Im Kino

Götter des Glücks und des Unglücks

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
03.09.2008. Ohne Spekulation auf Tabu und Skandal zeigt Andreas Dresen in "Wolke neun" Liebesverrat und Sex im Alter als Selbstverständlichkeit. Aus einer ganz anderen Richtung, nähert sich Shinji Imaoka in seinem Pinku-eiga-Softporno "Tasogare - Liebestoll im Abendrot" demselben Thema.

Die neunte Wolke ist im Englischen, was hierzulande der siebte Himmel ist. Ein sprachliches Bild für eine Ekstase, die vor nichts halt macht, vor der Vernunft, zum Glück, am wenigsten. Und im siebten Himmel, auf der neunten Wolke, schwebt Inge (Ursula Werner), die sich, nach ungestümem Sex, frisch in den lebenslustigen Karl (Horst Westphal) verliebt. Inge ist 70, Karl bald 80. Er ist Witwer, sie ist verheiratet und bringt den Stein ins Rollen.

In schöner Regelmäßigkeit gelingt es Andreas Dresen auf bewundernswerte, da völlig einzigartige Weise, sich für Leute und Lebenssituationen ganz menschlich, ganz intim, ganz ehrlich zu interessieren, ohne sie auszustellen oder gar zu verkaufen. "Wolke 9" beginnt banal und bleibt auch weiterhin bei der Geste des Flüchtigen: Mit Schneiderarbeiten an einer Herrenhose, die Inge persönlich zum Besitzer, Karl, zurückbringt. Eine Alltagssituation, die, noch vor dem Vorspann, umschlägt in spontanen Sex im Wohnzimmer. Unbeschönigt im hellsten Tageslicht, ein wenig stolpernd und doch voller Entdeckungslust. Keine Falte in Großaufnahme lässt an anderes denken, als an Teenager bei den ersten Gehversuchen. Das hier allein gebrochene Tabu, ist lediglich jenes der bitteren Ökonomie des marktschreierischen Tabubruchs: Nichts wird skandalisiert.

Auch nicht der Ehebruch, der hier zum ersten und, trotz anfangs abwehrender Manöver, nicht zum letzten Mal stattfindet. Gab's in "Halbe Treppe" bei Dresen zuvor noch ein Überkreuz der gegenseitigen Hintergehung, hat in dieser reduzierten Anordnung Werner (Horst Rehberg), emeritierter Germanist und Inges Gatte, das Nachsehen als Dritter. Inges himmelhochjauchzender Euphorie, die eine geordnete Berliner Vorort-Welt aus sonntäglichen Zugfahrten, Filterkaffee und Sitzecke in Scherben schlägt, gehört zwar klar die Sympathie, gerade wenn Werner, dem Inge das Geheimnis gegen den Rat der Tochter doch gesteht, ausfallend und grob reagiert. Doch interessiert sich Dresen für die Mechanismen klassischer Ehebruchsdramen so wenig, wie er auch seine Hauptperson bei ihrem Ausbruch nicht vor lauter Umarmungen erdrückt. Der Bruch zwischen Werner und Inge geht zunächst krass, dann zäh vonstatten. Ein Abschied auf Raten, dessen Inszenierung nicht die Wertung, die Verurteilung, sondern allein die menschlichen - und menschlich immer grundverständlich bleibenden - Regungen der Beteiligten sucht.


Dabei zeigt sich Dresen von ungewöhnlich strenger Seite. Mäanderte "Halbe Treppe" gerne ein wenig nach hier oder da, mal ins Burleske, mal ins Tieftraurige, ist "Wolke 9" aufs Wesentliche fokussiert. Die Kamera steht still, ist oft nur in einen Winkel zurückgezogene Beobachterin, dann wieder dicht dran, aber noch bei größter Nähe nie aufdringlich. Das Drama des alten, die Liebesgeschichte des neuen Paares vermittelt sich oft nur in Latenzen; alles, was auch nur ein Gran zuviel wäre, bleibt weggeschnitten, doch nicht abwesend. Der Hauch der so genannten "Berliner Schule" liegt gelegentlich zwar in der Luft; doch wo die Filme jenes losen Zusammenhangs zuweilen den Eindruck hermetischer Abgeschlossenheit erwecken, schmiedet Dresen aus Weglassungen Scharniere zum Leben und holt es geradewegs herein: An allen Kanten und Rändern atmet "Wolke 9" hörbar auf und ein.

Dresen arbeitet mit Alltagssituationen und legt in sie alles, was sonst nur über Umwege zu erreichen wäre. Bleierne Gespräche beim Salzletten-Fernsehabend etwa, oder ein Enkelgeburtstag, der in die Zeit der Trennung fällt. Am Kaffeetisch sitzt die Familie, nur wenig Erosion ist spürbar. Beim Weg nach Hause reden Inge und Werner über alte Zeiten und Erinnerungen, wie ein altes Ehepaar, das sie dem Schein nach noch immer sind. Die Kamera lässt beide den Weg weiterflanieren und reden und lachen: "Sag mal, weißt Du noch...?" An der nächsten Kreuzung geht jeder, nach kurzer Verlegenheit, seines Wegs. Getrennte Wohnungen. In der Schlichtheit dieser Sequenz liegt die Schönheit dieses Kinowunders verborgen.

