Im Kino

Im Kern dunkel getuscht

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
04.03.2020. Gints Zilbalodis' Animationsfilm "Away - Vom Finden des Glücks" erzählt von einem Jungen, der sich auf einem Motorrad, mit einem kleinen gelben Vogel und dem Tod an seiner Seite, zu einer Heldenreise aufmacht: Eine riesige, einsame, besessene und doch märchenhaft leichte DIY-Bastelei des 25-jährigen lettischen Regisseurs. Richard Stanley liefert mit "Die Farbe aus dem All" eine kongeniale magentafarbene Verfilmung der gleichnamigen Horrorgeschichte von H.P. Lovecraft.


Ein Junge hängt wie in die Welt gefallen in einem Baum, der steht allein, krakelig in einen gelblichen Nebel getuscht, Wind weht, der Junge hat den Fallschirmrucksack noch auf dem Rücken. Er ist nicht bei Bewusstsein, dann öffnet er die Augen, die Kamera zoomt von ihm weg, und weg von dem Baum auf öde, wellige Landschaft, Sand vielleicht, mit schwarzen Flecken darin. Das ist die Welt, die der Junge erblickt: Woher er kommt, was er hier tut, was das eigentlich für eine Welt ist, ja, ob er lebt oder ob es ihn vielleicht ins Jenseits geweht hat, ganz eindeutig ist das nicht.

Eines allerdings wird bald klar: Er ist nicht allein in und auf dieser Welt. Von anderen Menschen ganz lang keine Spur, aber es gibt ein Wesen, einen dunklen Geist, eine schwarze Figur, im Kern dunkel getuscht, mit heller dunklen Konturen darum. Der Geist spricht nicht, der Junge spricht nicht, es gibt den Film hindurch keinen Dialog. Was es gibt: Klänge, Wind und Gezwitscher, und zu den Klängen von Flora und Fauna Musik, die die Szenen der Suche, der Gefährdung, des Glücks atmosphärisch treffend, aber nie banal redundant begleitet. Was es auch gibt, neben dem Jungen und dem Geist: Tiere. Ein kleiner gelber Vogel wird zum Gefährten des Jungen, Katzen viel später, Vögel am Himmel, Eidechsen, eine Schildkröte. Die Welt, was auch immer das für eine Welt ist, ist immerhin das eine: belebt.

Und es geht aus der Ödnis ins Grüne. Das erste von vier Kapiteln: Verbotene Oase. Hier ist es grün. Wasser, Bäume, geschirmte mehr als mannshohe Stengel, Bäume wie Origami aus gefalteter Farbe, am Eingang ein Torbogen, den der schwarze Geist, der dem Jungen bis dahin gefolgt ist, nicht durchschreitet, weil er es nicht will oder kann. Es gelten Regeln in dieser Welt, aber warum sie gelten, wo ihre Grenzen sind, das wird höchstens im Verlauf des Geschehens ein wenig klarer.



Hier, in der Oase, findet der Junge einen Beutel: eine Karte darin, die ihm den Weg an ein Ziel weist, und ein Schlüssel darin, das zu einem Motorrad gehört, das hier herumsteht. Der Junge übt, stürzt, übt, fährt davon. Er hat einen Weg, er hat ein Ziel, er hat ein Gefährt und einen Gefährten. Die Heldenreise beginnt. Es wird manches Abenteuer erlebt, spannend, rätselhaft, traurig. Der Tod ist in der Gestalt des schwarzen Geists ein steter Begleiter.

Die Welt, die Gints Zilbalodis in seinem Lang-Animationsfllm-Debüt entwirft, erinnert nicht nur von ferne an die animistisch belebten Szenarien von Studio Ghibli, und insbesondere Hayao Miyazaki. Die Gesichter mit schematisierten Zügen und überreal großen Augen, das Kreuchen um den Menschen herum, die kräftigen Farben, all das scheint vertraut. Hier aber sieht es doch abstrakter, flächiger aus: das Verhältnis zum Rechner, aus dem die CGI-Figuren und -Landschaften kommen, ist deutlich affirmativ.



