Im Kino

Möchtest du beten?

Die Filmkolumne. Von Olga Baruk, Karsten Munt
05.02.2020. "Uncut Gems" (Der schwarze Diamant) der Brüder Safdie zeigt das Kammerflimmern der Gier in Person eines kleinkriminellen spiel- und edelsteinsüchtigen Feilschers, dem Adam Sandler ein perfektes Timing verpasst. Der Horrorfilm "The Lodge" von Veronika Franz und Severin Fiala führt zwei Teenager und ihre neue Stiefmutter in eine verschneite Berghütte. Es ist Weihnachten, und was mit einer Wimpernzange beginnt, endet mit einem letzten Abendmahl.


Ein Opal trägt das gesamte Universum in sich. Aus den glatten Stellen, die die ansonsten raue und unscheinbare Oberfläche des Steins zieren, strahlt es Howard Ratner direkt in die schielenden Augen. Es ist der einzige Moment des Films, der den Diamantenhändler an den Rand der Sprachlosigkeit bringt. Ganz in einer Trance gefangen, bringt er mit Mühe doch noch eine Reaktion hervor: "Holy shit, I'm gonna cum".

Adam Sandler ist Howard Ratner. Eine Figur, die vielleicht am ehesten mit James Franco als "Alien" in "Spring Breakers" vergleichbar ist. Ein Außerweltlicher, behängt mit Klunkern, falschen Zähnen, schwarzem Leder und obszönen Designerhemden. Ein lautes, dekadentes und immer aufgedrehtes Schandmaul, das tief verwurzelt ist in einer Welt, die zwar sein einziges Habitat zu sein scheint, ihn aber gleichzeitig als Fremdkörper wahrnimmt. Hier im Diamond District von Midtown Manhattan stolpert der spiel- und edelsteinsüchtige Feilscher von einem Deal in den nächsten, bis ihm die Wetten, die Schulden und die Geschäfte nach und nach über den Kopf wachsen. Howard ist der Dealer, der zu oft von seiner eigenen Ware nascht. Der Kleinkriminelle, der so offensichtlich und dreist über seiner Gewichtsklasse antritt, dass er zeitgleich als Legende und als Loser existiert. Doch keine der vielen Demütigungen, die ein solches Dasein mit sich bringt, wirft Ratner aus der Bahn. Seine Chuzpe schneidet durch alles hindurch, wie ein Diamant durch Glas.

Selbst sein Schwager Arno (Eric Bogosian), der von Howard ein ums andere Mal um enorme Geldsummen vertröstet wird, resigniert schließlich mit seiner Wut. Während seine Schläger Howard ein ums andere Mal niederknüppeln, fällt sein Gesicht zu einer Mitleidsmiene zusammen, die vor Unverständnis bebt. Bogosians Auftritt ist nur einer von vielen, die die Safdie-Brüder wie aus einer Schatzkiste hervorziehen. Etwa NBA-Star Kevin Garnett, ein von Aberglaube getriebener Hüne mit funkelnden Augen; Wayne Diamond, ein scheinbar aus Altplastik modellierter Playboy-Opa mit großem Herz und guter Laune; und Julia Fox, die, obwohl man sie behandelt wie ein trashiges valley girl, die einzig echte Empathie in eine Welt trägt, die sich allein aus dem aus Geschäften und Deals gewonnenen Dopamin nährt.



Hatte man in "Good Time" noch das Gefühl, die Safdies hätten gleich zu Beginn den Stöpsel gezogen und ihren Film ganz dem folgenden Sog überlassen, ist "Uncut Gems" permanente Hypomanie. Eine aus Howard Ratner, dem instabilen Kern, sprudelnde Energie, die Wellen in jede denkbare Richtung aussendet und damit alles und jeden in ihren Bann zieht. Selbst Basketball-Legende Garnett kann seine Augen nicht von dem Opal lassen, den Rantner ihm stolz präsentiert. Der ist natürlich unverkäuflich und unbezahlbar, aber als Leihgabe für den Abend des großen Spiels darf der Allstar ihn behalten. Im Gegenzug erhält Ratner seinen Championship-Ring, den er sofort versetzt, um beim Buchmacher vom neu gewonnen Selbstbewusstsein Garnetts zu profitieren.