Thomas Groh

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"Tasogare" ist ein Porno. Keine Frage. Man sieht Sex, gar nicht wenig, und der Sex soll erregen. Es ist ein Softporno, denn die Zeigbarkeitsregeln des "pinku eiga" sind, dem Horror der japanischen Kultur vor dem Schamhaar entsprechend, recht streng. "Pinku eiga" ist der Name für ein einzigartiges Genre des japanischen Films: billig gemachte Softpornos, von den Studios - einst auch den großen - seriell ausgestoßen: kaum Budget, keine Stars, wenig Drehzeit, auch die Filme selbst sind in aller Regel nicht länger als sechzig Minuten. Das allermeiste davon ist - aus cineastischer Perspektive - wirklich nicht sehenswert.

Zugleich war der "pinku eiga" immer ein Experimentierfeld, auf dem, neben und unter den zu bedienenden Softporno-Regeln, vieles ging und geht, das in reputierlicheren, teureren, offizielleren Filmen nicht möglich war. Das Genre hat seine eigenen Stars hervorgebracht (etwa Masaru Konuma in den Siebzigern, in den Neunzigern neben anderen Takahisa Zeze), aber auch mancher später auf Festivals reüssierende Regisseur (zum Beispiel Kyioshi Kurosawa) hat erst einmal abseits der großen Produktionen die Chancen genutzt, die sich da boten, wo die Geldgeber einerseits sehr genaue, ästhetisch aber kaum festgelegte Vorstellungen davon haben, wie ein Film aussehen muss.

Die große Zeit des "pink film" ist längst vorüber, das größte "pinka eigu"-Studio Nikkatsu musste 1993 seine Pforten schließen; hier wie andernorts im Pornobereich verdirbt das Internet endgültig manch lange Zeit sehr einträgliches Geschäft. Nach wie vor aber werden diese Filme gedreht und nach wie vor gibt es Regisseure, deren Ambition übers bloße Füllen der Szenen zwischen den einschlägigen Stellen hinausgeht. Nur leicht ironisch werden die Meister der jüngsten Generation der Softporno-Auteurs unter dem Gruppennamen "Sieben Glücksgötter" zusammengefasst. Shinji Imaoka, der Regisseur von "Tasogara - Liebestoll im Abendrot" ist einer von ihnen.


"Tasogare" startet nicht zufällig in derselben Woche wie Andreas Dresens "Wolke 9" in den deutschen Kinos - als vermutlich erster japanischer Pink-Film mit regulärem Kinoeinsatz in Deutschland. Auch in "Tasogare" nämlich geht es um Liebe und Sex im fortgeschrittenen Alter. Das Milieu, die Anmutung, die ästhetischen Mittel könnten freilich kaum weiter entfernt sein von Dresens ostdeutscher Sozialrealismuskino. Auf den ersten Blick scheint Funakichi (Masaru Taga), der stark hinkende Mann fortgeschrittenen Alters, den der Film sich zum Helden erwählt, nichts weiter als ein lüsterner Greis. Einen großen Teil seiner gut einstündigen Laufzeit verbringt "Tasogare" jedoch damit, diesen ersten - und nicht gänzlich falschen - Eindruck zu differenzieren.

Die Mittel des Regisseurs sind und bleiben so einfach wie oft genug krude. Und frech und grotesk. In den Rückblenden in die Jugendzeit lässt er seine Figuren keineswegs von jungen Darstellern spielen, sondern setzt seinen alten Herrschaften einfach Perücken auf. Mit Ausstattungsrealismus hat er wenig im Sinn. Vielmehr reiht er Szenen mit Modellcharakter aneinander, umgibt und konterkariert die Sex-Episoden mit anderen Episoden, malt also Form in Form. Imaoka scheut dabei vor wenig zurück. Das erste und einzige Mal in ihrem Leben spricht Funakichis Ehefrau das Wort "Muschi" auf dem Sterbebett aus; "berühr meine Muschi", flüstert sie ihm, immer noch schüchtern, zu. Er wundert sich, er berührt ihre Muschi, er befriedigt sie. Kurz darauf ist sie tot.

Was folgt, ist die Geschichte einer späten Liebe. Bei einem Klassentreffen begegnet Funakichi der einst von ihm verehrten und mächtig begehrten Kazuko (Yasuko Namikibashi) wieder. Sie kommen sich nach dem Tod seiner Ehefrau näher und näher. Und als gäbe es da keinen Unterschied, ersetzt Imaoka, der Glücksgott des Pink, die zuvor pflichtschuldig eingefügten Sexszenen zwischen jungen Paaren durch eine ganz selbstverständliche, von einer außerordentlich komischen Rückblende unterbrochene Sexszene zwischen den beiden. Es gelingt dem Regisseur so ohne jeden Aufwand an Tabubrecherei, was der Pornografie sonst so selten gelingt: Er macht die Objekte des Blicks lüsterner Betrachter zu Subjekten ihres eigenen Blicks auf sich selbst. Das ist und bleibt, als Softporno, der es ist, nicht jedermanns und nicht jederfrau Sache. Ein ganz erstaunlicher kleiner Film ist "Tasogare" aber doch.

Ekkehard Knörer

Wolke 9. Regie: Andreas Dresen. Mit Ursula Werner, Horst Westphal, Horst Rehberg, Steffi Kühnert und anderen. Deutschland 2008. 98 Minuten.

Tasogare - Liebestoll im Abendrot. Regie: Shinji Imaoka. Mit Masaru Taga, Yasuko Namikibashi, Kyoko Hayami, Kenji Yoshioka, Kanako Kotani, Yoshiharu Fukuda, Kuniichi Takami. Japan 2007. 64 Minuten.