schreibt K. Erik Franzen in seiner Besprechung der Villa Ausstellung "One Planet under a Groove: Hip-Hop and Contemporary Art" in München. "Und als die Vernissage zu einem familienfreundlichen Breakdance-Picknick mit Weißwein und Käsestangen mutiert, verschwimmt die Bronx für mich zu einem heißen Brei aus dem Hause Alete."

Weitere Artikel: Klaus Bachmann berichtet von den Schwierigkeiten Belgiens, ein Mahnmal für seine 25.000 deportierten und zum Großteil ermordeten jüdischen Bürger zu errichten. Martina Meister kommentiert die Verleihung des Prix Goncourt an Jacques-Pierre Amette, und Jürgen Otten befasst sich in der Kolumne Times Mager mit den finanziellen Problemen der Berliner Staatsoper. Außerdem liegt der Zeitung heute ein Kultur Plus bei, unter anderem mit einem Text von Arno Lustiger über die Versenkung des Schiffes "Altalena" durch Ben Gurion.

Besprochen werden: Ernest Chaussons Mittelalter-Oper "Le Roi Arthus" am Brüsseler Theatre La Monnaie, die Anwaltssatire "Ein (un)möglicher Härtefall" der Brüder Joel und Ethan Coen, der neue Film des iranischen Regisseurs Babak Payami "Geheime Wahl" und der Director's Cut von Ridley Scotts Klassiker "Alien", der jetzt in die Kinos kommt.

SZ, 23.10.2003

"Wer ein Datum sucht für den Beginn der Auseinandersetzungen zwischen dem Westen, vor allem der USA, und jener so schwer definierbaren Masse aus desillusionierten, zornigen oder radikalen Muslimen, die man später islamistische Terroristen nennen würde, der sollte den 23. Oktober vor 20 Jahren wählen", schreibt Petra Steinberger in einem Artikel, der auf den Beginn des islamistischen Terrors im Herbst 1983 aufmerksam macht. Steinberger bezieht sich auf den Anschlag auf ein Gebäude am Flufghafen von Beirut, dass einer amerikanischen Eliteeinheit als Quartier gedient hatte. "Die Wolke aus Schutt und Propan und dem Fallout von einer Tonne TNT hing lange über der Stadt. 241 Marines waren tot, die meisten sind im Schlaf überrascht worden, es war 22 Minuten nach sechs geschehen. Auch 56 französische Fallschirmspringer fanden den Tod. Nur wenig später war ein zweiter Fahrer auch in ihr Hauptquartier gerast."

Weitere Themen: Fritz Göttler befasst sich mit der Schlachthausstimmung im amerikanischen Kino. Willi Winkler untersucht aus aktuellem Anlass die "Theorie der feinen Leute", die sich unter anderem mit der Ähnlichkeit zwischen idealem Finanzmann und idealem Kriminellen befasst. Ira Mazzoni hat am Bauhaus in Dessau eine "gespenstische" Debatte über die Frage verfolgt, ob die Berliner Mauer zum Weltkulturerbe erklärt werden soll. Daghild Bartels berichtet von Hinweisen, dass Fragmente der zerstörten afghanischen Buddhaskulpturen von Bamiyan auf illegalem Weg in die Schweiz gelangt sind. Jürgen Berger porträtiert den Theaterregisseur Sebastian Nübling. Andrian Kreye hat das erste deutsche Konzert der Wiedervereinigungs-Tour von Simon & Garfunkel gehört. Lothar Müller kommentiert Forderungen aus den Reihen von CDU und CSU, die Berliner Staatsoper unter Bundesregie zu stellen. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Hollywood-Bösewichts Jack Elam. Sonja Zekri berichtet, wie sich Alexander Solschenizyn gegen vermeintliche Verleumdungen wehrt. Ulrich Kühne verbreitet die Erklärung der Präsidenten und Vorsitzenden sämtlicher großen und vieler kleiner deutscher Wissenschaftsorganisationen, die am gestrigen Mittwoch eine 'Berliner Erklärung über den offenen Zugang zu wissenschaftlichen Wissen' durch das Internet verkündet haben.

"Und das ist erst der Anfang", lobt schließlich Sonja Zerki Jörg Schönbohms Idee, Schulschwänzer per elektronischer Fußfessel zu überwachen. "Chronisch abwesende Kollegen ließen sich so kontrollieren... sogar der Verbleib von Theaterabonnenten ließe sich so überprüfen."

Besprochen werden: der Film "Ein (un)möglicher Härtefall" von Joel und Ethan Coen (hier ein Porträt der Regie-Brüder), Peter Weissflogs Kinderfilm "Pumuckl und sein Zirkusabenteuer", die "Frieze Art Fair" in London und Bücher, darunter Carlos Ruiz Zafons Bestseller "Der Schatten des Windes" und Monika Marons autobiografischer Band "Geburtsort Berlin" (mehr ab 14 Uhr in der Bücherschau des Tages).