Nicht nur der Plot, der an Point-and-Click-Abenteuer erinnert (und eben kaum mehr als ein prototypischer Plot ist, bei dem die Episoden und in ihnen die Bewährung in Gefahren aus heiterem Himmel das Ziel sind), wirkt wie aus Computerspielen entnommen, die manchmal atemberaubenden Kameraflüge, der plötzliche Wandel der Landschaft, das von allem geografischen und sonstigen Realismus deutlich Gelöste verweisen auf künstliche Welten, der Regisseur selbst verweist auf das Indie-Game "Journey" und das japanische Action-Spiel "Shadow of the Colossus".

Erstaunlicherweise aber fügt sich das, die Animation, der Plot, die Räume und Landschaften, die ihr Rätsel bewahren, wie von selbst zu einer geschlossenen Welt. Gints Zilbalodis, ein 25jähriger filmverrückter Lette, hat sie, kaum zu glauben, komplett alleine geschaffen. Dreieinhalb Jahre Arbeit, sogar die Musik hat er selbst komponiert, eine riesige, einsame, besessene DIY-Bastelei. Aber nichts von dieser Besessenheit hat sich in Verbissenheit übersetzt. Das Ergebnis ist märchenhaft leicht, noch das Bedrohliche wirkt mild und entrückt. Meister fallen auch in den Künsten selten vom Himmel. Hier aber, scheint es, ist so ein Fall.

Ekkehard Knörer

Away - Vom Finden des Glücks - Lettland 2019 - OT: Away - Regie: Gints Zilbalodis - Laufzeit: 74 Minuten.

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"The rural tales are queer", heißt es in H.P. Lovecrafts in der September-Ausgabe 1927 des Pulpmagazins Amazing Stories erstmals veröffentlichten Geschichte "The Colour out of Space". Ein Reisender kommt hier an einen entlegenen Flecken Erde in New England ("West of Arkham the hills rise wild, and there are valleys with deep woods that no axe has ever cut"), wo sich ihm das Ausmaß einer kosmischen Katastrophe offenbart - American Gothic.

Gothic, diese Heimsuchung der Gegenwart durch die tiefe Vergangenheit, stößt in den USA mit ihrer verhältnismäßig jungen Geschichte rasch an seine Grenzen: Wo der historische Erfahrungsraum der europäischen Geschichte begrenzt übertragbar ist, weichen der europäische Motivfundus mittelalterliche Schlösser und untote Aristokraten anderen Bedrohungen, die zumindest in den für Lovecrafts Werk zentralen Geschichten aus dem All kommen: Fürchterliche Dämonen, alte Götter, außerirdische Wesen, die den dunkelsten Regionen des Kosmos entspringen.

Mit diesem "kosmischen Grauen" - dem Horror vor der Insignifikanz und Verlorenheit der Menschheit im Angesicht des Weltraums - reagierte Lovecraft auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Gerade erst hatte Albert Einstein die bis dahin vorherrschenden Auffassungen von Raum und Zeit gründlich neu sortiert. Harlow Shapley hatte 1919 den Ort der Sonne in der Milchstraße vom Zentrum an deren Ränder verlegt - und zugleich erstmals die realistischen Ausmaße unserer Galaxis verdeutlicht. Und Pluto, der Underdog unter den Planeten, hatte seinen ersten Auftritt im Februar 1930, was Lovecraft zu seiner Geschichte "Der Flüsterer im Dunkeln" inspirierte.

Vampire, alte Grüfte und anderer Budenzauber aus der Mottenkiste des Grusels wirkten angesichts solcher Erkenntnisse für einen Selfmade-Intellektuellen wie H.P. Lovecraft gnadenlos aus der Zeit gefallen. Nicht nur modernisierte er das Genre, sondern lieferte auch der damals noch naiv knabenhaft wirkenden Science-Fiction einen bis heute fruchtbaren Themen-Fundus. Zugespitzt gesagt: ohne Lovecraft kein  "Alien" (ein Erbe, das der unterschätzte "Alien vs. Predator" als lose Verfilmung von "At the Mountains of Madness" zumindest unter der Hand anerkennt).



