Magazinrundschau
Postmodern mit Herzschlag
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.09.2008. Der New Yorker erzählt die Geschichte eines Helden, des Polizisten James Zadroga. In El Pais Semana sucht Javier Cercas das Glück. Der Figaro erklärt den Unterschied zwischen Snob und Dandy. Nepsabadsag staunt, wie serbische Nationalisten mit der Zeit gehen. Die Blätter für deutsche und internationale Politik erklären den ready-made-war im Kaukasus. In der Gazeta Wyborcza bewundert Ivan Krastev die sanfte Kraft des Papiertigers. Przekroj hütet das Geheimnis der Westerplatte. Die London Review of Books widmet sich der Malaise der Parteipolitik. Der Spiegel bespricht schon den Geheimfilm "Der Baader Meinhof Komplex". Und in L'Espresso fordert Umberto Eco neue Gesetze zur Benennung von Straßen.
New Yorker (USA), 08.09.2008

Weitere Artikel: Anlässlich einer Ausgabe seiner gesammelten Schriften schreibt Claudia Roth Pierpont ausführlich über Leben und Werk des Niccolo Macchiavelli. David Denby bespricht in seiner Kino-Kolumne den kurz nach seiner Uraufführung in Venedig schon in den USA anlaufenden Coen-Film "Burn After Reading" und die Hurrikan-Katrina-Doku "Trouble the Water". Musikkritiker Sasha Frere-Jones schildert, was man heute so alles mit Laptops auf der Bühne anstellen kann.
London Review of Books (UK), 11.09.2008

Weitere Artikel: In einem außerordentlich umfangreichen und für den, der die Zeit findet, sehr lesenswerten Artikel erklärt der Historiker Perry Anderson so ziemlich alles, was man über die Geschichte der Türkei, den Kemalismus und die Argumente für und gegen einen EU-Beitritt des Landes wissen muss. Tony Wood erläutert die Hintergründe des Südossetien-Kriegs.
Zur Kultur im engeren Sinn: Ein begeistertes Plädoyer hält Jenny Turner für ein Buch, das nicht nur sehr dick, sondern auch radikal modernistisch ist - und obendrein noch keinen Verleger hat: Helen deWitts und Ilya Gridneffs Roman "Your Name Here". Michael Wood hat im Kino James Marshs Dokumentarfilm "Man on Wire" gesehen, in dem es um Philipp Petit geht, der im Jahr 1974 mehrfach auf dem Hochseil zwischen den Türmen des World Trade Center hin- und herlief. John Lanchester wundert sich über das geringe Interesse an neuesten Erkenntnissen zur Beschaffenheit unseres Nachbarplaneten Mars.
El Pais Semanal (Spanien), 07.09.2008
Der spanische Schriftsteller Javier Cercas macht sich Gedanken über das Glück: "Eine schlechte Angewohnheit der Philosophen ist es, unbedingt interessant sein zu wollen. Altmodisch, wie ich offenkundig bin, glaube ich immer noch, die Philosophie ist nicht dazu da, dem herrschenden Diskurs zu widersprechen, sondern dazu, die Wahrheit zu sagen, und die Wahrheit ist nicht immer interessant. Zu sagen, dass alle Menschen nach Glück streben, ist langweilig und wenig originell, das sagen die Philosophen mindestens seit Aristoteles, es stimmt aber, was kein geringer Vorteil ist. Origineller ist natürlich, wie etwa der Philosoph Boris Groys, Unglück, Krankheit und Alter zu feiern, um sich von der alles beherrschenden Feier der Jugendlichkeit abzusetzen. Der Nachteil ist, dass sich solch ein Unfug unmöglich aufrechterhalten lässt, wenn man ihn mit seiner persönlichen Erfahrung abgleicht: Wie jedermann war ich mit 18 ein furchtloser Prinz, während ich heute mit meinen 46 Jahren bloß noch ein Bettler bin, der, wie Cioran gesagt hat, versucht, seine Ängste in Sarkasmus zu verwandeln."
Guardian (UK), 06.09.2008