Es ist dieses Kammerflimmern der Gier, das Howard lenkt. "Uncut Gems" ist eine Geschichte über den Cashflow des Wahns. Wobei der Begriff "flow" so schnell ad absurdum geführt wird, wie die Vorstellung, man könne dem Geld folgen, das Ratner manisch hin und her schiebt. Das Geld folgt keiner natürlichen Strömung und kommt schon gar nichts ins Fließen. Es wechselt in unkontrollierten Impulsen den Besitzer. Die Kamera kann diese erratischen Bewegung kaum einfangen und holt nur mit Mühe die immer bedrohlich nahen Gesichter in die Schärfe, während manisch Ringe, Ketten, Klunker, Scheine und Steine versetzt, verteilt und an Juweliere oder Pfandleiher ausgegeben werden.

Das Gefühl, das Ratner dabei stets begleitet, ist der Stress. Schon als er das erste Mal seinen Diamantenladen betreten will, muss er sich an gleich zwei Schlägergruppen vorbeidrängen, die zunächst sich selbst und dann ihn rumschubsen, bis die Tür zum nervtötenden Schrei des permanent austickenden Buzzers aufspringt. Sandler navigiert das Chaos, das seiner Figur schon in dieser Begegnung merklich über den Kopf wächst, mit einem wunderbarem Swag, der die zwar schon immer sichtbaren, bis hierhin aber allzu oft verkannten Talente des Schauspielers in sich vereint: seine Körperlichkeit, sein Timing und die Melancholie, die er jeder Obszönität, jedem peinlichen Missgeschick und jeder absurd-komischen Geste verleiht. Ein akrobatischer Akt, der eine entsprechende Anteilnahme einfordert. Nicht einmal dort, wo der ansonsten beständig scheiternde Strippenzieher alles im Griff zu haben scheint, entsteht jemals der Eindruck, es könnte am Ende doch alles glatt laufen. Irgendwann folgt auf die manische auch die depressive Phase, irgendwann verliert auch das Universum eines Opals seinen Glanz.

Karsten Munt

Uncut Gems - Der schwarze Diamant - USA 2019 - Regie: Benny Safdie, Josh Safdie - Darsteller: Adam Sandler, Keith William Richards, Tommy Kominik, LaKeith Stanfield, Maksud Agadjani - Laufzeit: 135 Minuten.

---



Vielleicht haben Sie schon mal eine Wimpernzange benutzt. Das Schönheitsutensil, das aus zwei Griffen besteht, wie bei einer Schere, und am anderen Ende zwei Metallschienen hat, die - je nach Preis und Qualität - mit Schutzpölsterchen aus Samt, Gummi oder Kunststoff versehen sind. Man klemmt die Wimpern zwischen die Metallschienen, presst die Griffe zusammen so, dass durch den entstehenden Druck die Wimpern nach oben gebogen werden. Sie wirken dadurch länger, und die Augen - größer und strahlender! In Aktion und von außen betrachtet ähnelt eine Wimpernzange aber ganz klar einem Folterwerkzeug. Jede sich hübsch machende Person sieht dabei aus, als würde sie sich übel zurichten, sich arg bestrafen, sich die Augen herausquetschen, sich die Wimpern und dann die Lider, und anschließend die ganze Kopfhaut samt Haaren im autoaggressiven Blackout langsam aber sicher vom Leib ziehen. Wimpernzangen sind nichts für Menschen mit schwachen Nerven und zu viel Fantasie. Ihr Horrorpotenzial ist verdammt hoch.

Eine Wimpernzange zu Beginn von "The Lodge": Laura (Alicia Silverstone) benutzt diese vor dem Spiegel ihres schicken, in Tageslicht getauchten und mit großen Zimmerpflanzen geschmückten Badezimmers. Kurz darauf bricht sie in Tränen aufgelöst zusammen. Ihre ganze Verzweiflung, der innere Schmerz und der vehemente Versuch, trotz alledem die Contenance zu wahren - in einem Bild erzählt. Bald darauf verabschiedet sich Laura aus der Erzählung. Oder vielmehr wirkt sie in ihr weiter als sich immer radikaler manifestierender Vorwurf ihrer Kinder Mia (Lia McHugh) und Aidan (Jaeden Martell) gegenüber der neuen Verlobten des Vaters, die die Rolle der Mutter fortan symbolisch einnehmen soll.

