Im Kino

Utopien zersetzende Urkraft

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel, Jochen Werner
06.12.2018. "Nuestro Tiempo" von Carlos Reygadas handelt von den Ängsten, der Eifersucht und den Boshaftigkeiten eines Paares beim Versuch, eine offene Ehe zu führen. David Robert Mitchells "Under the Silver Lake" ist zu bekifft, um im Wust seiner Ideen den Überblick zu behalten.










"Nuestro Tiempo" beginnt an einem Gewässer, das sich vermeintlich ewig gen Horizont erstreckt. Das Wasser aber ist braun, und so weit man auch hineinwatet, gelingt es einem doch kaum, mehr als die Knöchel damit zu umspülen. Im Grunde ist das nicht mehr als verdünnter Schlamm, in dem sich mehrere Generationen - Kinder, Teenager, Erwachsene - vergnügen, balgen und ihre je eigenen Geschlechterkämpfe spielerisch ausagieren. Annäherungen, Abstoßungen. Setzt man den nunmehr matschverschmierten Fuß aus dem Wasser heraus, so tritt man immer nur auf noch mehr Schlamm; hartgeworden, verkrustet, von tiefen Spalten durchklüftet, in denen die Plastikperlen gerissener Mädchenketten auf ewig verschwinden.

Juan und Esther, gespielt, oder wohl eher noch: verkörpert von Regisseur Carlos Reygadas selbst und seiner Ehefrau Natalia López, leben gemeinsam auf einer Ranch im mexikanischen Tlaxcala, wo sie Stiere für Stierkämpfe ausbilden und eine offene Ehe führen - jedenfalls, bisher, in der Theorie. "Möchtest du wieder mal eine Wichsfantasie", so fragt sie ihn einmal, als er sie im Nebenraum einer Party auf die - offensichtliche oder vermeintliche - Anziehung zwischen ihr und dem US-Amerikaner Phil anspricht; die gemeinsamen Spiele zur Anregung von Juans Kopfkino sind anscheinend lang eingespielt. In den folgenden drei Kinostunden wird sich Reygadas in aller Konsequenz all den Schmerzen und Peinlichkeiten widmen, die es mitunter mit sich bringt, die eigenen sexuellen Fantasien - und, das ist ja nicht zuletzt damit verknüpft, die Vorstellung davon, wer man selbst gern wäre - mit den Niedrigkeiten zu vereinbaren, die sich auftun, wenn man konfrontieren muss, wer man eigentlich ist, und den Komplikationen, denen man sich zu stellen hat, wenn man einen archaischen Teil des eigenen Selbst und seiner Prägung überwinden möchte.

Dies ist ein Film über die Eifersucht, aber - und das muss man betonen, weil es manchmal nicht leicht zu erkennen ist - es ist kein Film gegen das offene Lieben. Denn das ist ein Punkt, an dem die Kunst oftmals stehengeblieben ist, wenn sie sich mit Paarexperimenten in der Überwindung toxischer Monogamie auseinandergesetzt hat: die Eifersucht als menschliche, alle Utopien zersetzende Urkraft, und das romantische Lieben somit als ein von Besitzstreben errichtetes Gefängnis, dem niemand jemals zu entkommen vermag, auch wenn man mit noch so viel Überzeugung an den Gitterstäben rüttelt. "Nuestro Tiempo" ist nicht dieser Film. Es ist ein ehrlicher Film, insofern, als er in aller quälenden Dauer, Redundanz und Obsessivität jene Konflikte ausagiert, die die Konfrontation mit der Eifersucht begleiten, die seinen Protagonisten bald gleich einem Virus infiziert.










Juan und Esther agieren als zwei Menschen in einer, durch einen Dritten, der mehr wird als nur eine Ergänzung, zunehmend komplizierten Konstellation: Phil verliebt sich in Esther, die beginnt, die von Juan vehement eingeforderten Informationen über ihr Verhältnis und ihre Treffen mit dem Anderen zu verweigern. Im Offenen entsteht etwas Eigenes, das für Juan in Konkurrenz steht zu jener Intimität, die ihn mit Esther verbindet, und auf einer anderen, nicht mehr primär sexuellen Ebene äußert sich ein Besitzanspruch, der immer schon unausgesprochen da war. Denn obgleich sich Juan in der Rolle desjenigen gefällt, der Esther sexuelle Freiheit jenseits der ehelichen Verbindung gewährt, liegt schon im Gestus des Gewährens der Kern der folgenden Eskalation, kann man doch nur etwas gewähren, auf das man ein Anrecht zu besitzen meint.