Der Kalte Krieg wurde auch im Konsumbereich geführt, wie eine Ausstellung im Victoria & Albert Museum in London vorführt. "Cold War Modern: Design 1945-1970" macht Frances Stonor Saunders deutlich, welche Schlachten mit Autos, Kleidern und in der Küche geschlagen wurden. "Zum Schauplatz des ideologischen Konflikts wurde die Küche in der 'Küchendebatte' zwischen dem US-Vizepräsidenten Nixon und dem sowjetischen Premier Chruschtschow während der Amerikanischen Nationalschau 1959 in Moskau. Der Schlagabtausch - vor einer zitronengelben Küche von General Electric - ist nach wie vor einer der ikonischen Momente des Kalten Kriegs. 'Wäre es nicht besser 'wir würden uns an der Güte unserer Waschmaschinen messen und nicht an der Stärke unserer Raketen? Ist das die Art von Wettbewerb, die sie wollen?', forderte Nixon Chruschtschow heraus. 'Wir haben so was auch', prahlte Chruschtschow, wobei er vergaß zu erwähnen, dass das bei weitem nicht für alle galt."
Figaro (Frankreich), 04.09.2008
Ghislein de Diesbach bespricht ein Buch des Autors und Rechtsprofessors Frederic Rouvillois, der neben zahlreichen juristischen und politischen Büchern 2006 bereits eine Kulturgeschichte der Höflichkeit verfasste, und nun eine "Geschichte des Snobismus" vorlegt. Augenmerk richtet der Autor dabei auch auf den Anti-Snobismus, der im Allgemeinen noch schlimmer ausfallen könnte als der Snobismus, gegen den er sich richtet. Interessant ist Rouvillois' Unterscheidung von Snob und Dandy, die landläufig gern miteinander gleichgesetzt würden, die man aber nicht verwechseln sollte: "Der Dandy passt Gruppe und Gesellschaft gerne seiner Person an, während der Snob seine tatsächliche Persönlichkeit, seine wahren Wünsche und Geschmäcker ohne Bedauern der Gruppe opfert, der anzugehören er erträumt. Kurz gesagt, auch wenn beide ihrem Erscheinungsbild die gleiche Bedeutung beimessen, strebt der Dandy danach, vor anderen in Erscheinung zu treten, dem Snob dagegen geht es nur darum, überhaupt in Erscheinung zu treten."
Spiegel (Deutschland), 08.09.2008

Aber auch die Baader-Meinhof-Titelgeschichte birgt manche Überraschung. Etwa die, dass der in gewaltigem Unfrieden gegangen wordene Ex-Chef Stefan Aust jetzt wieder für den Spiegel schreibt, als wäre nichts gewesen - nämlich gemeinsam mit Helmar Büchel über Abhöraktionen in Stammheim. Dirk Kurbjuweits Titelgeschichte selbst wiederum bestätigt die schlimmsten Befürchtungen über die Machenschaften der Firma Constantin, die den Film "Der Baader Meinhof Komplex" produzierte. Vor einigen Wochen hatte sie den exklusiv eingeladenen Kritikern einer Vorabaufführung jedes Interview zum, jede Äußerung über den Film vor dem 12. bzw. 17. September bei einer Strafe von 100.000 Euro untersagt (hier die Meldung der SZ) - mit dem nachgereichten Argument, es solle da niemand bevorzugt werden. Kurbjuweit freilich berichtet nun nicht nur von den Dreharbeiten und Gesprächen mit den Beteiligten, sondern schreibt ganz fröhlich - und natürlich positiv - auch über den Film selbst, unter anderem dies: "Ein Kino in Hamburg, der Film beginnt. Er beginnt am Strand von Sylt, Ulrike Meinhof macht Urlaub mit ihrer Familie. In den folgenden Minuten wird Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen, und Rudi Dutschke wird von einem rechtsradikalen Spinner angeschossen, und man kennt das alles. Noch zwei Stunden. Aber dann passiert etwas mit diesem Film, und am Ende stellt sich das Gefühl ein, dass es ein Gewinn war, ihn gesehen zu haben, nicht nur wegen der großartigen Darsteller."
Nepszabadsag (Ungarn), 06.09.2008

Przekroj (Polen), 04.09.2008

Im Windschatten der Kaukasuskrise hat sich "die letzte Diktatur Europas", Weißrussland, zu öffnen begonnen. Kaum wurden politische Gefangene freigelassen, kündigte die EU neue Verhandlungen mit Alexander Lukaschenkos Regime an. Aber von wegen Tauwetter!, schreibt dazu Joanna Wozniczko-Czeczott. Lukaschenko hat einfach nur einen neuen PR-Berater angeheuert: Timothy Bell, der nach eigener Aussage bereits im Falle Margaret Thatchers "aus einer Hausfrau einen Staatsmann" gemacht hat. "Hinter unserer Ostgrenze findet also ein Spektakel statt. In Wirklichkeit geht es natürlich nur ums Geld: westliche Investitionen, westliche Kredite, und eine besser Verhandlungsposition gegenüber Russland, wenn nächstes Mal der Gaspreis neu bestimmt wird".
Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 01.09.2008

William Pfaff kommentiert die Kette an Anschuldigungen und Komplikationen, die sich in Folge des absehbaren "ready-made-war" im Kaukasus abzeichnen. Genau wie die Ukraine könne auch Georgien kaum auf eine Inschutznahme durch die NATO oder Nordamerika bei der Lösung ihrer Konflikte hoffen, ohne zum Spielball globaler Meinungskämpfe zu werden. "In beiden Fällen handelt es sich um ethnisch und kulturell gespaltene Nationen, deren ganze Geschichte der Kampf zwischen ihren Bestandteilen oder innerhalb derselben durchzieht."
Im Print: Volker Perthes analysiert den Konflikt um das iranische Atomprogramm. Heribert Prantl rollt die aktuelle Debatte um Überwachung, Abhörgesetze und Datenschutz auf. Die Finanzkrise auf dem Immobilienmarkt nimmt Wirtschaftswissenschaftler James K. Galbraith zum Anlass, eine Kritik am Monetarismus darzulegen und auf die intellektuelle Überlegenheit des Keynesianismus hinzuweisen (englische Originalversion hier).
Economist (UK), 05.09.2008