Nur wirklich geglückte Lovecraft-Verfilmungen sind bislang Mangelware (Stuart Gordons "Dagon" wäre zu nennen, natürlich auch die liebevoll gestalteten Fan-Filme der H.P. Lovecraft Historical Society) - verwunderlich für einen solchen maßgeblichen Impulsgeber des Genres. Vielleicht liegt es an seinen stilistischen Eigenheiten: Wie der menschliche Verstand angesichts der Ausmaße des Kosmos versagen muss, versagt bei Lovecraft ganz bewusst die Sprache als Maßstab des Menschen, seine Umwelt einzuordnen und zu verstehen. Weil die Figuren aus Lovecrafts oft als erzählende Berichte angelegten Geschichten langsam Wahnsinn und Paranoia verfallen, sind sie unfähig, sich beschreibend zu einer grundlegend fremd gewordenen Welt ins Verhältnis zu setzen. "Unaussprechlich", "unbeschreiblich" ist alles, was die Figuren erleben, sehen, hören oder auch nur erahnen. Was unter den Bedingungen buchstäblich blinder Literatur gut funktioniert (solange man damit leben kann, dass Lovecrafts Prosa gängigen Qualitätsvorstellungen eher nicht entspricht), stößt im visuellen Medium Film rasch an seine Grenzen: Lovecrafts im literarischen Imaginationsraum wuchernde Phantasmen drohen im ökonomisch prekären Horrorkino schnell zur albernen Latex-Revue zu gerinnen. Auch sein im knorrig-feierlichen Ton gehaltenes Pathos mag in der Gegenwart rasch befremdlich wirken - Lovecraft ist ein altmodischer Modernist.

Vielleicht braucht es für eine geglückte Verfilmung ja wirklich jemanden, der vergleichbar dem Irrwitz verfallen ist. So einen wie den südafrikanischen Filmemacher Richard Stanley, der seinen Lovecraft bereits in frühen Kindheitsjahren von seiner Mutter, eine leidenschaftliche Lovecraft-Leserin, verabreicht bekommen hat. In den frühen 90ern galt er mit so tollen Filmen wie "Dust Devil" und "Hardware" als großer Hoffnungsträger im Genrefilm, manövrierte sich aber mit einer legendär an die Wand gefahrenen Adaption von H.G. Wells' "Die Insel des Dr. Moreau" ins Karriere-Aus. Dass er selbst an allerlei Hokuspokus von Schwarzer Magie bis zum Tragen von Talismännern glaubt, war der Karriere vielleicht ebenfalls nicht zuträglich - wild und ungeheuerlich sind die Gerüchte, die man über seine Arbeitsweise hört. In den letzten 20 Jahren verlegte sich dieser Mystiker des Horrorkinos vornehmlich auf Kurzfilme und Dokus eher reißerisch-spekulativer Natur (Voodoo, Nazis und das Übernatürliche).



Mit "Die Farbe aus dem All" legt er nun ein beeindruckend durchgeknalltes Comeback vor, das mustergültig zeigt, wie sich Lovecrafts Idiosynkrasien ins filmische Medium übertragen lässt: Die zugrunde liegende Geschichte handelt von den Folgen des Einschlags eines Meteoriten, dem eine sonderbare Farbe entsteigt, eine Farbe, wie sie das menschliche Auge nie gesehen hat, die sich, siehe oben, gar nicht erst beschreiben lässt, die aber alles Leben, was mit ihr in Berührung kommt - Flora, Fauna und insbesondere die Farmer-Familie Gardner -, verändert und mutieren lässt. Gemutmaßt wird, dass diese Story auf dem Skandal der Radium Girls fußt, Fabrikarbeiterinnen, die beim sorglosen Umgang mit Radium bitter verstrahlt wurden. Lovecraft selbst äußerte sich dahingehend, dass ihm die Alien-Klischees seiner Gegenwart auf den Zeiger gingen und er ein Alien schaffen wollte, das tatsächlich so vollkommen fremdartig ist, dass es sich dem menschlichen Verstand entzieht - ein Konzept, das auch Stanislaw Lems "Solaris" zugrunde liegt, dem lange Zeit einzigen Science-Fiction-Roman, dem literarisch gebildete Leute ohne Genre-Kenntnis literarischen Rang beimaßen.

Stanleys Film ist in poppigste Magenta-Neontöne getaucht. Sicher auch ein ästhetisches Zugeständnis ans coole Stylo-Kino der Gegenwart, das an diesen Farbtönen einen Narren gefressen hat, aber doch ein Zugeständnis mit Hintersinn: Kurz bevor unsere Augen vor dem Infrarot-Bereich versagen, liegt im Wellenbereich just jenes gerade noch wahrnehmbares Magenta. Wenn sich die titelgebende, irisierende "Farbe aus dem All" offenbart, dann in Form dieses Magentas, die letztmögliche Annäherung an das, was sich unserer Wahrnehmung entzieht.