Juan muss lernen, dass das Loslassen im offenen Lieben auch bedeutet, den eigenen Anspruch auf Kontrolle und auf Festlegung der Regeln preiszugeben. Auf diesen als bedrohlich empfundenen Kontrollverlust reagiert er mit geradezu paranoidem Kontrollzwang. Die Eifersucht wirkt in ihm als das, was sie im Grunde immer ist: als Verlustangst. Und darüber hinaus als furchtbare, treibende Kraft der fortschreitenden Destabilisierung ebendessen, was sie, oftmals verzweifelt, zu bewahren sucht, zersetzt sie doch durch viele kleine Vertrauensbrüche - vom heimlichen Lesen von Handynachrichten bis zu immer perfideren, verletzenden Unterstellungen gegen den geliebten Partner - exakt jene Intimität, die sie mit allen Mitteln festzuhalten versucht.

Reygadas mutet den Zuschauer*innen von "Nuestro Tiempo", wie schon im thematisch und strukturell verwandten, aber viel konsequenter stilisierten "Post tenebras lux", einiges zu und findet gerade darin eine angemessene Form für seinen Stoff. All die Peinlichkeiten, Niedrigkeiten, Überreiztheiten, Boshaftigkeiten, all die Verzweiflungen, Ängste, Ratlosigkeiten und all den Trotz, das muss man als Zuschauer*in von "Nuestro Tiempo" ebenso aushalten wie seine Protagonist*innen. Szenen einer offenen Ehe, aber nicht (nur) als Zersetzungsprozess, sondern (vielleicht) auch als ein komplizierter, dorniger Weg hin zu dem Menschen, der man sein will.

Einfache Antworten hält Reygadas nicht bereit, schlicht deshalb, weil er sein Thema und seine Figuren so ernst nimmt. Am Ende stehen Stiere im Morgennebel, kämpfen ihre üblichen Kämpfe und wissen es auch nicht besser.

Jochen Werner

Nuestro tiempo - Mexiko 2018 - Regie: Carlos Reygadas - Darsteller: Carlos Reygadas, Natalia López, Phil Burgers, Rut Reygadas, Eleazar Reygadas - Laufzeit: 173 Minuten.

"Nuestro Tiempo" war auf der diesjährigen Ausgabe des Festivals Around the World in 14 Films zu sehen.

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Ein Film wie ein Schluck zu viel. "Under the Silver Lake" von David Robert Mitchell zelebriert in einer kaum greifbaren Zeit zwischen 1970er Hippievibes im Stile Robert Altmans und digitaler Paranoia einer Drohnenwelt die Lust an der Angst vor der großen Weltverschwörung. So frei und losgelöst der Film mit der Zeit umgeht, so klar und bestimmt ist er verortet: die USA, genauer gesagt Los Angeles, Stadt der Reichen und Bekifften, Hort der immerwährenden Unterhaltungssucht. Ein Setting, das nach dem Kino und dessen Dekonstruktion schreit. Was stellenweise ausholt zu einer famosen Medienkritik, bleibt letztlich in sich selbst stecken, weil sich jedes Bild selbst zu gut findet und weil der eigentliche Kern der geschilderten Paranoia schlicht unbenannt bleibt: die sozialen Medien. Sie werden nicht einmal erwähnt, weil sich Mitchell lieber in der Nostalgie bereits gedrehter Filme sonnt.