Diese Verlobte heißt Grace (Riley Keough) und noch ist sie nicht da. Um sich auf Grace vorzubereiten - und weil man den eigenen Feind zumindest genauso gut kennen sollte, wie sich selbst - recherchieren die Kinder auf dem Rechner des Vaters. Er hat über die Vergangenheit von Grace ein Buch geschrieben: Tochter des Anführers einer christlichen Sekte, die als Einzige den Massensuizid überlebt, um angeblich die Lehren der Sekte in die Welt hinaus zu tragen. Hat der Papa die Mama für eine Psychopatin verlassen? Als nächstes: Weihnachtszeit in den Bergen. In einem Landhaus inmitten eines eisigen Nichts sind Grace, Mia und Aidan ganz alleine.



Dieses Set-up scheint zum österreichischen Regie- und Autorenduo Veronika Franz und Severin Fiala gut zu passen. Die beiden sind mit "Ich seh Ich seh" (2014) in Erscheinung getreten, einem Horrorfilm, der lakonisch, dicht und auf eine großartige Weise geerdet war. "Ich seh Ich seh" brauchte nämlich keine Dunkelheit. Am helllichten Tag kippten dort alle Gewissheiten und eine Frage stand im Raum, die an dem Grundstein unserer Identität rüttelte. Man gruselte sich nicht, vielmehr saß man in dem Film fest, eingenommen von dem, was in ihm geschah, und fasziniert davon, dass es diesen Film gab und er genauso war, wie er war. Plausibilität und systematisch ausgeführte Gewalt - eine atemberaubende Mischung. "The Lodge" endet mit einem ähnlichen Vibe. Grace, Mia und Aidan sitzen zusammen am Esstisch. Endlich Weihnachten. Aus der nervigen Paranormalität hat der Film inzwischen in den Modus des normalen häuslichen Missbrauchs zurückgefunden. "Ihr müsst keine Angst haben, Kinder", eine Auflösung, die zwar die ganze Zeit naheliegend war, in ihrer Wirkung aber nicht minder schrecklich ausfällt. Klipp und klar, real und grausam.

Zwischen der Wimpernzange und dem letzten Abendmahl macht sich ein Film breit, der mit der Lakonie, Kohärenz und Radikalität von "Ich seh Ich seh" ansonsten leider wenig gemein hat. Das Angebot kam von der legendären britischen Produktionsfirma Hammer Films, vernünftiges Budget und prominente Besetzung inklusive. So etwas lehnt man nicht ab. Das Drehbuch von Sergio Casci ("The Caller") lag bereits vor, Franz und Fiala durften es lediglich überarbeiten. Am Zusammenspiel dieser Faktoren mag es liegen, dass "The Lodge" horror- und gruseltechnisch zwar einwandfrei, ansonsten aber nur ein gewöhnlicher Vertreter des Genres ist. Ein Film, in dem Heiligenbilder und Kruzifixe von der Wand böse herunterschauen, Puppen und Puppenhäuser massiv zum Einsatz kommen, wo Holzdielen knarren und hinter jeder Tür ein potenzielles Jump-Scare aufwartet. Ein Film, in dem ein Auto im entscheidenden Moment nicht anspringt und Stimmen ohne Körper so etwas wie "Tu Buße" oder "Möchtest du beten?" flüstern.

"The Lodge" beschwört gefühlt das volle Horrorprogramm, alles hier ist notorisch verschachtelt und bedeutsam. Die Kamera von Thimios Bakatakis (der regelmäßig mit Yorgos Lanthimos arbeitet) schwebt langsam umher, durchstreift die Räume, kommt näher, registriert in Großaufnahmen der Figuren den sich zunehmend abzeichnenden Wahn. Das schaut gut aus, wirkt aber lediglich wie eine weitere Genretrope unter viel zu vielen. Dass man psychische Traumata nicht ewig mit Pillen stillhalten kann - darum geht es in "The Lodge". Und auch darum, dass man nicht davor gewappnet ist, in die eigens aufgestellten Fallen selbst zu tappen.

Olga Baruk

The Lodge - Großbritannien 2019 - Regie: Severin Fiala, Veronika Franz - Darsteller: Richard Armitage, Riley Keough, Alicia Silverstone, Jaeden Martell, Lia McHugh - Laufzeit: 108 Minuten.