Das Resultat: "Die Farbe aus dem All" sieht nicht nur wahnsinnig gut und zeitgemäß aus, der Film macht auch nach einem etwas langsamen Anfang all jenen sehr viele Freude, die Spaß am Kino-Exzess haben. Ein Grund dafür ist Nicolas Cage in der Rolle des Farmers, der sich hier, anders als in der Vorlage, nicht auf Schweine, sondern auf Lamas spezialisiert hat, was einen sonderbaren Humor in den Film trägt. Geht die große Alien-Invasions-Sause erstmal los, versucht Cage zwar erst noch, alle Zügel zusammenzuhalten, nur um sich dann doch einmal mehr in jenen Rage Cage zu verwandeln, den das Internet im Zeitalter der Memes so abgöttisch liebt. Von völlig jenseitigen Rage-Exzessen wie im geil depressiv-durchgeknallten "Mandy" aus dem vergangenen Jahr nimmt der Schauspieler zwar Abstand. Dennoch glitscht die Schmiere amtlich.



Vor allem aber macht Freude, wie fast schon altmodisch Richard Stanley die Lustversprechen des Horrors aufgreift: Der Begriff "elevated horror" ist ja ein Schreckgespenst im Horrorfilm-Diskurs der letzten Jahre - angesichts der Arthouse-Güte mancher jüngerer Produktionen sehen sich manche Kommentatoren insbesondere in englischsprachigen Medien dazu berufen, den Horrorfilm der Gegenwart als künstlerisch und ästhetisch besonders erhaben und gar als Mittel zum politischen Kommentar abzugrenzen von der eher schundigen Geschichte des Horrorfilms. Dass Horror für Experimente mit der Kunst - und im besten Fall: für Experimente mit der Kunst, aber mit den Mitteln des Schunds - immer schon zu haben war, gerät dabei aus dem Blick.

Stanley hingegen nimmt Horrorfilm als eine Kunstform eigenen Rechts, die ihren eigenen Maßstäben und Parametern verpflichtet ist, vollkommen ernst: Horror als Mittel zum Exzess, als Gefäß für freidrehende Delirien und als Imaginationsraum für pulp- bis pop-philosophische Mystikerfahrungen. Der Film lebt von der Dynamik zweier bildästhetischer Pole: dem leicht ins Unheimliche gekippten Naturimpressionismus, der Stanleys animistischem Blick auf die Welt entspringen dürfte, und der weltensprengenden Deliranz, sobald der gesunde Menschenverstand suspendiert ist: Body-Horror und Psychedelik, Raumzeit-Entgrenzung und Splatter feiern fröhliche Urständ' - selten zuvor wurde der Lovecraft'sche Wahnsinn besser und atmosphärischer ins Bild gesetzt als im letzten Drittel dieses schönen Films. Vielleicht muss man wirklich erst nichts mehr zu verlieren haben, um mit einem solchen Maß an Freiheit zu Werke zu gehen - natürlich hilft es, wenn man als Produzenten jemanden wie Elijah Wood (richtig: Frodo aus den "Herr der Ringe"-Filmen) an der Seite hat, der sich mit seiner Produktionsgesellschaft Spectrevision in den letzten Jahren als Horror-Mäzen betätigt hat.

Lovecrafts Figuren sehen die Welt nach ihren traumatisierenden Erfahrungen anders, mit neuen, für die wahre Natur der Realität geschärften Augen. "Die Farbe aus dem All" endet mit idyllischen Naturaufnahmen. Doch das Idyll trügt: Etwas ist in dieses Idyll gefahren, etwas, dem man nicht trauen kann, etwas Unsichtbares, das uns zu zerfressen droht. Wie passend, dass dieser Film gerade jetzt in die deutschen Kinos kommt, zu einem Zeitpunkt, wenn nicht auszuschließen ist, dass man sich im Saal den Coronavirus einfängt.

Aber genug davon. Mein Husten ist wieder stärker geworden. Vielleicht sollte ich doch zum Arzt.

Thomas Groh

Die Farbe aus dem All (Color Out of Space) - USA 2019 - Regie: Richard Stanley - Darsteller: Nicolas Cage, Joely Richardson, Madeleine Arthur, Elliot Knight, Tommy Chong - Laufzeit: 111 Minuten.