Heute in den Feuilletons

Ein Hahn auf dem Nacken festgebunden

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.08.2010. Wolf Biermann erzählt in der Welt, wie Manes Sperber ihm einen Zahn zog. In der FAZ schreibt Jan Faktor über das Konzentrationslager Christianstadt, wo seine Mutter und Großmutter Zwangsarbeit für die Nazis leisteten. In der SZ kritisiert Herfried Münkler die Rolle von Wikileaks bei den jüngsten Enthüllungen über Afghanistan. Techcrunch amüsiert sich über die Anwälte von Facebook, die das Wort Face als Markenzeichen schützen wollen.

Welt, 27.08.2010

Auf der Forumsseite antwortet Wolf Biermann freundlich auf eine Kolumne von Maxeiner & Miersch über Trotzki, den sie als erste Station auf dem Rückweg zur Vernunft verteidigt hatten. Er sieht es genauso, und erzählt nebenbei, wie er sich in Paris mit dem (nicht trotzkistischen) Renegaten Manes Sperber anfreundete: "Und dann zog dieser erfahrene Doktor mir meinen faulen Kommunistenzahn. Das war nicht leicht, denn dessen Wurzeln wuchsen mir grauenhaft tief in die Seele. Sperber operierte mich allerdings nicht ohne eine starke Betäubung: Er liebte und lobte meine Lieder."

Matthias Kamann hat das Buch von Thilo Sarrazin gelesen, das an sozialdarwinistische Thesen des 19. Jahrhunderts anknüpft, und kann es nicht weiterempfehlen: "Denn die Eigenleistung dieses Autors, das Originelle an ihm, ist tatsächlich die unhaltbare Provokation."

Auf der Feuilletonseite schreibt sich der beneidenswerte Manuel Brug den Festivalrausch nach einem Sommer voller Freikarten von der Seele. Die Schriftstellerin Joyce Hackett erzählt, wie ihr auf einem New Yorker Parkplatz ein Dreiviertelmeter langer Alligator begegnete: "Ich sah weg, hielt mein Iphone hin und drückte ab." Und Harald Peters unterhält sich mit dem Regisseur Gaspar Noe ("Enter the Void") über Drogen und Kino.

NZZ, 27.08.2010

Der Schriftsteller und Journalist Mohammed Hanif kritisiert die westliche Berichterstattung über die Flutopfer in Pakistan: Sie hätten - entgegen dem allgemeinen Tenor der Nachrichten - nun ganz sicher existenziellere Probleme als zu terroristischen Organisationen wie den Taliban überzulaufen: "Wäre all dies ein Katastrophenfilm, dann müsste auch das Foto jenes jungen Mannes aufs Plakat, der sich, einen Hahn auf dem Nacken festgebunden, schwimmend durch die Wassermassen kämpft. Warum, fragte ein enervierter Helfer angesichts des Bildes, sollte die Welt annehmen, dass dieser Bursche das tobende Hochwasser durchquert, nur um sich in den Dienst einer islamischen Revolution in Afghanistan zu stellen - einem Land, von dem er vermutlich sein Lebtag nicht gehört habe? Ob denn nicht klar sei, dass er bloß seine Hühner retten wolle?"

Joachim Güntner informiert über die Zukunft von Schlingensiefs offenen Projekten, zum Beispiel dem Operndorf in Burkina Faso.

Besprochen werden die Sommerausstellung der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence über Alberto Giacometti und seinen Galeristen Aime Maeght, das Album "Happiness" der Synthie-Pop-Band Hurts, der Comic "Unterwegs mit Samuel" von Tommi Musturi und der Prosaband "Covering Onetti" mit echten und "gecoverten" Erzählungen des Schriftstellers (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 27.08.2010