Besprochen werden unter anderem ein Buch von Ronen Bergman über Israels seit dreißig Jahren andauernden "Geheimen Krieg gegen den Iran" und der Versuch des MIT-Physikers und Nobelpreisträgers Frank Wilczek, in einem Band mit dem schönen Titel "Die Leichtigkeit des Seins" zu erklären, dass Materie und Vakuum nicht die Gegensätze sind, für die man sie hielt.
HVG (Ungarn), 08.09.2008

Gazeta Wyborcza (Polen), 06.09.2008

In einen Eklat mündete das Filmprojekt über die Verteidigung der Westerplatte durch polnische Soldaten im September 1939. Nachdem anstößige Szenen bekannt geworden waren, zog das Kulturministerium die Fördermittel zurück. Roman Pawlowski sieht den Fehler im System der öffentlichen Filmfinanzierung: "Die Mobilisierung der Branche und die Ankündigung großzügiger öffentlicher Förderung haben dem historischen Kino bisher nicht zum Durchbruch verholfen. Statt guter Filme haben wir jetzt eine Diskussion, ob die Soldaten Heiligenbilder oder Nacktfotos in der Uniform trugen. Trotz aller Stasi-Diskussionen entstand kein Film, der dem deutschen 'Das Leben der Anderen' nahe käme... Nach dem neuerlichen Streit wird sich jeder Drehbuchschreiber fünf Mal überlegen, bevor er eine Szene schreibt, die auch nur einen Millimeter vom traditionellen Geschichtsbild abweicht", so Pawlowski."
Außerdem wird daran erinnert, wie sich Ryszard Siwiec vor vierzig Jahren im Protest gegen die Invasion in die Tschechoslowakei vor 100.000 Menschen und laufenden Kameras im Warschauer 10-Jahres-Stadion verbrannte.
Literaturen (Deutschland), 01.09.2008

Leider nicht online ist das Gespräch, das Meyer-Gosau mit dem türkischen Verlagslektor und Übersetzer Tanil Bora führte. Man erfährt darin, welche Klischees über die aktuelle türkische Literatur herrschen, warum die politische Literatur in der Türkei größtenteils schlecht ist und was sich Bora von der Frankfurter Buchmesse verspricht. Sigrid Löfflers Reise durchs literarische Istanbul ist ebenso wie die Besprechung neuer Romane von Zülfü Livaneli, Murathan Mungan und Oya Baydar nur in der Printausgabe nachzulesen.
Weitere Artikel: Franz Schuh versucht sich in seiner Krimi-Kolumne an einem angemessenen Nachruf auf Janwillem van de Wetering, Helmut Böttiger lobt an Uwe Timms Roman "Halbschatten" die Ästhetik des Nachhorchens, mit der er die Fliegerin Marga von Etzdorf als Produkt und Opfer der deutschen Kriegsgeschichte zeigt. Erst mit Unterstützung von Francois Rabelais versteht Dieter Thomä Thomas Pynchons karnevalesken Roman "Gegen den Tag" und Sibylle Berg versöhnt sich mit dem lange als Großeltern-Urlaubsort gemiedenen Tessin. Außerdem bespricht Manuela Reichart Bücher über Romy Schneider, die am 28. September 70 geworden wäre.
Spectator (UK), 05.09.2008

Times Literary Supplement (UK), 06.09.2008
Paul Auster kann auch Spaß machen! Stephen Abell ist erst überrascht, wie flockig sich der neue Roman "Man in the Dark" liest und genießt es dann in vollen Zügen "Postmodern mit Herzschlag", schwärmt er: "Die Hauptgeschichte dreht sich um Owen Brick, der eines Morgens erwacht und feststellt, dass er sich in einem parallelen Amerika befindet, in dem die Wahl des Jahres 2000 zur Teilung und zur Gründung der Unabhängigen Staaten von Amerika geführt hat, die jetzt mit den restlichen Vereinigten Staate Krieg führen. Ihm wird gesagt, dass er den Krieg beenden muss, indem er den Mann umbringt, der ihn verursacht hat. Vielleicht nicht überraschend heißt dieser Mann August Brill, der im 'anderen Amerika' lebt. 'Alles was passiert oder passieren wird befindet sich in seinem Kopf. Eliminiert man diesen Kopf, dann hört der Krieg auf. So einfach ist das.'"
Weiteres: Germaine de Stael and Benjamin Constant kamen intellektuell besser miteinander aus als in romantischer Hinsicht, erfährt Biancamaria Fontana aus Renee Winegardens großer Doppelbiografie der beiden Geistesgrößen. Und Paula Marantz Cohen begutachtet gleich drei neue Hitchcock-Biografien.
Weiteres: Germaine de Stael and Benjamin Constant kamen intellektuell besser miteinander aus als in romantischer Hinsicht, erfährt Biancamaria Fontana aus Renee Winegardens großer Doppelbiografie der beiden Geistesgrößen. Und Paula Marantz Cohen begutachtet gleich drei neue Hitchcock-Biografien.
Espresso (Italien), 05.09.2008

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