Die Echos von Thomas Pynchon sind hörbar, aber schmelzen bald dahin in dieser oberflächlichen Sonne Kaliforniens. Selten hat man einem Film so klar angesehen, dass er viel zu viel will. Das gilt auch für den Protagonisten Sam (Andrew Garfield in einer interessanten Spidermanvariation), Anfang 30, dahinvegetierend zwischen Sex, Parties und der Suche nach den großen Mysterien der Welt, wie etwa den geheimen Botschaften in alten Popsongs, Schatzkarten in Müsliverpackungen und satanische Elitegruppen, die sich durch Blickfolgen in Fernsehauftritten Botschaften zusenden. Doch das ist nicht genug. Schließlich fallen tote Eichhörnchen von den Baumwipfeln, ein Hundekiller treibt sein Unwesen, Stinktiere verpesten die Luft, ein berühmter Filmproduzent stirbt einen mysteriösen Tod und eine dämonische Eulenfrau verführt und tötet Männer. Keine Frage, für Sam muss das alles zusammenhängen. Als er eines Abends mit seiner Nachbarin kuschelt und diese am nächsten Tag spurlos verschwunden ist, wird der Mann (oder ist es ein Junge?) endgültig zum Detektiv. Philippe Marlowes Reinkarnation, nur dass es weder einen wirklichen Fall gibt noch einen Hauch von Coolness. Vom alten Hollywood bleiben sowieso nur Denkmäler: Die Büste James Deans, das Grab Janet Gaynors und ein flimmernder Fernseher, der alte Schwarz-Weiß-Klassiker zeigt, werden ins Bild gesetzt und verbergen selbstredend auch Geheimnisse. Womöglich ist all das sowieso nur die wilde Verarbeitung einer Trennung.











Was gibt es noch? Immer wieder leicht- oder gar nicht bekleidete Damen, die sich lasziv um den jungen Mann bemühen, die Gitarre von Kurt Cobain als Mordinstrument, um den bösen, alten, weißen Kapitalisten zu zerfetzen, der uns erklärt, dass all diese Gefühle nur kalkulierte Machenschaften sind und einen König der Obdachlosen, der philosophiert, dass man Kojoten folgen müsse anstatt vor ihnen wegzulaufen. All das ist in einer Art gefilmt, die zwar selbst in den lustigsten Momenten ein Unbehagen in sich trägt, aber letztlich viel zu leicht verdaulich mit der Dichotomie aus Schaulust und Kapitalismuskritik umgeht. Diese Welt erscheint attraktiver, als der Film es will. Es ist erstaunlich, dass es dem Film nicht gelingt, aus dem Wohlfühllook Kaliforniens und den Abgründen dahinter einen wirklichen Konflikt entstehen zu lassen. Das Herumhängen von Sam erscheint letztlich wie ein gelebter Traum und dass er sich manipulieren lässt, wirkt immer noch besser als würde gar nichts geschehen.

Der Blick über den Tellerrand des Nerddaseins hätte "Under the Silver Lake" hier und da gut getan. Schließlich liegen im Hunger nach Geheimnissen und der Weltverschwörungsparanoia gesellschaftlich weit verbreitete Themen, aus denen heraus sich von zeitgenössischer Politik über Popkultur bis hin zu philosophischen Tendenzen so manches hätte ableiten lassen. Eben auch in Bezug auf die sozialen Medien, die jene Grammatik zwischen Nischen und großen Zusammenhängen, in der Sam gefangen ist, so sehr forcieren. Für solche Ideen ist der Film jedoch zu bekifft. Alles erinnert ein wenig an den Freund, der betrunken und mit großer, durchaus beeindruckender Gestik auf einer Party zu einer großen These ausholt, bereits beim zweiten Satz hängen bleibt und lieber über eine Frau spricht, die er irgendwo kennengelernt hat.

Die Mysteryelemente sind originell, was weder heißt, dass sie faszinieren, noch, dass sie einen kalt lassen. Vergleicht man diese genrespezifischen Eskapaden, in denen man beginnt, die Welt durch die skeptischen Augen von Sam zu sehen, etwa mit Lee Chang-dongs "Burning", der dieses Jahr zusammen mit Mitchells Film im Wettbewerb in Cannes zu sehen war, dann vermisst man dieses flirrende Gefühl einer Unsicherheit in der Magengrube. Ein wirklicher Neo-Noir wird der Film nur ganz selten, am ehesten entsteht noch in den wenigen Horrormomenten (ja, die gibt es auch) so etwas wie Spannung. Was bleibt, ist der fade Geschmack eines Drinks, der nach dem Lieblingsstar aus dem alten Hollywood benannt ist und nach Gummibärchen schmeckt.

Patrick Holzapfel

Under the Silver Lake - USA 2018 - Regie: David Robert Mitchell - Darsteller: Andrew Garfield, Riley Keough, Topher Grace, Jimmi Simpson, Callie Hernandez, Riki Lindhome - Laufzeit: 139 Minuten.