Im Interview mit Matthias Thieme spricht der Chemiker Michael Buback, Sohn des von der RAF ermordeten Generalbundesanwalts Sigfried Buback, über den Prozess, der gegen Verena Becker als mutmaßlicher Mittäterin neu aufgerollt wird. Es berichtet von einer recht unvollständigen Verfassungsschutzakte und anderen Ungereimtheiten: "Erschüttert hat mich, dass von den drei einzigen wegen des Karlsruher Attentats Verurteilten: Folkerts, Klar und Brigitte Mohnhaupt, wie sich jetzt herauskristallisiert hat, niemand auf dem Tatmotorrad saß, was ja bedeutet, dass die beiden unmittelbaren Täter für das schwere Verbrechen keinen Tag in Haft waren. Als Tatverdächtige kommen Sonnenberg, Verena Becker und Wisniewski in Betracht... Bei Verena Becker ist erschütternd, dass es etwa 20 Augenzeugen-Hinweise auf eine zierliche Frau auf dem Motorrad gibt. Dabei wurden diese Beobachtungen teils sogar während des Attentats gemacht. Aber keine dieser Zeugenaussagen tauchte in einem der Prozesse zum Karlsruher Attentat auf."

Weitere Artikel: Für Peter Michalzik ist das Kölner Schauspiel zu Recht Theater des Jahres geworden. Judith von Sternburg berichtet vom Einstand des neuen Frankfurter Literaturhauschefs Hauke Hückstädt. Wilhelm Roth plädiert für das Repertoiretheater.

Besprochen werden ein Bach-Konzert mit Konstantin Lifschitz, das Album "Fukui" von Stella, Laura Alcobas autobiografischer Debütroman "Das Kaninchenhaus" und Tanguy Viels Roman "Paris - Brest" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 27.08.2010

(Via Rivva und via Blogrebellen Kreuzberg) Der endgültige Beweis, dass auch die Kreativen aus den Werbeagenturen zu richtig saftigen Plagiaten fähig sind:



Der inspirierende Film ist in diesem Fall Stephen Frears' "High Fidelity" mit John Cusack. Eine der Kommentare bei Youtube: "Vielleicht läuft der Spot demnächst im TV ja so. Statt der Werbung kommt schwarzer Bildschirm und in der Mitte ne weisse Schrift die lautet: Dieser Werbespot enthält Content von Touchstone Pictures. Er ist in deinem Land nicht mehr verfügbar." Und so bilderbuchmäßig reagiert die Pressesprecherin von Ergo in einem Kommentar: "Einer der Spots lehnt sich zur bildlichen Umsetzung an den Film 'High Fidelty' an. Das ist jedoch nur eine formale Klammer. Der Film selbst hat mit unserer Kampagnenidee nichts zu tun. Wenn ein eingefleischter Fan von John Cusack den Spot als Hommage an seinen Lieblingsfilm verstehen möchte, freuen wir uns natürlich. Übrigens: der dritte Spot läuft in wenigen Tagen an. Seid gespannt!"

TechCrunch meldet eine neue Idee von Facebook auf dem Kampfplatz Markenrecht: "It is not just the word 'book' at the end of a company or product name that Facebook might object to. If it has its way, the word 'Face' at the beginning of a name might also bring out its lawyers. In fact, Facebook is currently trying to register the word 'Face' as a trademark."

Lorin Stein von der Paris Review erzählt in einem Gastbeitrag für ein Atlantic-Blog, wie die Paris Review Interviews macht: "Joshua Pashman's interview with Norman Rush, coming out in the September issue, took three years, eight sessions, and 500 pages of transcript. (Later boiled down to 33 pages in print.)"

TAZ, 27.08.2010

Besprochen werden das Album "Baalstorm, Sing Omega" von Current 93, dem Kollektiv um den britischen Sänger, Maler und Autor David Tibet, der Animationsfilm "Mary & Max" von Adam Elliot und ein Buch mit Popkritiken von Helmut Salzinger "Best of Jonas Überohr. Popkritik 1966-1982" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Meinungsseite erklärt Ulrike Hermann, warum eigentlich nur von Armen Daten um Daten erfasst werden, nicht aber von Reichen.

Und Tom.
Stichwörter: 1966, Hermann, Ulrike, Tibet, Popkritik

FAZ, 27.08.2010

In einem sehr lesenswerten Artikel schreibt der Schriftsteller Jan Faktor über seinen Besuch im heute kaum noch erinnerten Konzentrationslager Christianstadt, in dem seine Mutter, seine Großmutter und seine Tante Zwangsarbeit leisteten: "Zum eigentlichen Betrieb der fertigen Fabrik brauchte man eine riesige Sklavenarmee, die rund um die Uhr sortiert, gelenkt, getrieben, beaufsichtigt und 'versorgt' werden musste. Das damals herrschende Massentreiben ist in dem ruhigen Wald von heute schwer vorstellbar. ... Das Gelände des Lagers 'Am Schwedenwall', in dem meine drei Schornstein-Damen, meine Mutter, Tante und Großmutter, gefangen waren, ist überhaupt nicht groß, misst nur etwa hundertachtzig mal hundert Meter. Und in den nur fünf von insgesamt sieben für Jüdinnen vorgesehenen Baracken waren bei Vollbelegung mehr als eintausend Frauen untergebracht."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg beschreibt das literarische Frankreich in fiebriger Erwartung des Literaturherbsts und insbesondere des neuen Romans von Michel Houellebecq. Gerhard Rohde berichtet vom "Kontinent Rihm"-Komplex bei den Salzburger Festspielen. Über großen Streit unter chinesischen Archäologen informiert Mark Siemons: Die einen glauben, sie hätten das Grab des legendären Feldherren Cao Cao gefunden - die anderen sehen klare Indizien für einen Betrug. Kerstin Holm macht sich Gedanken zu möglichen Folgen einer von Präsident Medwedjew angekündigten Reform der Milizen. Gina Thomas begutachtet neue Entwürfe für den leeren Kunstsockel auf dem Trafalgar Square. In der Glosse schüttelt Jürgen Kaube den Kopf darüber, dass man jetzt sogar beim Besuch im Literaturmuseum in Marbach per "Eye-Tracker" in seinen Reaktionen auf die Ausstellung vermessen wird. Andreas Rossmann referiert eine Studie, die zur Ansicht gelangt, der Kölner Dom verwittere deshalb so schnell, weil sich manche der verwendeten Baustoffe nicht vertragen.

Besprochen werden die Hans-Hartung-Ausstellung "Vom Esprit der Gesten" im Berliner Kupferstichkabinett, Sylvester Stallones in den USA erstaunlich erfolgreicher Actionfilm "The Expendables" (mehr) und Bücher, darunter Alan Pauls' Roman "Geschichte der Tränen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.08.2010

Der Politologe Herfried Münkler denkt über Geheimnisverrat im allgemeinen und die Rolle von Wikileaks im besonderen nach. Er betont, dass die Website, ob sie will oder nicht, Partei ist in den politischen Angelegenheiten, in die es sich einmischt: "Die Geheimnisse des sunnitischen Untergrundorganisationen im Irak oder der Taliban in Afghanistan können von Wikileaks nicht offengelegt werden, sondern bleiben unberührt. Sie gewinnen im Gegenteil durch die Veröffentlichungen der Nato-Papiere an Gewicht. Wikileaks mag mit dem Anspruch angetreten sein, für eine neue Qualität von Politik zu sorgen, aber faktisch ist es ein Spielball im weitergehenden Kampf der Mächte."

Weitere Artikel: Über heftige New Yorker Diskussionen über neue Hochhausbauten, die die Skyline von Manhattan verändern, informiert Jörg Häntzschel. Till Briegleb berichtet vom Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel. Die Ergebnisse der alljährlichen "Theater heute"-Umfrage stellt Christine Dössel vor: Theater des Jahres wurde die Bühne in Köln.

Besprochen werden die Mona-Hatoum-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste, die Ausstellung "Impressionist Gardens" in der National Gallery of Scotland, CDs mit Live-Mitschnitten aus Bayreuth und Salzburg ("Nicht alles hat Bestand, wovon die Alten schwärmen", hält Helmut Mauro fest), Adam Elliots Animationsfilm "Mary & Max" (mehr) und Bücher, darunter Hans Wollers "Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Seite Eins greift Tobias Kniebe Berichte aus der Los Angeles Times und Slate auf, nach denen 3D tot ist.